Читать книгу Lionel Forster, der Quarteron. Eine Geschichte aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg - Sophie Wörrishöffer - Страница 4
Erstes Kapitel
ОглавлениеEs war im Beginn der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts. Auf der Veranda eines schönen, stattlichen Landhauses im fernen Virginien sassen zwei Herren bei der Kaffeetasse und der Zigarre plaudernd zusammen, behaglich den Schatten der hohen, alten Bäume vor dem Hause geniessend und nur hie und da in eine lebhaftere Unterhaltung verfallend, besonders dann, wenn von der Seite der Stallungen her eine helle, jugendfrische Stimme deutlich herüberklang oder der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes den Sand in nächster Nähe der Veranda hoch emporwarf.
Ein schlanker Knabe von fünfzehn oder sechzehn Jahren trieb den Rappen zu immer keckeren Sprüngen, er lachte lustig, und sein braunes Lockenhaar flatterte im Winde. „Der ‚Ajax’ kennt mich noch, Onkel Trevor!“ rief er. „Vorwärts, mein Tier!“
Und ohne eine Antwort zu erwarten, brauste er wieder davon, während der Besitzer des Landhauses, Mr. Trevor, ihm lächelnd und doch mit einem unterdrückten Seufzer nachsah. „Ein prächtiger Junge, der Lionel,“ sagte er, „hübsch, klug und tapfer! Hätte mir der Himmel einen solchen Sohn geschenkt, wie glücklich wäre ich gewesen!“
Der andre Herr schien seine Antwort sorgfältig zu überlegen. „Du lebst zu einsam, Charles,“ sagte er dann. „Seit deine arme Frau gestorben ist, bist du nicht mehr aus dem Hause gekommen, das macht dich melancholisch. Ich glaube, diese schwarzen Tiere, die Neger, sind oft dein einziger Umgang.“
Der Squirea) nickte. „Häufig genug,“ versetzte er. „Aber ich sehe in den armen Kerlen wahrhaftig niemals Tiere, Manfred, — sie haben es gut bei mir, und sie lieben mich aufrichtig.“
Ein Blitz, böse und zornig, flammte in den Augen des andern. „Ganz besonders dieser Lionel, nicht wahr, Charles? Weiss der Bursche überhaupt, dass in seinen Adern afrikanisches Blut fliesst, dass er dein Eigentum ist, wie das Pferd, auf dem er reitet, oder der Boden, auf dem er sich so selbstbewusst ergeht?“
Mr. Trevor nahm die Zigarre aus dem Munde. „Er weiss es nicht, Manfred,“ sagte er mit scharfer Betonung, „und ich wünsche auch nicht, dass er es erfahre! Eins will ich dir übrigens bei dieser Gelegenheit sagen,“ setzte er dann hinzu. „Lionel und alle meine sonstigen Sklaven, mehr als zweihundert an Zahl, sind längst durch testamentarische Bestimmung in Freiheit gesetzt.“
„Charles,“ rief der andere, „ich bitte dich, du wolltest deinem Erben die Summe von zweihunderttausend Dollar zugunsten dieser Schwarzen willkürlich entziehen? — Wahrhaftig, hättest du Kinder, so würde das nie und nimmer geschehen!“
Der Squire lächelte. „Du irrst, Manfred. Mein Grundsatz steht mir höher als alle persönliche Zuneigung — und überdies, wer sagt dir, dass ich meinen Nachfolger nicht liebe?“
„Ihn — den — den —“
Die Stimme des magern Herrn schien vor Aufregung zu ersticken, er konnte seinen Satz nicht vollenden, sondern murmelte, als ihn der Squire ruhig fragend ansah, nur ein verwirrtes: „Entschuldige, Charles!“ — Dann wandte er sich zur Tür, aus welcher in diesem Augenblick ein junger Mensch von etwa siebzehn Jahren, an einer Krücke gehend, hervortrat. „Nun, Philipp,“ rief er, „wie geht es dir heute, mein guter Junge?“
Der schlanke Knabe mit dem blassen Gesicht und den mädchenhaft weissen Händen grüsste freundlich. „Guten Abend, Papa, guten Abend, Onkel Charles! — O wenn ich bedenke, wie ruhig und untätig wir hier sitzen indes andre, Glücklichere für eine geheiligte Sache ihr Leben einsetzen! Schlacht nach Schlacht wird geschlagen, und die Konföderierten gewinnen immer. Wohin soll das führen?“
Sein Vater lachte behaglich. „Zum vollen Siege!“ versetzte er. „Das Banner der Südstaaten ist vom Himmel selbst geweiht.“
Philipp schüttelte den Kopf. „Nimmer!“ bebte es über seine bleichen Lippen. „Nimmer! — Wäre ich ein kräftiger Mann, ein Mensch mit gesunden Gliedern, heute noch liesse ich mich für die Nationalarmee anwerben. Ich glaube sogar, auch du denkst wie ich, Onkel Charles?“
Der Squire reichte ihm lächelnd die Hand. „Ich denke so, Philipp, mein guter Junge,“ versetzte er, „ich habe dich lieb um deiner braven Gesinnung willen, aber wir dürfen über dieses Thema nicht so laut reden. Wenn heute ein Mann, der zweihundert Sklaven besitzt, für die Abolitionisten offen Partei nehmen wollte, so stände höchst wahrscheinlich von seinem Hause schon morgen kein Stein mehr auf dem andern.“
„Siehst du, Papa, dergleichen Greuel geschehen unter dem Banner der Südstaaten. — Fürwahr, Onkel Charles, ich bitte dich, vermache mir keinen einzigen Schwarzen, denn ich würde ihn sogleich laufen lassen.“
Das wohlwollende Antlitz des Gutsherrn wandte sich lächelnd zu dem erregten Knaben. „Ich vermache dir keinen Sklaven, mein guter Philipp, dessen darfst du sicher sein. Dein Onkel sorgt für dich, aber auf andre Weise, — durch ehrlich verdientes Geld.“
Es schien, als sei ein Schatten auf die ruhige, edelgeformte Stirn herabgesunken. Der Squire schüttelte leicht den Kopf. „Sonderbar,“ sagte er, „es ist nun heute schon zweimal von meiner Hinterlassenschaft gesprochen worden! Schickt mir der Tod seine Sendboten?“
„Torheit!“ rief hastig der Vetter. „Bist du abergläubisch, Freund Charles? Es tut mir leid, dich verstimmt zu haben. Es geschah unabsichtlich.“
Philipp bot seinem Verwandten herzlich die Hand. „Auch von mir, Onkel!“ sagte er mit einem offenen Aufblick der schönen blauen Augen. „Doch da kommt Lionel! Der Glückliche, er ist gesund und voll jugendlicher Kraft! Wahrhaftig, ich könnte ihn beneiden!“
Der Günstling des Hausherrn kam über den breiten Kiesweg dahergegangen und begrüsste schon von weitem durch ein fröhliches Kopfnicken die auf der Veranda versammelte Gesellschaft. „Nun, Onkel Charles,“ rief er, „hast du den Ajax bewundert? Wirklich, ich möchte ihn, wenn die Ferien zu Ende sind, nach Richmond mitnehmen!“
„Welch ein Unsinn!“ rief heftig Mr. Manfred Trevor.
Der Squire begütigte ihn. „Lionel soll das Pferd haben,“ sagte er, „und auch einen Schwarzen als Knecht dabei. Er ist jetzt kein Knabe mehr, sondern muss sich beizeiten auf den dereinstigen Plantagenbesitzer vorbereiten.“
Lionel flog dem väterlichen Freunde entgegen und umfasste ihn stürmisch mit beiden Armen. „Onkel Charles,“ rief er, „ach du goldener Onkel Charles, — den Ajax soll ich wirklich haben? Aber — aber ja, siehst du, auch einen Neger dabei? Der mein Eigentum wäre? Mein Sklave? Das kann nicht geschehen. Ich entsetze mich vor dem Gedanken, dass ein Mensch das Eigentum des andern sein könnte — ich mag an dieser Schmach meines Landes keinen Teil haben. Lieber, guter Onkel, bezahle für mich in Richmond einen freien Neger, willst du das?“
Der Squire nickte. „Du sollst den alten Ralph mit dir nehmen, Lionel. Er hat deine Eltern gekannt, hat dich selbst als kleines Kind auf den Armen getragen und ist mir mit Leib und Seele zugetan. Seinen Freibrief erhält er vor eurer Abreise.“
„Charles!“
„Nun, Manfred, was wolltest du sagen?“
„Bitte, bitte, — es war nur so ein unwillkürlicher Ausruf. Der Sklave Ralph, ein Mann in den besten Jahren, ist fünfzehnhundert Dollar unter Brüdern wert. Willst du diese grosse Summe der Laune eines Knaben opfern?“
„Ich kann mir diese Freude gestatten,“ antwortete der Hausherr ruhig. „Fünfzehnhundert Dollar haben für mich einen weit geringeren Wert als die Zuneigung treuer, ergebener Herzen.“
Lionel war während dieser Rede wie der Blitz davongesprungen. „Ich wette, er sucht den alten Ralph,“ lachte Philipp, „er will ihm die Freudenbotschaft brühwarm hinterbringen!“
„Um das übrige schwarze Gesindel rebellisch zu machen!“ setzte mit giftigem Tone sein Vater hinzu. „Fürchtest du nicht, dass sie dir das Haus über dem Kopfe in Brand stecken, mein guter Charles?“
Der Squire lächelte. „Meine Neger?“ sagte er. „Nein, Manfred! ich will den Kopf mit grösster Ruhe jedem einzelnen unter ihnen in den Schoss legen und so sanft schlafen, als wache bei meinem Lager ein Regiment Bewaffneter. Diese armen Leute sind grosse Kinder, wie man sie behandelt, so geben sie es zurück. Du darfst mir sicherlich glauben, dass diejenigen, welche von ihren Sklaven verraten oder bestohlen wurden, eine solche Züchtigung vollständig verdient hatten.“
Mr. Manfred Trevor blieb die Antwort schuldig. Vom Stall her kam Lionel mit einem grossen, kräftig gebauten Neger. „Onkel Charles,“ rief er, „der unkluge Ralph hat sich förmlich entsetzt, denke dir, er will gar keinen Freibrief haben! Er will unter keiner Bedingung dein Haus und deinen Dienst verlassen.“
Der Neger schüttelte den Kopf. „Ralph geht mit nach Richmond,“ sagte er, „o ganz gewiss, er geht mit, aber der Freibrief soll hierbleiben. Ralph mag keinen andern Herrn haben als Mr. Charly, den guten Squire.“
„Das sollst du auch nicht, törichter Bursche! Aber wäre es denn nicht besser und angenehmer, gar keinen Herrn zu haben?“
Der Neger sann nach. „Bei Mr. Charly will ich bleiben!“ Das war alles, was er auch diesmal zu antworten wusste.
„Siehst du wohl, Manfred!“
Der Squire entliess lächelnd den Riesen mit dem einfältigen Kinderherzen. Die beiden Knaben schlossen sich ihm an, und so kam es, dass die Herren einen Augenblick auf der Veranda allein blieben.
Charles legte zutraulich seine breite Hand auf die Schulter des Vetters. „Manfred, alter Junge, „begleitest du mich? Ich möchte einige Forellen fangen!“
„Danke, danke, — Stillsitzen ist mir ein Greuel.“
Er winkte mit der Hand und schlenderte langsamen Schrittes davon, um dann in der Nähe des Gutes an einem jäh abfallenden Felsen stehenzubleiben und starr ins Leere zu sehen. Bittere, hasserfüllte Gedanken mochten es sein, die hinter der bleichen, in tiefe Falten gelegten Stirn einander drängten und überstürzten, bittere, hasserfüllte Gedanken, die sich in dem Zucken der zusammengekniffenen Lippen aussprachen. Er murmelte halb abgebrochene Laute, er ballte die Faust, als wolle er schlagen.
„Warum andern alles und mir nichts?“ — — — —
Während er so, in Groll und Zorn versunken, allein und ungesehen am Rande des Felsens stand, waren Philipp und Lionel auf den grossen Hof des Gebäudes hinausgegangen und befanden sich nun unter der ganzen Schar der von ihrer Arbeit heimkehrenden Neger. Rechts und links umfassten die hübschen, sauberen Wohnungen den weitgedehnten Platz, überall auf steinernen Herden flackerte lustig das Feuer, und aus Töpfen und Pfannen drang der Duft dieser verschiedenen Mahlzeiten hinaus in die helle, warme Abendluft. Schwarze Frauen hantierten singend in den Küchen oder kamen mit ihren Krügen auf den Köpfen zum Brunnen, um Wasser zu holen, schwarze Kinder spielten im Sande.
Auch von den Feldern kamen die Leute nach Hause, und mehr als einer dieser schwarzen Gesellen näherte sich dem Knaben mit der Krücke, um ihm irgendeinen Gegenstand in die Hand zu drücken, grosse Käfer und Fliegen, Schmetterlinge und Vogeleier, seltene Blumen und sogar hie und da eine Schlange, die aber durch einen Messerstich in den Nacken getötet worden war. Sie alle wussten, ein wie eifriger Naturaliensammler Philipp war, und machten ihm gern Freude, indem sie ihm so oft wie möglich Insekten und Pflanzen von den Feldern mitbrachten.
Philipp und Lionel kehrten in das Haus zurück, um all diese neuen Dinge in die Sammlungen einzuordnen, und erst als Philipp den Katalog vornahm, in welchen er alles sorgsam einschrieb, griff Lionel zu seinem Hute. „Ich gehe noch in die Stadt, Philipp, willst du mit, dann soll Ralph meine Ponies vor den Wagen spannen!“
Der Krüppel schüttelte den Kopf. „Ich danke dir, Lionel, heute abend nicht mehr. Du reitest auch gewiss lieber deinen Ajax, du glücklicher Mensch mit den Muskeln und Nerven von Stahl!“
Lionel lächelte. „Wenn du je in Not oder Gefahr bist, Philipp, dann werde ich dich verteidigen, — meine Kräfte sollen immer auch die deinigen sein.“
Philipp nickte ihm freundlich zu. „Danke, danke! Spring’ nur davon, du, ich weiss ja ohnehin, dass du den Büchern nicht gerade das wärmste Interesse entgegenbringst.“
„Wahrlich, nein! Ich will ein Farmer werden und draussen in Wald und Feld meine Tage verleben, immer mit der Kugelbüchse auf der Schulter, halb Squire, halb Trapper, das ist’s, was ich mir wünsche.“
Philipp lächelte. „Was dir jedenfalls auch zuteil werden wird, Lionel. Du erbst doch unter allen Umständen dereinst diese Farm.“
Der andre schien betroffen. „Ich?“ sagte er gedehnt. „Aber ich bin nur ein Pflegesohn, kein Blutsverwandter des Onkels, — wie sollte ich also erben? Nein, nein, du wirst der Squire, und ich muss dann sehen, wo für mich der Tisch gedeckt ist.“
Die milden Züge des verkrüppelten Knaben trugen in diesem Augenblick einen sinnenden, beinahe trüben Ausdruck. „Lass uns nicht in die ferne Zukunft hinein unsre Pläne bauen wollen, Lionel! Wer weiss, was der nächste Morgen bringt? Es gibt viele Leute, die da behaupten, datz sich der Krieg gerade hier entscheiden müsse und dass die Nordstaaten den Sieg behalten werden.“
„Das sollen sie ja auch! Ich wünsche den Konföderierten alles Böse! Aber lieber wäre mir doch der ungestörte Friede.“
„Master Lionel!“ rief von unten her die Stimme des Sklaven Ralph, „wollen Sie mitfahren, Sir? Ich muss noch zur Stadt.“
„Gleich! Gleich! — Adieu, Philipp, ich will nur einen Freund begrüssen, in etwa zwei Stunden sehen wir uns wieder.“
Er nickte nochmals und sprang dann davon, um mit dem Sklaven zur Stadt zu fahren. Dort herrschte reges Leben und Treiben. In allen Strassen lungerten Haufen von Soldaten, nicht selten lärmend und betrunken, in Zank begriffen und grob gegen die Bürger, deren Häuser sie besetzt hielten, zerlumpte Gestalten mit den Ueberresten einstiger Uniformen, dazwischen Gesindel, heruntergekommene Subjekte, die, aus allen Teilen der Erde zusammengelaufen, den Truppen folgten, um, wo diese ihre Erpressungen vornahmen, unter irgendeinem Vorwande einen Teil der Beute zu erhaschen. Selbst Frauen waren darunter, Strassensängerinnen, Wahrsagerinnen, bettelnde Weiber, die vielleicht in ihrer Heimat das Zuchthaus verwirkt hatten und nun hinter den Regimentern herzogen.
Hie und da sah man prunkhaft gekleidete Offiziere hoch zu Ross, Equipagen, in denen über Nacht zu Millionären gewordene Spekulanten sich blähten. Das zuchtlose Treiben des Krieges machte überall seine schlimmen Einwirkungen geltend, hie und da gähnte in den Strassen die Lücke einer kürzlich entstandenen Brandstätte, schwarze Balken und zerborstenes Mauerwerk starrten empor, ohne dass sich eines Menschen Hand gerührt hätte, um die Trümmer wegzuschaffen und wieder aufzubauen, was bei Gelegenheit eines Streites oder in trunkenem Mute zerstört worden war.
„Wohin fährst du, Ralph?“ fragte Lionel.
„Zum Obersten Smith, Sir. Mr. Charly muss zehn Ochsen liefern und hundert Bushel Mais, — ich soll fragen, zu welcher Stunde das morgen geschehen kann.“
„Bekommt mein Onkel dafür keine Zahlung, Ralph?“
„O Massa Lionel, wohin denken Sie denn? Fünfzehn Schwarze, die jüngsten, kräftigsten Männer hat er schon zur Armee stellen müssen, — ohne einen Cent Ersatz! Puh! man weiss nicht, ob einer davon wieder nach Hause kommt. Wenn sie Hunger verspüren, die Herren Offiziere, oder wenn sie für ihre Pferde Futter brauchen, dann erhalten die Plantagenbesitzer ganz einfach den Befehl: So und so viel musst du bringen!“
Er versetzte im Aerger dem Braunen einen Hieb, welcher diesen zum schnellsten Laufe anspornte; nach wenigen Minuten hielt der Wagen vor dem Kommandanturgebäude, und nun verabschiedete sich Lionel für den Augenblick von seinem Begleiter. „In zwei Stunden bin ich wieder da, Ralph, willst du mich um diese Zeit in der ‚Blauen Traube’ erwarten?“
„Well, Sir, well, ich bin da!“
Lionel ging schnellen Schrittes durch die Strassen bis zu einem Hause, dessen Schaufenster das Eisenwarengeschäft verrieten. Die Tür war geschlossen und von innen mit einer Kette gesperrt.
„Wer ist da?“ fragte aus dem halbdunkeln Hintergrunde eine Frauenstimme.
„Guten Abend, Frau Neubert! Ich bin es, Lionel Forster von Seven-Oaks!“b)
„Ach — das freut mich ja sehr! Hermann, komm rasch herauf!“
Die Kette wurde entfernt und die Tür geöffnet; eine blasse, vergrämt aussehende Frau liess unsern Freund eintreten, indem sie gleich hinter ihm den Zugang wieder versperrte und dann erst beide Hände ausstreckte, um ihn zu begrüssen. „Wie Sie gewachsen sind, Lionel! Beinahe schon ein junger Mann zu nennen! — Ach, das ist eine traurige Zeit, in der wir uns wiedersehen!“
„Hoffentlich geht es Ihnen und den Ihrigen gut, Frau Neubert?“
Die blasse Frau trocknete die Tränen, sie führte den Gast in das Wohnzimmer, wo zwei Kinder von acht und zehn Jahren still und scheu in der Ecke spielten. „Gesund sind wir gottlob bis jetzt alle, mein lieber Lionel, aber die bittere Not steht vor der Tür, man weiss nicht mehr, wo aus noch ein.“
Ehe unser Freund zu antworten vermochte, erklangen draussen Schritte, und ein kräftiger, schlank gewachsener Knabe von Lionels Alter trat in das Zimmer. Selbst dieses jugendliche Antlitz zeigte einen Schatten des Grames auf der freien, edelgeformten Stirn, aber trotzdem brach kein Anblick des früheren Spielkameraden ein lauter Freudenruf von seinen Lippen. „O Lionel, Lionel, wie gut von dir, dass du kommst!“
Die beiden umarmten einander auf das zärtlichste. Bis zur Konfirmation waren sie Seite an Seite durch alle Klassen einer Privatschule der Stadt gegangen, bis dann Lionel nach Richmond zog, um sich dort weiter auszubilden, während Hermann als Lehrling in das Geschäft seines Vaters trat. Jetzt sahen sie einander seit dieser Trennung zum erstenmale wieder, und die Freude war auf beiden Seiten gleich gross. „Was für lange Gesichter ihr alle habt!“ rief Lionel. „Bei uns auf Seven-Oaks sind wir fröhlich und guter Dinge, an den Krieg denkt niemand.“
Frau Neubert seufzte. „Mr. Charles Trevor ist ein reicher Mann,“ sagte sie, „er kann die Verluste dieser schlimmen Zeit leichter ertragen.“
„Geht es denn wirklich mit den Geschäften so übel?“ fragte Lionel.
Ein leises: „Ach!“ war die einzige Antwort. Die beiden Kinder schlichen zur Mutter, während Hermann die Faust ballte. „Lass uns von etwas anderm sprechen,“ sagte er rasch. „Durch Klagen und Aechzen wird ja doch nichts besser, man macht sich nur selbst das Herz schwer.“
„Ich wollte dich bitten, mit mir nach Seven-Oaks hinauszukommen,“ rief Lionel. „Philipp Trevor ist auch da, — während der Ferien könnte dich dein Papa wohl entbehren!“
Frau Neubert und ihr Sohn sahen einander an. „Es geht unmöglich!“ sagte die Mutter. „Aber du könntest ja deinen Vater auf einen Augenblick herbeirufen, Hermann. Lass ihn selbst entscheiden!“
Hermann sprang davon. Nach einigen Minuten erschien er wieder und sagte, dass der Vater bitten liesse, ihn zu entschuldigen, Mr. Forster möge einen Augenblick mit zum Lager hinüberkommen
Frau Neubert schloss rasch hinter den beiden jungen Leuten die Tür. Lionel und Hermann gingen durch den Laden und dann über einen halbdunkeln Gang zum Hofe, wo sie im Gewirr hoher Speicherräume verschwanden und nach zwei Minuten in einen Schuppen traten, den bei ihrer Annäherung eine Hand von innen öffnete und ebenso schnell wieder versperrte. Vor den beiden Knaben stand Hermanns Vater, ein kräftiger, hochgewachsener Mann in der Mitte der vierziger Jahre mit einem entschlossenen, ausdrucksvollen Gesicht und lebhaft blitzenden braunen Augen. Er begrüsste treuherzig und freundlich den jungen Knaben, dessen Züge das Erstaunen, welches seine Seele empfand, unwillkürlich widerspiegelten.
„Es ist mir lieb, dass Sie kommen, Lionel,“ sagte er. „Hermann und ich vollbringen ein Werk, dessen Verantwortlichkeit schwer auf mir lastet.“
Er deutete auf den Hintergrund des geräumigen Lagerschuppens, wo die Erde bis zur Tiefe von fünfzehn Fuss mit Schaufeln ausgeworfen war. In der weilen Höhlung flimmerte das Licht einer Blendlaterne und warf seine Strahlen auf eine Anzahl grosser, mit Eisenreifen umspannter Kisten, die dicht gedrängt über und nebeneinander standen. „Sehen Sie, Lionel, das ist das Hab und Gut einer Reihe deutscher Familien,“ setzte er hinzu, „viele Tausende an Wert.“
„Aber weshalb vergraben Sie es denn hier im Speicher?“
„Weil man anfängt uns zu beobachten, zu verdächtigen, weil eine förmliche Deutschenhetze ins Werk gesetzt wird. Dieser Stadtteil beherbergt beinahe ausschliesslich deutsche Familien, alle wohlhabend, einzelne sogar sehr reich, das wissen die Amerikaner und haben nun behauptet, der Norden erhalte von uns bare Mittel zur Unterstützung seiner Zwecke. Man konfisziert und drangsaliert uns, man treibt uns auf jede Weise zur Verzweiflung, — das erweckt notwendig den Gedanken der Gegenwehr.“
Lionel lachte. „Sie verstecken die Wertsachen, um Ihr Eigentum zu retten, nicht wahr?“
„Natürlich, mehr als gefunden wird, kann man nicht konfiszieren.“
„Sieh hier, diese schwere Kiste,“ raunte Hermann, „es ist lauter Gold darin, Uhren, Ringe, Ketten, — Hunderttausende an Wert.“
Kiste nach Kiste wurde unter vereinten Kräften in den Schoss der Erde befördert und dann, als vollständig aufgeräumt war, die Grube mit Brettern äusserlich verdeckt. „Morgen kommt der Rest,“ meinte Herr Neubert, „ich will dem Himmel danken, wenn alles glücklich geborgen ist. Sollten dann von meinen deutschen Freunden wirklich einige in das Gefängnis gebracht werden, so ist doch so viel gerettet, dass ihre Familien vor Hunger und Elend bewahrt bleiben.“
Herr Neubert löschte das Licht der Laterne, dann begaben sich alle drei in das Haus, wo Frau Neubert und die Kinder eng aneinandergeschmiegt im Finstern sassen, während der Lärm von der Strasse heraufdrang.
Lionel hatte jetzt die grösste Eile, ihm blieb keine Zeit, das Abendbrot der Familie zu teilen, er musste ungesäumt das Wirtshaus zur blauen Traube aufsuchen, um mit Ralph den Heimweg anzutreten.
Herr Neubert begleitete seinen jungen Gast vor die Haustür; Hermann hatte die Mütze aufgesetzt, um den ehemaligen Schulkameraden bis zur blauen Traube zu bringen, und so gingen denn die beiden jungen Leute schnellen Schrittes davon, wobei Hermann absichtlich in eine Querstrasse einbog und dort verstohlen auf ein grosses, düster aussehendes Gebäude hinwies. „Das ist das Gefängnis, Lionel.“
Ein Grauen durchlief Lionels Seele. Das Dach war zum Teil zusammengestürzt, die Fenster mit Brettern vernagelt, — das Schweigen des Todes schien diese schreckensvolle Stätte zu beherrschen.
„Das war doch, wenn mich nicht alle meine Erinnerungen täuschen, des alten Schaumann Brauerei!“ rief Lionel. „Wie kann es also jetzt ein Gefängnis sein?“
„Das ist es auch erst seit wenigen Monaten. Den braven, ehrenfesten Herrn Schaumann, meinen Paten, haben die Unholde gelyncht, sein Weib und seine Kinder ins Elend gejagt. Dann brauchten sie für die Masse der übrigen ausgeplünderten und gefolterten Opfer einen Ort, der als Zwingburg dienen konnte, und nun wurde die Brauerei notdürftig wieder zusammengeflickt. Es sitzen gegen hundert unbescholtene Männer hinter den schwarzen Mauern gefangen, — die bestgehassten sogar in den Kellern, drei Stockwerke tief unter der Erde.“
„Hermann!“
„Es ist, wie ich dir sage, Lionel. Hast du seit deinem Hiersein schon das Wort, ‚Vigilanzkomitee’ gehört?“
„Niemals!“
Hermann atmete tief, seine Blicke schienen Funken zu sprühen, seine Faust war geballt. „Rowdies sind es,“ flüsterte er, „Schurken und Mordbrenner, sie haben aber die Gewalt in Händen, das Volk läuft ihnen blindlings nach. Da wird denn ein Wort, vielleicht achtlos hingeworfen, bis ins ungeheuerliche verzerrt und verdreht, da wird eine harmlose Handlung mit den Blicken hämischer Spionage betrachtet, und ehe sich’s der Unglückliche versieht, fliegt ihm die Vorladung dieses sogenannten, Vigilanzkomitees‘ ins Haus; er soll sich rechtfertigen, obgleich er nichts verbrochen hat.“
„Und dann?“ flüsterte Lionel, während sein Herz schneller schlug und eine geheime Unruhe ihn erfasst hielt, „und dann, Hermann?“
„Dann wird die Schuld herausgefunden, gleichviel, ob eine vorhanden ist oder nicht. Man sperrt den Verurteilten in die Keller der Brauerei, wenn man es nämlich nicht vorzieht ihn sogleich abzuschlachten. In beiden Fällen ist natürlich sein Eigentum der Konfiskation unrettbar verfallen.“
„Das ist ja entsetzlich!“ rief Lionel. „Und wohin hat sich die arme Frau Schaumann mit ihren Kindern begeben?“
„Das mag der Himmel wissen, — in der Stadt sind sie nicht geblieben. Wahrscheinlich haben alle in den Gebirgen ihren Tod gefunden.“
Lionel erbleichte. „Verhungert!“ sagte er. „In den Wäldern zugrunde gegangen! Und auf Seven-Oaks haben wir mehr Korn, mehr Herden und Obst, als in ganzen Jahren gegessen weroen könnte. — Kostet übrigens wirklich in der Stadt das Mehl achtzig Dollar das Fass?“ setzte er dann hinzu. „Es ist ja doch wohl durchaus unmöglich!“
„Keineswegs. Ich bin überzeugt, dass heute schon hundert gezahlt werden. Die Spekulanten kaufen alle Vorräte auf und machen nun den Preis nach eigenem Ermessen; es kann ja in den Bannkreis der Blockade nichts von draussen her eingeführt werden. Kaffee kostet zwölf Dollar das Pfund, Salz einen Dollar, — Tee gibt es überhaupt nicht mehr.“
Lionel verstummte, er dankte dem Himmel, als das Gasthaus erreicht war und Ralphs schwarzes Gesicht ihm wieder entgegensah. Die Pferde wurden vorgespannt, Hermann und Lionel besprachen noch den Plan der nächsten Tage und schieden dann mit der Hoffnung, einander schon morgen auf der Plantage wiederzusehen. Hermann sollte es nach so vielen ausgestandenen Leiden einmal für eine Zeitlang recht angenehm haben.
Der Wagen fuhr schleunigst davon, wie ein schwarzer Streifen verschwanden rechts und links die Seitenstrassen, dann kam das freie Feld und endlich der Wald, durch dessen grüne, weite Hallen ein Wiesenpfad, wie ihn die Natur erschaffen, hinausführte zur entfernten, am Fusse des Gebirgszuges liegenden Farm.
Bisher hatten Ralph und Lionel geschwiegen, jetzt endlich nahm der letztere das Wort.
„Sage mal, Ralph,“ fragte er, „hast du meine Eltern gekannt?“
„Ja, Sir.“
„Mein Vater war ein entfernter Verwandter des Onkels, nicht wahr?“
„Ich denke wohl, Massa Lionel.“
Unser Freund schüttelte den Kopf. „Weshalb tust du, als sei die Sache ein Geheimnis, Ralph? — Ich selbst war bei dem Tode meiner Eltern ein ganz kleines Kind und kann mich also aus diesem Grunde an nichts erinnern. War meine arme Mutter eine gute Frau, Ralph? Hatten die Schwarzen sie lieb?“
Der Alte nickte. „Mrs. Jane?“ sagte er halblaut. „O, sie war ein Engel, der Tod sass ihr in der Brust, seit Mr. Forster so weit fortgehen musste.“
„Mein Vater?“ rief Lionel. „Weshalb verliess er sie?“
Der Neger erschrak. „Er verliess sie nicht, Master Lionel! Nein, nein, es war nur eine notwendige Reise. Ganz gewiss, nur eine Reise.“
„Wohin denn?“ fragte ungläubig der Knabe. „Weshalb begleitete sie ihn nicht?“
„Das kann ich Ihnen unmöglich sagen. Vielleicht war sie schon damals zu krank, um sich auf die Reise zu begeben, vielleicht hatte sie auch andere Gründe, aber gewiss ist nur, dass Mr. Forster allein fortging.“
„Um niemals wieder zurückzukehren, Ralph?“
„Niemals. Er ist bald darnach gestorben.“
„Und meine arme Mutter wurde vor Gram krank, nicht wahr?“
„Ja, Sir, sie folgte ihrem Manne sehr schnell in das Grab.“
Lionel schüttelte den Kopf. „Eine eigentümliche Geschichte!“ sagte er. „Ich sehe da nie so recht auf den Grund, ich kann nicht erfahren, was mein Vater war, und ob überhaupt noch Verwandte von ihm leben. Onkel Charles ist mir in dieser Beziehung schon mehrfach ausgewichen, und heute machst du es ebenso, Ralph.“
Der Neger trieb die Pferde zu schnellerer Gangart. „Ich weiss nicht mehr, als was ich sagte, Sir, wirklich.“
Jetzt hielt der Wagen, und nach allen den aufregenden Empfindungen der letzten Stunden umgab die traute Stille des Landhauses sanft beruhigend die Sinne des Knaben. In der weiten Vorhalle brannte eine Kugellampe, auf der Veranda stand mit Flaschen und Gläsern der Abendtisch gedeckt, ein grosser Wildbraten dampfte in der Schüssel, frisches Gebäck und lockende Fruchtschalen füllten die Zwischenräume der schweren Gerichte. Vor dem Tische lagen die beiden Jagdhunde und erwarteten geduldig, was für sie abfallen würde.
Es ging durch Lionels Herz wie ein Messerstich. Hier der Ueberfluss, dort unten in der Stadt die bitterste Not! — Er vermochte, als sich die kleine Familie um den Tisch versammelt hatte, kaum zu essen, so sehr beschäftigte ihn das Schicksal der bedrohten Deutschen.
„Onkel Charles,“ sagte er, „du glaubst nicht, wie viel Elend ich in der Stadt mit eigenen Augen angesehen habe! Du solltest mir aus deinen grossen Vorräten von Lebensmitteln möglichst viel schenken, damit ich es den Armen in der Stadt überbringen kann, oder besser noch —“
Mr. Manfred Trevors Augen funkelten, das gelbe Gesicht wurde noch fahler. „Du wirst doch eine so unsinnige Bitte nicht erfüllen, Charles?“
„Ich kann es leider nicht, Manfred, das weisst du sehr wohl!“ sagte der Gutsherr. „Die Besonnenheit verbietet mir aus mehrfachen Gründen jedes Eingreifen in die Verhältnisse der Bedrohten.“
„Natürlich,“ murmelte Mr. Manfred, „natürlich. Du könntest erleben, dass der Pöbel hierherzöge, um Seven-Oaks dem Boden gleichzumachen und uns alle umzubringen.“
Der Gutsherr nickte. „Leider!“ seufzte er. „Leider! — So gern ich deinen Wünschen willfahren möchte, Lionel, es ist undenkbar. Du selbst musst in der Stadt jedes deiner Worte sorgfältig abwägen, mein guter Junge, — für einen Abolitionisten zu gelten, kann dir das Lynchgericht in jedem Augenblick zuziehen, ohne dass sich zu deinem Schutze irgendeine Hand erhöbe.“
Lionel schwieg. Er war mit den Ansichten seines Onkels nicht einverstanden, aber er fühlte, dass es unpassend sein würde, jetzt noch dagegenzusprechen, daher unterhielt er sich mit Philipp, und die beiden beschlossen, wenigstens den Inhalt ihrer Sparbüchsen heimlich zu verteilen. „Ich habe nur einen einzigen Dollar,“ gestand Philipp, „aber ich gebe ihn gern. Du bist gewiss reicher als ich, Lionel!“
„In meinem Kasten befinden sich mehr als hundert Golddollar, die sollen die Abgebrannten haben. Onkel Charles hat schon erlaubt, dass Hermann Neubert die Ferien mit uns verbringt, wir können also morgen zur Stadt fahren, um ihn zu holen und dabei gleich das Geld mitnehmen.“
Am andern Tage brachte Ralph sie im Wagen in die Stadt und vor Herrn Neuberts Haus. Im Nachbargebäude hatte über Nacht das Feuer gewütet und eine klaffende Lücke in die Strassenflucht hineingerissen. Wo waren die Unglücklichen, denen wilde Frevler die Heimat mit allem, was sie ihr eigen nannten, plötzlich und gewaltsam entrissen hatten?
„In dem Warenschuppen des Baumaterialienhändlers drüben hinter der Schenke,“ flüsterte Hermann, als Lionel diese Frage stellte. „Zwischen Kalktonnen und Bretterstapeln hat ihnen der unerschrockene Gastwirt ein Asyl gewährt.“
„Ich will gleich die Abgebrannten besuchen,“ rief Lionel, „ich will ihnen etwas Geld bringen und sie ermahnen, den Mut nicht zu verlieren.“
Er sprang, während sich Hermann zur Reise rüstete, über die Trümmer der verbrannten Häuser bis zu dem Schuppen, welcher ihm bezeichnet worden war, öffnete leise eine Tür und sah in das Innere des Raumes.
Auf einigen alten Wolldecken lag ein Mann, dessen Kopf und Hände verbunden waren, daneben mehrere Kinder mit bleichen Gesichtern, offenbar von Angst und Krankheit verzehrt. Die Unglücklichen hatten sich eng aneinandergeschmiegt, als wollten sie vereint der letzten Stunde entgegensehen; des Vaters verbrannte Hände hielten die Kleinen umfasst, ihre Köpfchen mit den blonden Haaren und den furchtsam blickenden Augen lagen dicht an seinem Herzen.
Vor der elenden Lagerstätte sass eine Frau von etwa fünfunddreissig Jahren; sie stützte den Kopf in die abgezehrte Hand und las mit vom Weinen unterbrochener Stimme den Ihrigen aus der Bibel vor.
„Guten Tag, liebe Frau,“ begrüsste sie Lionel, „fürchten Sie sich nicht, ich komme, um Ihnen meine paar Sparpfennige zu bringen, alles, was ich habe, aber recht von Herzen gegeben. Möchte es Ihre augenblickliche Not ein wenig lindern können.“
Er legte mit leiser Hand das Geld in den Schoss der Frau und wollte sich wieder entfernen, als ihn der Mann bat, doch noch einige Minuten zu bleiben. „Sind Sie ein Deutscher, junger Herr?“
„Nein, Sir, ich bin ein geborener Virginier und ein Verwandter der Familie Trevor auf Seven-Oaks. Glauben Sie denn, dass nur ein Deutscher mitleidig und teilnehmend empfinden könne?“
Der kranke Mann lächelte. „Das gewiss nicht,“ versetzte er, „aber in dieser bösen Zeit hält man unwillkürlich jeden Amerikaner für seinen Todfeind. Ach, junger Herr, vor einem einzigen kurzen Jahre war ich ein wohlhabender Mann, hatte mein blühendes Geschäft und zwei eigne Häuser, — jetzt bin ich ein Bettler, mein armes Weib, meine Kinder sind ruiniert für immer.“
Die Frau kniete neben seinem Lager, sie streichelte das überall verbundene, von Brandwunden bedeckte Gesicht, ihre Tränen fielen heiss auf die unschuldigen Stirnen der schluchzenden Kinder.
„Sieh, wie viel Geld wir jetzt haben, Martin! Gott ist wirklich bei uns, er hat den Retter in der Not hierhergeschickt. Hundert Golddollar, — damit kommen wir hinüber in das Gebiet der Nordstaaten.“
Der Kranke machte den vergeblichen Versuch, sich aufzurichten, er sank matt in die Wolldecken zurück, aber sein Auge glänzte und um die bleichen Lippen zuckte zum erstenmale ein Lächeln voll neuen Mutes.
„Und alles dieses Geld wollen Sie uns armen Verfolgten schenken, junger Herr? — Ach, der liebe Himmel lohne es Ihnen tausendfältig. Geben Sie mir Ihre Hand, Sir! Martin Reuter will zum Schuft werden vor Gott und den Menschen, wenn er diesen Sonntagmorgen jemals vergisst! So, das ist ein Eid wie jeder andere — möchte die Stunde kommen, in der es mir vergönnt ist, Ihnen einen Dienst zu leisten, junger Herr, ich will sie als die schönste meines Lebens betrachten.“
Lionel nahm vorsichtig die verbrannte Hand, er sprach einige freundliche Worte, mit denen er den Kranken zu beruhigen suchte, dann verabschiedete er sich.
„Gottes Segen mit euch allen! Adieu! Adieu!“
„Der Himmel vergelte es Ihnen, Sir! Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!“
Jetzt stand er draussen, das Herz voll einer stillen, überschwenglichen Freude. Welch eine Seligkeit ist es doch, fremde Tränen trocknen zu können!