Читать книгу Lionel Forster, der Quarteron. Eine Geschichte aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg - Sophie Wörrishöffer - Страница 6

Drittes Kapitel

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Noch stand die Sonne nicht völlig am Himmel, der Tau lag auf den Grasspitzen, die Blumen schimmerten wie mit einem Silberschleier bedeckt; es war ein warmer, herrlicher Morgen, kirchenstill dehnte sich der Wald, nur leises Vogelsingen klang zuweilen durch die grüne Wildnis.

Jack Peppers ordnete den Vormarsch der Treiber, die das Unterholz von allen Seiten durchstreifen und so das kostbare Wild zwingen sollten, im dichten Schilf eines Sees Schutz zu suchen.

„Wie ist die Gegend beschaffen?“ fragte Mr. Manfred Trevor. „Eine offene Fläche?“

„Ein See, der in einen Sumpf ausläuft, Sir, dahinter die Gebirgskette. Ich bin überzeugt, dass uns die Katze nicht entkommen kann.“

Manfred hielt sich ständig an seines Vetters Seite, er verliess ihn keinen Augenblick, er machte es ihm ganz unmöglich, dem Knaben unbemerkt auch nur ein einziges Wort zuzuflüstern. Lionel dachte nicht mehr an die Unterredung dieser Nacht, er kümmerte sich wenig um Geld oder Erbschaft, sein Auge blitzte hell und fröhlich.

Eine Stunde weit führte der Weg durch den Wald, dann wurde das Unterholz seltener, und endlich schimmerte ein Wasserstreif in der Ferne den Jägern entgegen. Wie ein Keil, spitz und langgestreckt, bohrte sich ein Ausläufer des Sees in das Holz hinein, zu beiden Seiten mit hohem Schilf bewachsen.

Jetzt schienen die Hunde unruhig zu werden, sie schnupperten am Boden, ihr Haar sträubte sich, nur die gehorsamen Tiere des. Trappers waren noch zum Vorgehen zu bewegen, während die beiden Rüden des Gutsherrn winselnd zu den Füssen ihres Gebieters um Schutz zu bitten schienen.

Jack Peppers stand still. „Irgendwo im Schilf lauert die Bestie,“ sagte er leise. „Wir müssen uns jetzt trennen, so dass beide Ufer des Wasserarmes besetzt sind. Ich bleibe hier vorn, meine Hunde sollen die Unze heraustreiben.“

Er deutete mit der Hand die Richtung an, — leise schleichend suchten die beiden Männer in Begleitung der Knaben jeder für sich hinter einem dicken Stamm Deckung, und nun begann der Trapper die Hunde in Bewegung zu setzen. „Vorwärts, Happy, mein gutes Tier! Vorwärts, Carry! Sucht die Katze!“

Er selbst hatte das Gewehr an einen Baumstamm gelehnt und dafür vom Gürtel eine schwere Keule aus Eichenholz gelöst. Den Arm mit einem Schaffell umwickelt, stand er da wie ein römischer Fechter der Vorzeit, vollkommen ruhig, bereit, dem gefürchteten Raubtier entgegenzugehen.

Die Hunde drangen in die dichten Schilfmassen hinein, sie suchten mit gesenkten Schnauzen und schienen nach kurzer Frist die Spur gefunden zu haben. Ein wütendes Bellen verriet, dass ihr Todfeind entdeckt war.

Geier kreischten und flogen durcheinander, Hunderte ihrer hässlichen Sippe erschienen zugleich, ein wirres Flügelschlagen und Lärmen begleitete einen Chorus anderer Stimmen, die sich aus der Mitte des Schilfmeeres erhoben. Von rechts und links stürzte aufgeschreckt, in voller Todesangst, ein Rudel Wasserschweine kopfüber in die stille Flut, während aus dem grünen Rahmen derselben ein dicker, plumper Kopf mit glühenden Raubtieraugen zum Vorschein kam. Ein langer Schweif peitschte wütend die Halme, dass sie nach allen Seiten flogen, ein Brüllen erscholl gleich fernem Donner. Der schwarze Kopf sah nach vorn, als suche er den Angreifer, das riesige, einem Königstier an Grösse gleichkommende Tier stand aufrecht in seiner vollen Höhe und schlug herausfordernd mit den Pranken in die Luft, während von allen Seiten die Geier in ganzen Wolken herbeiflogen, um den Körper eines getöteten Wildschweines, das vor den Füssen des Jaguars im Schilf lag, mit ihren scharfen Schnäbeln zu zerhacken und als gute Beute an sich zu reissen.

Wenigstens zehn Schüsse fielen zugleich. Das Tier sprang hoch empor und sank auf alle vier Füsse zurück, es brüllte vor Wut und Schmerz, blutiger Schaum stand vor dem Maule, die Rückenhaare waren gesträubt, die Haltung geduckt, wie zum Sprunge. Noch im Todeskampfe schien es den einzig sichtbaren Angreifer, den Trapper, überfallen zu wollen.

Jack Peppers stand unbeweglich. Die Keule hielt er etwa in der Höhe seiner Augen, die Blicke waren fest auf das brüllende Raubtier gerichtet. Carry und Happy bellten immerfort um die Wette, — es schien, als dränge sich die Entscheidung des ganzen Unternehmens zusammen in diese eine Minute.

Dann wagte der Jaguar den Sprung, welcher ihm so oftmals zum Siege, zur reichen Beute verholfen hatte; er setzte an, um im Fluge den Trapper zu packen und zu Boden zu reissen. Ein breiter Blutstrom drang aus seiner rechten Seite hervor, die grosse Gestalt schien zu wanken, zu taumeln, sie berührte in einigen Fuss Entfernung vor dem kühnen Jäger den Boden, und nun war, ihr Schicksal besiegelt. Ein wuchtiger Hieb mit der Keule — und das Tier brach zusammen.

Aus den nächsten Gebüschen kamen die Neger herbei, um in ihrer kindischen Weise den toten Feind zu umtanzen und ihn zu verhöhnen. Auch die beiden Knaben erschienen, endlich Mr. Manfred Trevor, — wo aber blieb der Gutsherr?

„Onkel Charles!“ rief Lionel.

Keine Antwort.

„Onkel Charles, wo bist du? Wir suchen dich!“

Es blieb wieder alles still, auch der Trapper und Hermann riefen, so laut sie konnten, aber ganz umsonst, nichts regte sich, keine Stimme gab Antwort.

Lionels Herz fing an schneller zu schlagen. „Onkel Manfred,“ bat er, „rufe du doch auch! — Hast du denn nicht gesehen, wo Onkel Charles Stellung nahm?“

Mr. Trevor zuckte zusammen. „Ich?“ rief er. „Ich? Junge, wie kommst du darauf?“

Ehe Lionel antworten konnte, erklang aus einem der entfernteren Teile des Schilfes das laute Geschrei eines Negers, schwarze Hände hoben sich angstvoll in die Luft empor, ein schwarzes Gesicht sah kläglich hinüber zu der Gruppe weisser Männer. „O Mr. Charly! Mr. Charly! — Er ist tot!“

Lionel schrie laut auf. „Tot! — Barmherziger Gott, er sollte tot sein?“

Hermann war sogleich aufgesprungen und zur Unglücksstätte geeilt, ihm folgten Jack Peppers und Lionel, ebenso die übrigen Neger. Leise hoben liebevolle Hände die regungslose Gestalt des Gutsherrn vom Boden, leise trug man ihn auf den freien Platz hinaus und legte den Körper auf das Moos unter den Bäumen.

Jack Peppers bog Rock und Hemd zur Seite. Aus einer kleinen, blauschwarz erscheinenden Wunde in der Brust sickerte das Blut, die Augen waren fest geschlossen, das ganze männlich schöne Antlitz trug den Ausdruck eines tiefen, erschütternden Grames.

Lionel stand mit krampfhaft gefalteten Händen, unfähig zu sprechen, ja auch nur zu denken, — das plötzlich hereingebrochene entsetzliche Schicksal hatte ihn vernichtend getroffen.

Der Trapper untersuchte sorgfältig die Wunde. Sein Kopfschütteln, seine Blicke zeigten den Umstehenden deutlich genug, dass keinerlei Hoffnung vorhanden sei, dennoch sagte Jack Peppers mit leiser Stimme: „Das Leben ist noch nicht ganz entflohen, vielleicht hört uns auch der arme Mr. Trevor noch, also bitte, Gentlemen!“ — —

Und eine Handbewegung vollendete den Satz.

Lionel sank, aufgelöst in den bittersten Schmerz, neben dem Körper seines Wohltäters auf die Knie. „Onkel Charles!“ flüsterte er, halb erstickt von Tränen, „Onkel Charles, sieh mich doch noch ein einziges Mal an!“

Und als habe die Stimme des Knaben den Schleier einer todesähnlichen Erstarrung zerrissen, ging durch die Glieder des Sterbenden ein leichtes Zucken. — Die fest geschlossenen Augen öffneten sich langsam, der Blick suchte voll Zärtlichkeit den des Knaben, sekundenlang, — dann heftete er sich fest auf das blasse Antlitz des Mannes, der seinen Platz an dem alten Baumstamm immer noch nicht verlassen hatte, der die Wimper gesenkt hielt, als wolle er nicht sehen, was um ihn her vorging.

Der Sterbende sah ihn unausgesetzt an. Ueber die erbleichten Lippen kam kein Laut, aber das Auge zeigte klares Bewusstsein. Mit äusserster, letzter Anstrengung hob er die Hand und deutete auf Mr. Manfred Trevor, dann umschleierte sich der Blick, matt sank der Arm in das Moos, und alles war vorüber.

„Er ist tot!“ sagte leise der Trapper. „Friede seiner Seele!“

Lionel schluchzte laut. Er hatte mit beiden Armen die Brust seines Wohltäters umklammert, er konnte nicht glauben, dass so jählings für alle Zeit geschieden sein sollte.

„Wir haben hier nichts mehr zu tun,“ sagte seufzend der Trapper. „Ermannen Sie sich, junger Herr, wir müssen jetzt den Heimweg antreten.“

Er hob zaudernd und mitleidig den weinenden Knaben empor, dann nahm er das seidene Halstuch ab und band es dem Toten über das Gesicht. Vier Neger mussten nach seiner Anleitung aus Baumstämmen eine Bahre anfertigen, und die Leiche wurde behutsam darauf gelegt. Jack Peppers beeilte sich, den Kadaver des getöteten Tieres seiner bunten Haut zu entkleiden. In wenigen Minuten war die Arbeit vollendet, ein Neger erhielt das Fell, um es zu tragen, und nun setzte sich der traurige Zug in Bewegung.

Einige Neger wurden vorausgeschickt, um die Pferde und die Zeltstangen herbeizuholen. In der warmen Sommerluft musste der Tote spätestens am dritten Tage beerdigt werden, — man hatte keine Zeit zu verlieren.

Jack Peppers leitete das Ganze, er liess den Knaben still vor sich hinweinen und hörte nicht an, was ihm Mr. Manfred zuweilen sagte. Dieser letztere hatte jetzt seine Besonnenheit wiedergefunden, er schien ruhig und wiederholte wohl zehnmal, dass ihn das Unglück in eine Art von Betäubung versetzt habe. „Mein armer Charles!“ sagte er seufzend. „Ein so biederer Charakter, ein so guter, vortrefflicher Mensch! Wie grossmütig behandelte er das schwarze Gesindel, und doch hat ihn einer dieser Elenden erschossen.“

Der Trapper lächelte seltsam. „Das glaube ich nicht, Sir!“ versetzte er.

„Nein? Aber wer hätte es denn sonst tun sollen?“

„Ob auch kein Menschenauge den Finger gesehen hat, Sir, als er sich gegen den Hahn der Büchse krümmte, um die Mordkugel zu entsenden, so wird doch über diese Geschichte einmal abgerechnet, wenn das Soll und Haben der Menschheit zum Ausgleich kommt. So denke ich wenigstens!“

Damit liess er den Gentleman stehen und schnürte mit eigenen Händen die Leiche in das Leinentuch des Zeltes, dann wurde die Bahre auf den Rücken zweier Pferde befestigt, und mehrere Neger wurden beauftragt, die Tiere zu führen.

Da man mit den Leuten in jeder Stunde wenigstens einmal wechselte und die nötigen Mahlzeiten im Sattel einnahm, so gelang es, gegen Abend Seven-Oaks zu erreichen, — genau zu jener Stunde, in welcher der Gutsherr als glücklicher Schütze zurückzukehren gehofft hatte.

Philipp hatte mit dem Negerknaben Toby und der alten schwarzen Köchin Cassy einen Riesenkranz gewunden und über dem Portal des Hauses befestigt. „Willkommen“ stand mit grosser schöner Schrift darin; überall brannten rings an den Wänden bunte Papierlaternen, die der verkrüppelte Knabe mit eigenen Händen angefertigt hatte.

Da begann im Hof einer der Hunde zu bellen, und Toby horchte plötzlich auf. „Das ist Diana, sie hört auf eine halbe Meile jeden Ton! Die Jäger kommen nach Hause, Massa Fili, sie kommen mit dem bunten Fell! Hurra! Hurra!“

Wirklich erklangen Hufschläge, und wenige Minuten später hielt ein Neger vor dem Portale. Sein Zuruf alarmierte das Haus, binnen Sekunden wussten alle Bewohner, was geschehen war, und klägliches Weinen und Jammern durchschallte die Räume. Mr. Charly tot! Mr. Charly, der gütigste Gebieter in ganz Virginien! O, nun hatte der liebe Gott die armen Schwarzen verlassen, nun brach das Unglück über sie herein.

Wie versteinert stand Philipp. Onkel Charles tot! Der Schmerz betäubte ihn fast.

Und dann hielt, nur von dem Bellen der Hunde empfangen, der Reiterzug. Die weinenden Neger hatten sich vor der Tür zusammengedrängt, es waren Fackeln angezündet worden, und schweigend hoben mit schonender Hand die vertrautesten Diener des Heimgegangenen seine Leiche von der Bahre, auf der sie immer noch lag.

Ralph hatte sich, tapfer seinen Schmerz verbeissend, dem Adoptivsohn des Hauses genähert, er legte sanft die Hand auf Lionels Knie. „Wollen Sie nicht in das Haus kommen, Sir? — Ach bitte, sprechen Sie doch ein Wort, weinen Sie wenigstens, — aber nicht dieses erstarrte, todblasse Gesicht!“

Auch Philipp trat hinzu, er streckte erschüttert beide Hände aus. „Lionel, mein armer Lionel, Gott helfe uns das schreckliche Unglück tragen.“

Lionel schwankte im Sattel, ohne Ralphs kräftige Arme wäre er vielleicht gefallen. „Tot!“ murmelten die bleichen, zuckenden Lippen, „tot! O Philipp, er, der mein einziger Freund war, mein Wohltäter und Beschützer!“

Ein unerklärliches Etwas schnürte Philipps Kehle zusammen, er begnügte sich, Lionels Hand zu drücken und ihn der Fürsorge Ralphs zu überlassen, dann, nachdem die Leiche in das beste Zimmer des Hauses getragen worden war, suchte er seinen Vater, um womöglich über das geschehene Unglück etwas Näheres zu erfahren.

„Wie kam es, dass Onkel Charles erschossen wurde?“ fragte er.

Mr. Manfred zuckte die Achseln. „Einer der schuftigen Neger natürlich! Die Halunken haben niemals Peitschenhiebe geschmeckt, daher sind sie übermütig geworden.“

Philipp schüttelte den Kopf. „Ich wüsste keinen einigen, dem ich eine derartige Schandtat zutrauen möchte, Papa. Die armen Leute hatten alle ihren Gebieter von Herzen lieb.“

Mr. Trevor lächelte spöttisch. „Lassen wir das jetzt, Philipp! Der Verstorbene erwacht nicht wieder, auch wenn wir ihn noch so aufrichtig betrauern, — es ist also an der Zeit, unsere eigene Lage zu überdenken. Du bist der Erbe von Seven-Oaks, mein lieber Junge!“

Philipp sah auf. „Ich, Papa? — O nein!“

„Doch Kind, doch. Ich bin ein Vetter des Verstorbenen, unsere Väter waren Brüder, aber du stehst ihm in der Verwandtschaft noch um einen Grad näher, denn deine Mutter war seine Schwester. Ich wiederhole dir, du bist der rechtmässige Erbe von Seven-Oaks, natürlich mit der Beschränkung, dass ich, als dein Vater, bis zu deiner Majorennität das Vermögen für dich verwalte.“

Philipp schüttelte den Kopf. „Das mag ja alles sein, wie du sagst, Papa, wenigstens dem Gesetze nach, aber doch muss die Farm Lionels Eigentum werden, denn Onkel Charles hätte sie ihm vermacht, wenn —“

Ein flammender Zornblick traf den Knaben. „Unsinn!“ herrschte Mr. Trevor. „Lass mich derartige Worte von dir nicht nochmals hören, Philipp.“

„Sie sind aber doch die Wahrheit, Papa! Du kannst unmöglich beabsichtigen, den armen Lionel jetzt schutzlos in die Welt hinauszustossen.“

Ein höhnisches Lächeln kräuselte Mr. Trevors Lippen. „Schutzlos?“ wiederholte er. „Nein, mein guter Philipp, das wird nicht geschehen.“

Und dann ging er fort. Es gab zahllose Anordnungen zu treffen, man musste einen Boten zum Arzt schicken, einen anderen zum Friedensrichter, die Leiche wurde gewaschen und einstweilen bis auf weiteres im Salon aufgebahrt. Als der Leichenbeschauer kam, unterzog er sämtliche Mitglieder der Jagdgesellschaft einem vorläufigen Verhör, dann schloss man die Haustür, und alle Lichter erloschen. Hermann war nach schneller Uebereinkunft mit Lionel und Philipp in dem Wagen des Arztes zur Stadt zurückgefahren, er wollte aber in den nächsten Tagen wiederkommen und an dem Begräbnis des Gutsherrn teilnehmen.

Alles im Hause war todesstill, die Neger sassen in ihren Hütten und schluchzten, die Hausdiener kauerten stumm, voll Grauen in der Küche. Mr. Trevor hatte im oberen Stock sein Zimmer neben dem Schlafgemache des verstorbenen Gutsherrn, während dieses letztere wieder von einem kleinen, auf den Garten hinausgehenden Arbeitskabinett begrenzt wurde. Mit lautlosen Schritten gehend, erreichte der blasse, scheue Mann die beiden äusseren Türen, welche er verschloss, dann wurde mit der Matratze des Bettes das einzige Fenster im Kabinett sorgfältig verhüllt; Mr. Manfred überzeugte sich vom Schlafzimmer aus, dass kein Strahl der Lampe den Garten erreichen könne.

Ohne Stiefel auf den dichten Teppichen von Ort zu Ort schleichend, untersuchte Manfred Trevor alle Behälter in den Zimmern seines verstorbenen Vetters, um das versteckte Testament zu finden. Dieses Blatt musste er vernichten, ehe morgen die Behörde einschritt und vielleicht alles auf Lionels Aussagen hin unter Siegel legte.

Hier war der Schrank, in dem die Kleider hingen; Manfreds heisse Fingerspitzen tasteten überall umher. Kein Geheimfach? Kein doppelter Boden?

Nichts, gar nichts.

Jetzt kam das Arbeitszimmer an die Reihe. Sämtliche Schlüssel hatten sich in den Taschen des Toten befunden, er öffnete den Schreibtisch und sah hinein. Da lag Geld in einer kupfernen Schale: Gold — Tausende, ausserdem Banknoten in Stapeln, ein Buch, in welchem der Stand des Vermögens genau verzeichnet war.

Es griff wie mit Krallen in das Herz des verbrecherischen Mannes. Wenn er das Testament nicht auffand, so war alles verloren, alles; ein Fremder, ein Sohn der verachteten Rasse, erhielt das kolossale Erbteil.

Die fieberheisse Hand suchte und suchte. Auch hier kein geheimes Versteck?

Doch — ja! Der kleinste Schlüssel am Ring passte in ein Schloss, das nur der Blick des genauesten Beobachters entdecken konnte. Ein Fach sprang auf, ein versiegeltes, umfangreiches Paket fiel in die Hände des Suchenden. „Mein Testament“ stand auf der Vorderseite.

Manfred Trevor riss das Siegel ab, er sah heissen Blickes hinein in das eng beschriebene Dokument. Zuerst eine Namenliste von stattlicher Länge, — Jimmy und Billy und Lizabeth und Mary, wie die Schwarzen alle hiessen: von Ralhp, dem Vertrauten des Gebieters, bis zum letzten Stalljungen waren sie alle durch notarielle Akte in Freiheit gesetzt. — Ein satanisches Lächeln umspielte Mr. Trevors Lippen. Nie sollte irgendeines Menschen Auge diese Liste sehen.

Er steckte das Blatt zu sich. Gegen zweimalhunderttausend Dollar! Wer verschenkt sie wie den Cent, den der Bettler am Wege erhält? — — Wahrlich, er nicht!

Das Testament erklärte Lionel zum Erben von Seven-Oaks. Für Philipp war ein Kapital ausgeworfen, für ihn selbst, den Vetter und Schwager des Verstorbenen, nur der Genuss einer lebenslänglichen Rente, während das Vermögen, aus welchem diese bezogen wurde, nach seinem Tode dem Haupterben wieder zufiel.

Mr. Trevor schnitt eine Grimasse. „Wahrhaftig, eine fabelhafte Grossmut!“ zischte er. „Tausend Dollar jährlich, indes der Bursche, der Lionel, das zwanzigfache dieser Summe erhalten soll. Es ist nötig, ein wenig Vorsehung zu spielen.“

Er ordnete im Pulte jeden Gegenstand, liess Geld und Banknoten unberührt an ihrem Platze liegen und verschloss das Möbel, um dann die Schlüssel in eine Kassette zu werfen. Zuerst trug er die Lampe in sein eigenes Zimmer, darauf löste er die dichte Verhüllung des Fensters. Ein vorsichtiger Rundblick überzeugte ihn, dass der frühere Zustand in allen Punkten genau wiederhergestellt sei. Freier atmend, schloss er leise die Tür, verbarg die Papiere in seiner Brieftasche und sank schwer in den Sessel, der vor seinem Bette stand.

Lionel Forster, der Quarteron. Eine Geschichte aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg

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