Читать книгу Filou - ein Kater sucht das Glück - Sophie Winter - Страница 5
EINS
ОглавлениеFilou war der größte und prächtigste, der angesehenste Kater von Beaulieu. Er war ein Kater im Glück.
Kurz vor Morgengrauen erwachte er aus einem erfrischenden Schläfchen, reckte und streckte sich, polierte sich mit der angefeuchteten Pfote die Ohren und sprang hinaus auf die Straße. Er konnte sie nicht warten lassen, die Menschen da draußen in seinem Sprengel, er war ihr Glücksbringer, ihr Talisman, sie brauchten ihn.
Im Bewusstsein seiner Mission bauschte er die erhobene Rute, deren Spitze er einen eleganten kleinen Dreh gegeben hatte, und spazierte die Ruelle des Camisards hoch. Die Mauern der Häuser rechts und links der engen Gasse verströmten feuchte Kälte und den Geruch aller Tiere, die in den letzten Tagen hier entlanggezogen waren. Filou überprüfte die Duftmarke, die er neben eine Haustür gesetzt hatte, vor der zwei alte Blechtöpfe standen, in denen Fleißige Lieschen blühten. »Mein Revier!«, sagte der Duft stark und deutlich.
Zufrieden trabte er weiter, sprang von Haustür zu Haustür, tatzte nach einer nachtstarren Biene, stolzierte provozierend langsam am Zaun vorbei, hinter dem ein schwarzer Dobermann tobte, und entkam nur mit äußerster Geistesgegenwart und Schnellkraft dem Schwall kalten Wischwassers, der sich aus einer der Türen auf die Straße ergoss. Mit elegant auf zehn nach drei gesenktem Schweif trabte er am Platz vor dem Kriegerdenkmal vorbei, auf dem die alten Männer sonntags Petanque spielten. Einmal hatte er versucht mitzuspielen, da war er noch jung und naiv gewesen. Was war das für ein Geschrei und Gekeife gewesen, als er die kleinste der Kugeln zwischen die Pfoten nahm und über das Spielfeld dribbelte! Keiner schien sich über seine Meisterschaft zu freuen, alle scheuchten ihn weg. Wie konnte man nur so engstirnig sein.
Endlich erreichte er die Grande Rue. Groß war die Grande Rue nicht, obwohl sie so hieß, aber sie war groß genug für Autos, und die waren gefährlich. Es war nicht gut, ihnen in die Quere zu kommen, nein, ganz und gar nicht.
Er blickte erst nach links und dann nach rechts und huschte hinter einem schwankenden Fahrradfahrer über die Straße. Am Bottich mit dem Oleander, der vor dem Friseurladen stand, überraschte ihn eine verführerische Duftnote, der er sich mit Hingabe widmete. Mensch? Hund? Katze? Kind? Bevor er zur Feinanalyse übergehen konnte, schlich sich ein noch betörenderer Geruch vor seine Nase, der ihn daran erinnerte, dass er zu tun hatte. Das aufreizende Duftbouquet lockte und rief, und Filou fiel in einen leichten Trab, bis er vor der Bäckerei angelangt war. Durch die geöffnete Tür sah er Madame aus dem Backzimmer eilen, im Arm ein dickes Bündel feiner Ficelles, extradünner, goldbrauner Weißbrotstangen. Madame war von der Hitze ganz rot im Gesicht, aus ihrem Haarknoten hatte sich eine Haarsträhne gelöst und kräuselte sich auf der weißen Bluse. Filou spürte ein verräterisches Zucken in seiner rechten Pfote. Wie gerne wäre er ihr auf den Arm gesprungen und hätte mit diesen verführerischen Locken gespielt!
»Aber da ist er ja, mein Liebling!«, rief Madame, legte die Ficelles in einen der großen Körbe hinter dem Verkaufstisch, griff in das Körbchen mit den Croissants und eilte zur Tür. »Komm, mein schöner roter Kater, komm her zu mir«, lockte sie, ging in die Knie und hielt ihm ein Stückchen entgegen. Filou versuchte, sich würdig zu nähern, aber seine Schnurrbarthaare zitterten schon vor freudiger Erwartung. Dennoch zwang er sich dazu, ihr das Stück Croissant ganz besonders zart aus der Hand zu nehmen und es nicht allzu gierig zu verschlingen.
Dann sah er hoch. Das war doch noch nicht alles? Natürlich nicht, das Beste kam wie jedes Mal zuletzt. Madame wusste, wie man sich beliebt macht. Sie begann hinter seinen Ohren, walkte sein Nackenfell und strich dann sanft das Rückgrat hinunter bis zur Schwanzwurzel, wo ihre Hand eine Weile provozierend knetend verharrte, um dann aufs Neue zu beginnen: von oben nach unten, immer fein mit dem Strich. Filou schnurrte und wand sich vor Vergnügen. Dies war ein Morgenritual, das er besonders schätzte.
»Marie-Lou? Was ist! Wo bist du?«
Oh, diese Stimme. Diese hässliche, laute, störende Stimme. Filou senkte die Rute, machte sich schlank und duckte sich unter der streichelnden Hand weg. Er hasste diese Stimme. Madame mochte sie offenbar auch nicht.
»Ist ja gut!«, murmelte sie und richtete sich auf. »Ich komm ja schon!«
Filou schoss wie ein Pfeil davon.
»Was hast du immer mit dem roten Vieh? Das ist doch verfloht und verlaust!«, hörte er die laute unfreundliche Stimme rufen. »Dies ist eine Bäckerei! Könntest du bitte auf Hygiene achten?«
Hygiene? War das so was wie das stinkende Spray, mit dem Madame im Sommer die Himbeersahnetörtchen einnebelte, woraufhin alle Fliegen, die sie gierig umkreist hatten, tot herabfielen?
Filou atmete tief durch. Zugegeben, nicht jeder liebte es, wenn er morgens zu Besuch kam. Doch es gab viele Plätze, wo die Menschen ihn freudig willkommen hießen. Nur er selbst fand nicht alle Menschen und Plätze gleich angenehm. Vor Brunos Bar etwa hielt man sich als empfindsames Wesen besser nicht lange auf. Filou beschleunigte sein Tempo. Vom Laternenmast her roch es nach den Körperflüssigkeiten von Männern, die Pastis, Weißbrot und kräftig mit Knoblauch gewürzte Speisen schätzen. Im Rinnstein krümelte die Hinterlassenschaft von Yapper vor sich hin, dem hässlichen Dackel der Zwillinge, der immer mit einem Püppchen aus rosa Strick im Maul durch die Gegend lief. Und aus der offenen Tür von Brunos Bar quoll der Gestank von Zigaretten und Rotwein. Filou wechselte vom Trab in den Galopp, fetzte an einem nach Maschinenöl riechenden alten Damenfahrrad vorbei und bog in die Rue des Fleurs ein.
Hier war die Pforte zum Paradies: links der Metzger, rechts der kleine Supermarkt und dazwischen das Maison de la Presse und das Café. Und dort, direkt vorm Café, ging jeden Tag die Sonne auf. Sie hieß Isabelle.
Nun, die wirkliche Sonne war noch damit beschäftigt, den Himmel sanft zu röten, bevor sie sich über den Roche du Diable wälzte, den Felsen, der über Beaulieu thronte. Aber für Filou war Isabo die aufgehende Sonne, das Mädchen, das jeden Morgen, bevor die Gäste kamen, die Tische und Stühle vorm Café putzte. Als sie ihn sah, ging sie in die Hocke.
»Filoufiloufiloufilou!«
Filou stellte den Schweif auf und zeichnete mit der Schwanzspitze eine Arabeske in die warme Luft. Dann lief er auf sie zu. Sein Engel mit den dunklen Zöpfen lachte ihm entgegen, hob ihn hoch, vergrub die Nase in seinem Fell und flüsterte Kosenamen. »Du Schöner! Du braver Kerl! Du mein Liebster!« Filou brummte vor Vergnügen, als sie ihn auf den Rücken drehte und seinen Bauch kraulte. Das kitzelte! Aber es war wunderbar.
Endlich setzte sie ihn ab. Er schüttelte sich, brachte seinen glänzenden rostroten Pelz mit ein paar kräftigen Zungenstrichen wieder in Form und trabte davon. Jetzt fühlte er sich erfrischt und entspannt, bereit für den Höhepunkt seiner morgendlichen Patrouille. Aufrecht und kühn ging er ihm entgegen.
Seine Truppen waren bereits aufmarschiert. In Reih und Glied standen sie vor dem Metzgerladen, Minou und Mimi und die anderen. Filou stellte den Schweif wie eine Standarte auf und bauschte ihn, sodass er fast so breit war wie er selbst. Nur an der Spitze drehte er ihn leicht ein, ein Zeichen der Bescheidenheit.
Denn er hatte ja ganz zweifellos den schönsten, den größten, den prächtigsten Schwanz von ganz Beaulieu.
Er sah mit Genugtuung, dass sie ihm alle fast demütig den Vorrang ließen. Mit Würde nahm er seine Position vor der Tür ein und leckte sich das Maul. Gleich würde sie sich öffnen. Gleich würde Monsieur Boudin heraustreten, die Delegation begrüßen und ihnen allen seinen Segen erteilen.
Filou hörte ein tiefes Knurren. Er drehte sich ein wenig zur Seite und suchte unauffällig nach dem Missetäter. Garibaldi, einer der vier großen schwarzen Kater, der in einem legendären Kampf mit einem Wiesel ein Auge eingebüßt hatte, duckte sich, legte die Ohren an und zeigte die Zähne. Das imponiert mir gar nicht, dachte Filou und plusterte sich auf, um noch ein wenig größer zu wirken. Doch dann begann ein zweiter Kater zu knurren und mit dem Schwanz zu peitschen. Filou spürte Bewegung um sich herum, fühlte die Unruhe wachsen. Da hieß es, Autorität zeigen.
Er stellte sich auf, mit dem Hinterteil zur Tür der Metzgerei, Schweif und Fell auf Maximum gesträubt. »Hat hier jemand was zu sagen?«, begann er. »Wenn nicht, dann …«
Hinter ihm öffnete sich die Tür. Alle Katzen sprangen auf und rückten näher. Und in diesem Moment passierte das Malheur – er wusste selbst nicht, wie es dazu kam, es war, als ob ihm sein gesträubter Schwanz den Befehl dazu gegeben hätte: Ihm entwich ein feiner Nebel von Körperflüssigkeit, den sein Schweif fächelnd verteilte. Und zwar auf die Hosenbeine des Metzgers.