Читать книгу Filou - ein Kater sucht das Glück - Sophie Winter - Страница 10
SECHS
ОглавлениеEr raste durch die enge Gasse, sprang todesmutig über eine hohe Mauer, was er in nüchterner Verfassung nie gewagt hätte, sauste eine Treppe hoch und landete vor der Kirche. Fast wäre er in eine Gruppe von schwarz gekleideten Menschen geraten, die vor dem Portal standen. Er schlüpfte unter eine Schubkarre, auf der Blumen und Kränze lagen, und wartete, bis die Menschen einer nach dem anderen in der Kirche verschwunden waren.
Ausgerechnet jetzt begann es zu regnen. Dennoch verließ er sein schützendes Plätzchen unter der Schubkarre; gewiss hatte er die beiden Kinder abgehängt – und Luc wartete sicher schon. Doch es regnete immer stärker. Wassermassen stürzten vom Himmel. Binnen kurzem war er bis auf die Haut durchnässt. Tropfnass flüchtete er auf den Friedhof, dort standen Bäume, unter denen es vielleicht noch trocken war. Doch nicht nur er, auch das Brot in seinem Maul war durchweicht und begann, sich aufzulösen. Hilflos versuchte er, wenigstens einen Brocken im Maul zu behalten, aber der Rest des Ficelle zerfloss wie ausgeflockte Sahne.
Endlich fand er ein trockenes Plätzchen unter dem vorkragenden Dach einer Familiengruft, wo er sich ausstreckte und den Himmel nach einer Wolkenlücke absuchte. Der Regen schien nachzulassen. In der Ferne donnerte es. Und wie ein Echo läuteten die Glocken der Kirche. Aber sie klangen ganz anders als sonst. Zwei von ihnen, die eine etwas höher als die andere, ergänzten einander zu einem getragenen, melancholischen Duett, das ihn ganz weich und wehmütig stimmte.
Ich will meine Mama, dachte Filou. Oder wenigstens nach Hause. Wieder sprang er aus der Deckung und lief, obwohl er kaum etwas sah im Regen, schnurgerade Richtung Heimat. Und dann passierte es. Er stolperte über etwas, das auf dem Friedhofsweg lag, eine Schaufel, dachte er noch, bevor er sich überschlug. Er fing sich wieder, wollte weiterlaufen – und fiel. Tief, tief hinab.
Er landete auf allen vieren in feuchtem, weichem Boden. Verzagt schaute er nach oben. Über ihm, hoch über ihm, hockte der graue Himmel. Um ihn herum ragten steile Erdwände. Ausweglos.
Als er seine Lage erkannte, ergriff ihn eine wilde, nicht zu kontrollierende Panik. Raus, hämmerte es in seinem Kopf. Er versuchte, die Wände hochzuspringen. Grub sich mit den Krallen in die weiche Erde, kletterte ein Stück hoch, rutschte wieder ab, versuchte es erneut, bis zur Erschöpfung.
Irgendwann rollte er sich in einer Ecke zusammen, ins Schicksal ergeben. Er war gefangen. Er würde niemals mehr nach Hause zurückkehren, in seinen Keller, der ihm plötzlich warm, freundlich und rundum einladend vorkam.
Er musste erschöpft eingedämmert sein, jedenfalls weckte ihn ein monotones Gemurmel. Ein Glöckchen ertönte. Und dann senkte sich ein Dufthauch über ihn, den er kannte. So roch es aus der Kirche, wenn die schwere Tür offen stand und man hineinschauen konnte in das unheimliche Gebäude, in dem dunkel gekleidete Menschen düstere Lieder sangen.
Es hatte offenbar aufgehört zu regnen, denn über seinem Gefängnis sah er blauen Himmel und weiße Wölkchen. Doch dann verdüsterte sich das helle Rechteck über ihm, ein dunkler Schatten schwebte herab, der den Schacht schließlich ganz und gar ausfüllte. Es wurde finster. Und dann begriff er. Da oben über seinem Kopf schaukelte eine schwere Holzkiste, die würde immer näher kommen, immer näher, bis sie schließlich am Boden angelangt war. Und dort hockte ein kleiner roter Kater, zitternd vor Angst. Die Kiste würde ihn zerquetschen.
Filou legte alle Kraft in einen letzten, machtvollen, durchdringenden Schrei, ohne große Hoffnung. Doch das Wunder geschah: Das dunkle Verhängnis über seinem Kopf schwankte noch ein wenig und stand dann still.
Von oben hörte er Stimmen, gedämpft zwar, aber sie klangen nach ärgerlichen Männern, erregten Frauen, bettelnden Kindern. Endlich bewegte sich das bedrohliche Ding wieder, es glitt mit quälender Langsamkeit nach oben, wurde zur Seite gezogen und gab den Blick auf Menschenköpfe frei, die sich über den Rand der Grube neigten.
»Da!« Eine helle Frauenstimme. »Um Himmels willen! Das arme Tier!«
Die Köpfe verschwanden wieder. Doch nichts geschah. Filou gab sich und die Welt auf.
Erst nach unendlich langer Zeit tat sich wieder etwas, und eine lange Leiter senkte sich in die Grube. Er wusste nicht, ob sein letztes Stündlein geschlagen hatte oder ob seine Rettung kam, als ein Mann in schweren Stiefeln langsam zu ihm hinunterstieg. Besser, man verließ sich auf nichts und niemanden und rettete sich selbst. Es schien ihm jedenfalls sicherer zu sein. Er spannte die Muskeln an, und noch bevor der Mann die halbe Strecke zurückgelegt hatte, huschte Filou wie ein Blitz an ihm vorbei die Leiter hoch. Erstaunte Rufe empfingen ihn. »Hierher!«, lockte eine Kinderstimme. Filou hörte nicht hin, jagte im Zickzack zwischen den Neugierigen hindurch, sprengte über den Friedhof, raste Treppen und Gassen hinunter bis zur Rue Basse, sprang durchs Kellerfenster und kroch zitternd auf sein Weinfass.
»Luc, verzeih, ich weiß, du hast auf mich gewartet, du wirst halb verhungert sein, und ich habe auch wirklich mein Bestes gegeben, aber …«
Er riss die Augen auf. Luc war nicht da. Was für ein verdammtes Glück, dachte er und ließ den Kopf auf sein gutes altes Weinfass sinken, das ihm plötzlich wie ein weiches Himmelbett erschien. Dann schlief er ein.
Nur einmal wachte er kurz auf, als er ein Geräusch hörte. Er öffnete die Augen. Im müden Abendlicht sah er eine prächtige Katze auf dem Sims des Kellerfensters hocken, die sich mit energischen Pfotenstrichen das Gesicht putzte. Das Tier prüfte die Luft mit zitternden Barthaaren und sprang dann in elegantem Bogen auf Lucs Schlafplatz, wo es sich fallenließ und zusammenrollte.
Filou schloss die Augen wieder. Keine Katze würde es wagen, in Lucs Revier einzudringen. Obwohl sie alt und behindert war, wusste sie sich zu wehren. Er träumte. Aber es schien sich ausnahmsweise um einen angenehmen Traum zu handeln.