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SIND JUDEN INTELLIGENTER ALS NICHTJUDEN?

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HÄUFIG, WENN ich auf die großen Leistungen des Staates Israel oder auch auf jene der Juden in der Geschichte verweise, wird dies mit „Kein Wunder – die sind doch intelligenter als wir!“, kommentiert. Und jedes Mal beschleicht mich ein Unbehagen, denn nie kann ich mir sicher sein, ob dies ein Ausdruck der Wertschätzung und Bewunderung oder ein von Neid beseelter Ausdruck einer antijüdischen Gesinnung ist.

Betrachtet man die Vergabe der Nobelpreise seit dem Jahr 1901 als Gradmesser für die allgemeine Intelligenz eines Volkes, so ist die jüdische Überlegenheit offenkundig, denn etwa ein Drittel aller Preisträger waren beziehungsweise sind Juden. Exakter: Es waren bislang 15, die ihn für Literatur erhielten und neun, die sich für ihre Bemühungen um den Frieden in dieser Welt verdient machten. 35-mal ist die höchste Auszeichnung dieser Welt jüdischen Chemikern, 54-mal Physikern, 27-mal Wirtschaftswissenschaftlern und gar 57-mal Medizinern verliehen worden. Zum Vergleich: Bislang wurde der Preis erst elf Muslimen zuerkannt, dazu kommen noch zwei arabische Christen. Stellt man die Bevölkerungszahlen gegenüber, dann wird die Diskrepanz noch deutlicher. 1,6 Milliarden Muslime stehen gerade einmal 15 Millionen Juden gegenüber.

Die Zahlen sind unbestritten, deren Interpretation ist es nicht. Rechte, aber auch linke antisemitische Kreise im Westen, vor allem aber manche Muslime sehen darin eine biologische Überlegenheit der jüdischen Kultur, die es zu bekämpfen gilt. Diese ziele darauf ab, andere Völker zu unterjochen, auszubeuten, zu versklaven. Sie argumentieren vermutlich aus einem kulturellen Minderwertigkeitsgefühl heraus. Zum Vergleich: Seit dem Jahr 1901 gab es je einen muslimischen Preisträger in Chemie und Physik, zwei weitere im Bereich der Literatur und sieben für den Frieden.

Als ich den bekannten israelischen Historiker Yehuda Bauer fragte, ob Juden intelligenter seien als Nichtjuden, lachte er laut auf und antwortete kurz und entschlossen: „Nein, das sind sie nicht.“3 Die Ergebnisse der Intelligenzforschung würden das klar belegen, einzig das Wissen habe sich ganz anders entwickelt. Dessen Grundlage wiederum sei das Lernen. So habe es bei den Juden nie Analphabetismus gegeben, auch bei den Frauen nicht. Bauer: „Im Gegensatz zur christlichen Welt, wo der Priester Texte vorlas und das Volk nur vorformulierte Kurzantworten gab, haben im Judentum Männer und Frauen die Thora und die Gebetbücher immer selbst gelesen.“4 Es ist eine etwa 2500-jährige Lehrtradition, die auf das Deuteronomium (6,4 ff) zurückgeht, wo es heißt: „Du sollst deine Kinder belehren.“ Zumindest dreimal am Tag, wenn Juden das „Schma Israel, Adonai Eloheinum Adonai Echad“, das „Höre Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig“, erklären, sprechen sie auch davon, ihren Kinder Wissen zu vermitteln. Schon in der Zeit des babylonischen Exils begriff das Volk Israel, dass es nur überleben würde, wenn es seine Traditionen aufrechterhält. Die beste Methode, diese weiterzuführen, bestand darin, sie zu studieren und zu lehren.

Die Lehrtradition im Christentum ist wesentlich jünger. In Österreich geht sie auf den 6. Dezember 1774 zurück, als Maria Theresia für alle habsburgischen Länder die „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen“ erließ. Wie wenig das Gesetz befolgt wurde, zeigt sich am Beispiel des 100 Jahre später geborenen steirischen Schriftstellers Peter Rosegger, dessen Werke immerhin in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Der zu seiner Zeit (1843–1918) hoch angesehene Literat war zwar sechs Jahre bei einem Wanderlehrer eingeschrieben, er besuchte den Unterricht aber nur gelegentlich, weil er am elterlichen Hof arbeiten musste.

Auf Rosegger, der geradezu privilegiert war, traf zu, was der Schriftsteller Amos Oz (1939–2018) und seine Tochter, die Historikerin Fania Oz-Salzberger, in dem Buch „Juden und Worte“ beschreiben: „Während in anderen Kulturen die Buben der Obhut ihrer Mütter überlassen wurden, bis sie alt genug waren, einen Pflug zu ziehen oder ein Schwert zu schwingen, begann bei den Juden die Akkulturation der jungen Generation in die alte Überlieferung, sobald die Knirpse mit etwa zwei Jahren Wörter verstehen und nicht selten im Alter von drei Jahren auch lesen konnten. Der Unterricht begann, kurz gesagt, bald nach dem Abstillen.“5

Die Knaben gingen ab dem dritten, spätestens ab dem fünften Jahr in den Cheder, wo ihnen der Lehrer die hebräische Schrift und Sprache an Hand von Bibeltexten beibrachte. Mit acht, neun Jahren, konnten die begabteren Buben bereits ganze Teile der Tora auswendig. Danach folgte die höhere Stufe, jene der Kommentierung der Bibel. Dabei wurden die Kinder in den Disziplinen Erinnern, Lernen und Disputieren unterrichtet. Die Begabteren setzten das Studium in einer Torahochschule, einer Yeshiwa, fort. Und das ist kein leichtes Studium, denn der Tag beginnt um 7.00 Uhr und endet kaum vor 23.00 Uhr. In einem Artikel in der „Jüdischen Allgemeinen“ bekennt ein Gastautor: „Viele können sich kaum eine Vorstellung davon machen, wie schwierig und hart und intensiv das Talmudstudium ist. Nichts von dem, was ich an der Universität durchgemacht habe, ist vergleichbar mit den hohen Ansprüchen des Torastudiums und der Disziplin, die es fordert. Darin liegt einer der Gründe für die Tatsache, dass so viele, die durch diese harte Lehre gingen, es draußen in der Welt, im beruflichen und wirtschaftlichen Wettbewerb, so weit bringen.“6

Bei diesem Studium in einer Yeshiwa wird den jungen Männern beigebracht, wie man vom Kleineren auf das Größere schließt und wie es geht, dass man von der allgemeinen Situation Rückschlüsse auf besondere Lebensumstände zieht. Zentrales Anliegen war es auch, immer wieder Fragen zu stellen. So entstand eine dialogische, ironische, in sich immer wieder gebrochene Welt des Denkens, deren Ziel nicht die Anhäufung von kognitivem Wissen, sondern die intellektuelle Beweglichkeit war. Freilich: Dafür bedarf es auch eines besonderen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler. Der Lehrende ist – so klug er auch sein mag – nicht die unangreifbare Autorität. Ganz im Gegenteil: „Die jüdische Tradition gestattet, ja ermutigt den Schüler, sich gegen den Lehrer zu stellen, ihm zu widersprechen und bis zu einem gewissen Punkt darzulegen, dass er unrecht hat. Das ist bis zu einem gewissen Grad der Schlüssel zur Erneuerung“7 befinden Oz und Oz-Salzberger. Das Schüler-Lehrer-Verhältnis besteht also nicht in einer hierarchischen Abhängigkeit, sondern in einem wechselseitigen, gemeinsamen Lernprozess. Und so wird von jedem 13-jährigen Juden, der seine Bar Mitzwa feiert, erwartet, dass er einen „chidusch“, eine neue Erkenntnis bei der Interpretation der ihm vorgelegten Torastelle, beisteuert. Er soll etwas Neues herausfinden und nicht bloß Altbekanntes wiedergeben. Und die einzigartige Besonderheit daran: Er darf mit seinen Ideen auch falsch liegen, ohne sofort zurechtgewiesen zu werden. Dies nimmt die Angst vor Fehlentscheidungen und gesellschaftlichen Verurteilungen. Die Tradition der jahrhundertealten Lernpraxis führte auch dazu, dass Israel eine höchst erfolgreiche Start-up-Nation ist. Amos Oz weist darauf hin, dass das Judentum stets „eine Kultur des Zweifels und der Diskussion gepflegt hat, ein offenes Spiel der Deutungen und Gegendeutungen, Umdeutungen und widersprüchlicher Deutungen. Die jüdische Zivilisation zeichnet sich von Anfang an durch ihre Streitlust aus.“8

Grundlage dieses Lernens sind die Bücher. Weit vom Jerusalemer Tempel entfernt, zerstreut in alle Welt, blieben den Juden nur die Bücher. Juden hatten keine Reliquien, keine apostolische Erbfolge, keine Heiligenstatuen oder Bilder – alles, was ihnen blieb, waren Bücher. Wenn Juden bei Pogromen um ihr Leben rannten, aus dem brennenden Haus oder der brennenden Synagoge flüchteten, nahmen sie stets das Wertvollste, ihre Kinder und ihre Bücher, mit.

Das Wort ist also der Schlüssel zur Kontinuität im Judentum. Juden tragen ihren Gott in Form der Tora bei sich. Heinrich Heine spricht in diesem Zusammenhang vom „portablen Gott“. Texte und Bücher sind es auch – bei aller Unterschiedlichkeit der Interpretationen –, die das Judentum zusammenhalten. So treffen sich ein Jude aus Buenos Aires, einer aus Novosibirsk und ein deutscher Jecke, bei aller Verschiedenheit, die ein Russe, ein Argentinier und ein Deutscher aufweisen, doch auf einer gemeinsamen Ebene. Auf der Basis der gemeinsamen Kultur, die von den gemeinsam gelesenen Büchern ausgeht. Diese Kultur mag widersprüchlich sein, aber es bleibt dennoch dieselbe Kultur.

Lust an der intellektuellen Auseinandersetzung, aber auch der den Juden eigene Humor, bringen einen besonderen Charakterzug hervor: die Chuzpe. Unter Chuzpe versteht man eine Mischung aus intelligenter Unverschämtheit, Charme und unwiderstehlicher Dreistigkeit. So nehmen Juden Könige und Rabbiner, Glaubensgenossen und Andersgläubige aufs Korn und machen dabei selbst vor Gott nicht halt. Das wiederum bedeutet: Es gibt keine Tabus im Denken. Ein Beispiel: Ursprünglich galt Gott als alleiniger Schöpfer. Seit der Erschaffung von Adam und Eva kann er aber nicht mehr allein agieren. Adam und Eva sind zu zweit, Gott steht allein. Auch sind seine Gebote „nicht mehr im Himmel“, wie es im Buch Deuteronomium (30,11) heißt. Das wiederum befähigt die numerische Mehrheit der Juden gegenüber dem einen Gott über die Tora und deren Interpretation allein zu entscheiden. Bei so viel Chuzpe fragen sich die Juden natürlich: Was denkt Gott über seine Entmachtung? Die Antwort kann man im Talmud nachlesen: „Rabbi Nathan begegnete dem unsterblichen Propheten Elia und fragte ihn: ,Was tat der Heilige, gelobt sei Er, zu eben jener Stunde?‘ Er antwortete: ,Er lachte und sprach: Meine Kinder haben mich besiegt.‘“

Wenn fromme Juden lernen, dann geht es nicht darum, jüdische Geschichte nach rein objektivierbaren Kriterien zu begreifen, sondern es geht „um ein Wissen, bei dem das Schaffen des Menschen dargestellt und zugleich ein Gespür für eine göttliche Gegenwart vermittelt wird“, legen Oz und Oz-Salzberger dar. Lernen sei also Gottesdienst und Gottesdienst sei immer auch Erkenntnisgewinn.

Nach diesem Exkurs sollte klar sein: Die hohe Zahl der Nobelpreisträger beruht nicht auf Chromosomen, sondern auf einer jahrhundertealten Tradition des Lernens. Eines Lernens, das nicht als notwendige und zeitweilige Beschäftigung gesehen wird, die später vom „richtigen Leben“ abgelöst wird. Lernen ist im Judentum existenziell.


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