Читать книгу Filou - ein Kater sucht das Glück - Sophie Winter - Страница 7
DREI
ОглавлениеAls er aufwachte, war Lucrezia verschwunden. Er war so erleichtert darüber, dass er sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Schließlich hatte sie ihm das Leben gerettet, damals, als er verloren neben seiner Mutter hockte und nicht verstand, warum sie im Straßengraben lag, warum ihr Fell nass und schmutzig war, warum sie nicht blinzelte, als er ihr das Gesicht leckte, warum sie sich nicht rührte, als er sie anstupste, warum ihm kalt war, obwohl er sich an sie kuschelte, warum sie nicht schnurrte, als er ihre Zitzen mit weichen Pfoten knetete.
Filou dachte voller Sehnsucht an Zsazsa. An ihre starke Zunge, an ihre zärtlichen Bisse, an ihr warmes glänzendes Fell, an ihr beruhigendes Schnurren und Brummen. Er war ihr Einziger gewesen. Sie hatte ihn geliebt, geleckt, verwöhnt, hatte ihn gesäugt und mit ihm gespielt. Vorbei. Das Paradies war gestern. Und es gab keine Rückkehr.
Endlich rappelte er sich auf, hechtete zum Fenstersims hoch, überprüfte, ob die Luft rein war, und sprang hinunter auf die Rue Basse. Mit schwerem Kopf trabte er um die Ecke in die Ruelle des Camisards. Das Geräusch hinter ihm erwischte ihn völlig unvorbereitet. Unter einem Stakkato von Explosionen näherte sich ein schwarzes Ungetüm. Mit einem Satz ausgerechnet auf die oberste Stufe der Treppe, die zum Haus von Yapper und den Zwillingen führte, rettete er sich vor dem knatternden Motorroller, der in einem Wahnsinnstempo die Ruelle hochschrubbte. Auf dem Sitz der Höllenmaschine saß, wie ein grimmiger Rabe, der alte Stinker. Den mochte niemand, der eine Nase hatte, weil er schon von weitem nach Zweitaktergemisch, Zwiebeln und nassem Hund roch.
Filou versuchte, den Gestank zu ignorieren, und trabte weiter, über die Grande Rue, auf der ihn fast ein wild gewordener Rollstuhlfahrer erwischt hätte. Mit hängender Rute schlich er an der Bank vorbei, auf der sonntags die alten Männer saßen und den Petanquespielern zuguckten. Ein Rüchlein von Mottenkugeln und Pfeifentabak wehte ihn an.
»Heul nicht, Kleiner«, hatte Luc gesagt, als sie ihn kurz vor dem Hungertod aufgelesen hatte, allein neben seiner toten Mutter im Straßengraben, verzweifelt schreiend. »Reiß dich zusammen und komm mit.« Und dafür musste er ihr auf ewig dankbar sein, auf immer und ewig. Und er durfte sich auch nicht beklagen, wenn sie ihn knuffte und puffte oder über Zsazsa herzog, die irgendwie alles falsch gemacht hatte bei seiner Erziehung.
»Noch nicht mal das Mausen hat sie dir beigebracht«, hatte Luc schon damals geschimpft und ihm unwillig den Unterschenkel einer verunglückten Taube überlassen. »Deine nutzlose Mutter.« Nur einmal, ein einziges Mal, als sie ihn wieder beschimpft hatte und Zsazsa für seine traurige Existenz verantwortlich machte, hatte er nicht gleich den Kopf und den Blick gesenkt und sie stattdessen fordernd angesehen. »Und mein Vater?« Er stellte sich Magnifico vor. Oder Maurice. Beide groß, breit, schwarz und stark.
»Dein Vater?« Lucrezia hatte vor Lachen einen Hustenanfall bekommen und »Du hast die Wahl!« gekrächzt, als sie wieder sprechen konnte. »Choucroute der Blinde, Zorro der Dreibeinige, Momo der Schwanzlose. Einer schöner als der andere.« Er war davongelaufen, hatte noch von weitem ihr Meckern gehört und sich unendlich verlassen gefühlt.
Noch heute konnte er nicht an die Szene denken, ohne dass sich seine Ohren anlegten. Traurig trabte er am Kriegerdenkmal vorbei, das einen Anblick bot, der zu seiner trostlosen Stimmung passte. Abweisend der große Obelisk, grau und struppig die Lavendelbüsche zu seinen Füßen. Es war ein Grabmal der besonderen Art. Er wusste zwar nicht genau, wer dort begraben lag. Aber auf dem grauen Stein waren viele Namen eingemeißelt, bekannte Namen von Familien hier im Dorf, ein Tourist hatte sie einmal laut vorgelesen: Grospierres. Balazuc. Champetier. Morts pour la Patrie, was immer das bedeutete. Jedenfalls waren sie tot. Tot wie Zsazsa.
Es stimmte, er hatte noch nie eine Maus gefangen. Das hatte Zsazsa für ihn erledigt, stets brachte sie ihm die allerherrlichsten Mäuse mit, kleine pelzige Leckerbissen, die sie mit der Tatze gut durchgewalkt hatte, damit sie zarter waren. Und dann hatte sie mit mütterlichem Stolz zugeschaut, wie er die Maus in die Luft warf und auffing, wieder und wieder und sie endlich vertilgte. Nur die Galle, den Schwanz und die Krallen ließ er auf ihr Geheiß zurück.
»Du wirst ein großer Jäger werden«, hatte sie geschnurrt und war ihm mit der Zunge durchs Gesicht gefahren. »Aber noch nicht jetzt. Noch bist du viel zu klein. Und du hast ja deine Maman.«
Sie hatte ihn zärtlich Joli genannt. Hübscher. Manchmal wünschte er, sie hätte ihm mehr mitgegeben als Kosenamen. Er ließ die Ohren hängen, während er hinter dem Kriegerdenkmal in eine Ligusterhecke schlüpfte. Luc hatte recht. Zsazsa hätte ihm besser rechtzeitig das Mausen beigebracht. Jetzt war es zu spät. »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«, pflegte Lucrezia abschätzig zu sagen. »Das hast du nun von so viel Mutterliebe.«