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WER IST DAS ÜBERHAUPT: EIN JUDE?

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DIE FRAGE ist ganz einfach zu beantworten: Das weiß niemand. Nicht einmal in Israel, das sich als der Staat der Juden definiert, ist man sich darüber im Klaren. Nur die Antisemiten haben es sich immer schon leicht gemacht. So meinte Wiens legendärer Bürgermeister Karl Lueger (von 1897 bis 1910): „Wer ein Jud is, das bestimm ich!“ Und andere Judenhasser glaubten, Juden am Geruch oder an der Nase erkennen zu können. Alle schienen es zu wissen, nur die Juden selbst nicht.

Die bis in die 1960er-Jahre gültige Definition lautete: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren oder vor einem orthodoxen Rabbiner zum Judentum übergetreten ist. Die Konversionen fallen dabei kaum ins Gewicht und machen weltweit nur rund ein Prozent aus.

Der Umstand, dass die Mutter – und nicht wie in den meisten anderen Kulturen der Vater – für die religiöse Zugehörigkeit eines Kindes zuständig ist, zeigt die praktische Denkweise im Judentum. Denn „mater certus, pater semper incertus est“ sagt der Lateiner, der damit ausdrückt: Wer die Mutter eines Kindes ist, ist immer sicher; wer der Vater ist, hingegen nicht. Diese Definition nach der Mutter trägt aber auch noch die Komponente einer sozialen Verantwortung für die Frauen in sich. Wird eine Frau nach einer Vergewaltigung schwanger, dann wird diese häufig – und das nicht nur im Orient – aus der Gemeinschaft ausgestoßen und bleibt schutzlos zurück. Im Judentum hingegen verbleibt sie mit ihrem Kind im Schutzbereich der Familie und damit auch im Volk. Was der Ausschluss aus einer Gesellschaft bedeutet, in der die Familie – und nicht ein säkularer Staat – das soziale Netz bildet, kann man sich vorstellen.

Die Bedeutungslosigkeit des Mannes in dieser Frage verkehrt sich in den letzten Jahrzehnten allerdings gegen das Judentum: Viele Juden in den USA, die nur eine geringe Bindung an ihre Herkunft und Religion haben, ehelichen auch Nichtjüdinnen, deren gemeinsame Kinder dann freilich keine Juden mehr sind. Das bedeutet für ein kleines Volk einen erheblichen Aderlass. Deswegen gibt es auch immer wieder Vorstöße von Politikern, auch jene Kinder als Juden anzuerkennen, bei denen nur die Väter, nicht aber die Mütter jüdisch sind. Aber bislang war diesen Bemühungen kein Erfolg beschieden – zu restriktiv denken die religiösen Parteien und die wichtigen Rabbiner des Landes.

Nach dem Schock der Shoa war es für den 1948 gegründeten Staat Israel ein zentrales Anliegen, Juden aus der ganzen Welt die Einwanderung zu ermöglichen und ihnen die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Israel brauchte die Zuwanderer auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den arabischen Nachbarn und die heimatlosen Menschen aus dem Nachkriegseuropa nahmen die Einladung gerne an. In dieser Situation kümmerte man sich wenig um die Frage „Wer ist ein Jude?“, die es zwischen Religionszugehörigkeit und Nationalität zu beantworten galt.

Es war ausgerechnet der 1922 in Polen geborene Jude Oswald Rufeisen, der den jungen Staat mit seiner Einwanderung im Jahre 1959 in Verlegenheit brachte. Rufeisen war nämlich vom Judentum zum Christentum konvertiert und Karmelitermönch geworden. Dies veranlasste den Einwanderungsbeamten, ihn nicht mehr als Juden einzustufen. Und als solcher fiel Rufeisen nicht mehr unter das „Gesetz der Rückkehr“, das jedem Juden weltweit die Möglichkeit der Einwanderung gewährt und damit auch automatisch die israelische Staatsbürgerschaft zugesteht. Rufeisen widersprach dieser Sichtweise, denn als geborener Jude habe er das Recht zur Immigration. Zudem hatte er den moralischen Bonus auf seiner Seite, denn er, der perfekt Polnisch, Deutsch und Russisch sprach, war unter den Nazis Dolmetsch und konnte so 1942 mehr als 300 Glaubensgenossen im Ghetto von Mir (Weißrussland) das Leben retten. Rufeisen verklagte den Staat Israel, was das Land in eine tiefe Staatskrise stürzte. Am Ende verlor er zwar den Prozess, aber er bekam die Staatsbürgerschaft dennoch verliehen. Und Israel ergänzte die ursprüngliche Definition (Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde) um den Zusatz „und wer keiner anderen Religionsgemeinschaft angehört“.

War Rufeisen, dessen Biografie von der russischen Literatin Ljudmila Ulitzkaja unter dem Titel „Daniel Stein“ erschienen ist, noch ein Einzelfall, so sollte die Frage in den Jahren nach dem Zusammenbruch der UdSSR noch viel virulenter werden. Denn damals wanderten rund 1,4 Millionen Russen in Israel ein, von denen rund eine Million eine jüdische Mutter hatten. Etwa 350.000 Einwanderer hatten aber nur einen jüdischen Vater oder andere jüdische Vorfahren, was zur Einwanderung nach Israel zunächst ausreichte. Sie wurden, auch wenn sie keine Juden waren, Israelis, bekamen die Staatsbürgerschaft, zahlten Steuern und leisteten den Militärdienst ab. Sie waren Staatsbürger, denen nur eine Sache verwehrt blieb: zu heiraten. Das Standesregister liegt nämlich ausschließlich in den Händen der Rabbiner und diese können wiederum niemanden verheiraten, der nicht nach dem Religionsgesetz ein vollwertiger Jude ist. Und eine säkulare Eheschließung gibt es nicht. In Israel findet man aber aus jedem Schlamassel einen Ausweg: Man fährt nach Zypern oder auch nach Las Vegas, heiratet dort und lässt zu Hause seine Ehe anerkennen.

Die nicht geklärte Frage „Wer ist ein Jude?“ hat neben der privaten Dimension auch noch politische Aspekte. Wenn es ein demokratischer Staat nicht schafft, den einzelnen Bürger zu definieren, dann kann er auch die Summe seiner Bürger nicht umschreiben. Das hat dazu geführt, dass der Judenstaat bis heute noch immer keine Verfassung hat, in der auch die Landesgrenzen definiert würden. Das wiederum lässt viele Araber befürchten, dass sich der Judenstaat im gesamten Gebiet zwischen Euphrat und Nil ausbreiten könnte. Indiz dafür sei die Flagge, die ober- und unterhalb des Davidsterns zwei blaue Linien zeigt. Araber sehen in diesen Linien die beiden Flüsse symbolisiert. Tatsächlich ist die Flagge aber dem jüdischen Gebetsschal, dem Tallit, nachempfunden.


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