Читать книгу Unter Verdacht - Der vierte Fall für Mark & Felix - Sören Prescher - Страница 6

2

Оглавление

Vom Stadtpark aus waren es selbst zur Spätmittagszeit nur wenige Fahrminuten bis zum Präsidium am Jakobsplatz. Der Verkehr hielt sich in Grenzen, was Mark sehr gelegen kam. Er nutzte die Zeit, um über die Freisprecheinrichtung des Handys Olaf anzurufen. Sein Dienstgruppenleiter war nach dem ersten Klingeln am Apparat und freute sich, dass Mark so rasch anfangen konnte. „So schnell hatte ich ehrlich gesagt gar nicht damit gerechnet. Aber schön, dass es geklappt hat. Halte mich über den Fall bitte auf dem Laufenden. Wenn du irgendwas brauchst oder auf unerwartete Schwierigkeiten stößt, gib mir Bescheid. Vielleicht kann ich etwas tun.“

„Werde ich machen. Gibt es schon Infos, wann Dominik dem Haftrichter vorgeführt wird?“

„Bisher nicht. Wahrscheinlich sind noch alle dabei, die Fakten zusammenzutragen. Besonders eilig wird es die Staatsanwaltschaft vermutlich nicht haben. Außer es ist irgendein jungdynamischer Durchstarter, der sich unbedingt profilieren will. Dazu habe ich noch nichts gehört. Irgendwann im Laufe des Tages wird es wohl soweit sein. Ansonsten passiert es morgen. Du kennst ja die Strafprozessordnung; der Festgenommene muss spätestens am Tag nach der Festnahme dem Richter vorgeführt werden.“

„Vielleicht haben wir Glück. Die Festnahme könnte für ungültig erklärt werden oder Dominik wird für die Dauer der Ermittlungen erst mal nur suspendiert.“

„Darauf würde ich nicht wetten. Wie gesagt, die Beweislage ist ziemlich eindeutig. Sofern du nicht auf die Schnelle ein echt gutes Kaninchen aus dem Hut zaubern kannst, wird sich Dominik auf einige Zeit im Café Viereck einstellen müssen. Kannst ja später mal in der Bärenschanzstraße vorbeischauen.“

Mark bog mit seinem Passat von der Pirckheimer Straße aus links in die Bucher Straße ab und folgte dem Berg hinauf in Richtung Kaiserburg. Grelles Sonnenlicht strahlte ihm entgegen und raubte ihm für eine Sekunde die Sicht. „Hatte ich ohnehin vor. Das ist alles ein Riesenhaufen Bockmist.“

„Wem sagst du das? Zurzeit ist gerade ziemlich wenig los in der Stadt. Wenn wir Pech haben, dreht uns die Presse dafür durch den Fleischwolf. Dass ein Polizist wegen Mordverdacht einsitzt, dürfte ein Fest für sie sein. Der Pressesprecher wird diesbezüglich natürlich keine Gerüchte streuen. Der hält uns erst mal den Rücken frei. Trotzdem sickert so was auf kurz oder lang immer durch. Und dann gnade uns Gott.“

Außer ich habe bis dahin schon seine Unschuld bewiesen, lag es Mark auf der Zunge. Er besann sich rechtzeitig eines Besseren. Mit solchen Versprechen oder Behauptungen sollte man immer vorsichtig sein. Insbesondere wenn man sich noch nicht einmal mit den Fallakten vertraut gemacht hatte. Deshalb sagte er lediglich. „Wir sollten uns also ranhalten, damit wir gerüstet sind, wenn die tückischen Fragen kommen.“

„Was das Ranhalten betrifft: Wahrscheinlich würdest du schneller vorankommen, wenn du einen Partner an deiner Seite hättest. Die meisten Kollegen sind zwar mit anderen Fällen beschäftigt und/oder nicht ganz unvoreingenommen, aber eine der Neuankömmlinge vom KDD könnte ich dir zur Seite stellen. Die meisten von denen sind ziemlich auf Zack.“

Mark verzog das Gesicht. Keinen Zweifel, es gab unter den Jungen einige recht fähige Kolleginnen und Kollegen. Jemand, der noch nicht lange als Kommissar arbeitete, würde vermutlich auch nicht viel auf die im Präsidium kursierenden Gerüchte über schrullige bis nervige Oberkommissare geben. Dennoch verspürte Mark wenig Lust darauf, den Babysitter zu spielen und einem unerfahrenen Partner ständig auf die Finger zu schauen. Dafür fehlte ihm jetzt schlichtweg die Zeit. „Erst mal lieber nicht. Wenn ich mit der Arbeit nicht hinterherkomme, melde ich mich. Für den Moment reicht mir die normale Unterstützung durch Spurensicherung, Rechtsmedizin und IT. Mit deren Hilfe bin ich recht gut aufgestellt.“

Dazu kam noch ein weiterer Grund, den Mark jedoch lieber für sich behielt: Normalerweise herrschte unter Polizisten ein uneingeschränkter Korpsgeist. Wenn einer von ihnen Probleme hatte, hielten alle zusammen und ignorierten gelegentlich sogar das eine oder andere Indiz. Hier war das nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil, sein Partner war praktisch unmittelbar nach dem Auffinden der ersten Spuren festgenommen worden. Bloß die Tat eines überkorrekten Beamten … oder steckte mehr dahinter?

Wäre dies hier ein knackiger Krimi von Michael Connelly oder Don Winslow könnte auch irgendein Kollege falsche Beweise am Tatort platziert haben, um Dominik loszuwerden. Sonderlich beliebt war er mit seiner unangepassten Art ja nicht. Allerdings war das Fingieren von Beweisen eine schwere Straftat. Würde jemand tatsächlich solch drastische Mittel ergreifen? Immerhin war es von Auf die Nerven gehen bis zu Er muss weg war es ein gehöriges Stück. Wie Mark aus den Erzählungen seines Partners wusste, war Dominik noch nie nach jedermanns Geschmack gewesen. Sicher gab es etliche, die alles andere als traurig wären, wenn ein gewisser Kriminaloberkommissar mindestens versetzt werden, wenn nicht gar komplett aus ihrem Dunstkreis verschwinden würde. Bis zu einem gewissen Grad konnte Mark diese Ablehnung nachvollziehen. Sein Partner war schwierig, und auch Mark hatte einige Zeit gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Ganz zum Anfang ihrer Partnerschaft hatte es Momente gegeben, da hatte er es ernsthaft in Betracht gezogen, dass Dominik einige Warnschüsse auf ihn abgegeben hatte. Heute wusste er, dass das Unsinn war, und schämte sich, an so etwas überhaupt nur gedacht zu haben. Dennoch bewies diese kurze Phase des Zweifelns deutlich, dass bezüglich Dominik nicht alles ganz so einfach und eindeutig war.

Ob Olaf diese Bedenken teilte oder ob er als Chef so etwas nicht mal denken durfte, wusste Mark nicht. Allein deswegen musste dieser Punkt unausgesprochen bleiben. Vor allem bei einem Gespräch übers Mobiltelefon, das jeder mit der entsprechenden Ausrüstung abhören und mitschneiden konnte, sollte man derlei Dinge nicht offen besprechen. „Okay. Wie du meinst. Ist deine Entscheidung“, lautete dessen knappe Antwort.

Inzwischen hatte Mark den Spittlertorgraben erreicht und wechselte nach links zur Mohrengasse und dahinter die Grillenberger Straße hinauf. Tausendmal war er diese Strecke gefahren, und nie war sie ihm so heikel wie heute vorgekommen. Er hatte keine Ahnung, wie die Beweise gegen Dominik an den Tatort gelangt waren, und konnte deshalb von vornherein nichts ausschließen. Auch nicht, dass andere Kollegen eventuell involviert waren. Gut möglich, dass das zu abwegige Gedanken waren, die eher zu Dominik als zu ihm gepasst hätten. Offenbar färbte die Paranoia seines Partners allmählich auf Mark ab. So oder so, er ermahnte sich, auf der Hut zu bleiben. Man konnte ja nie wissen …

Als das Präsidium in Sicht kam, verabschiedete Mark sich von Olaf und bog auf den Parkplatz im Hinterhof ab. Wie durch ein Wunder gab es einen freien Platz, auf dem er seinen Passat abstellen konnte. Mit Felix an seiner Seite und einem unguten Gefühl in der Magengegend betrat Mark das Gebäude.

Über das Treppenhaus machte er sich auf den Weg in den zweiten Stock, wo sich das Großraumbüro befand, das er sich mit etlichen weiteren Kommissaren teilte. Dominiks und sein Doppelschreibtisch stand im hinteren Teil des Raums, und allein die Strecke dorthin kam Mark sehr, sehr lang vor.

Unterwegs traf er auf etliche Kollegen, die über sein vorzeitiges Auftauchen größtenteils verwundert reagierten. Viele erkundigten sich nach Nathalie und Caro, ganz so, als wäre der gesamte Polizeiapparat eine große glückliche Familie, in der jeder an Freud und Leid des anderen teilnahm. Möglicherweise war dem auch so. Heute allerdings hinterließ es bei Mark einen faden Nachgeschmack auf der Zunge. Deshalb reagierte er etwas einsilbig und zeigte Babyfotos nur all jenen Kollegen, mit denen er sich seit Urzeiten blendend verstand und für die er beide Hände ins Feuer gelegt hätte.

Die Nachricht über Dominiks Festnahme hatte selbstverständlich längst die Runde gemacht. Viele verstanden, dass Mark deswegen früher aus der Elternzeit zurückgekommen war und sich um den Fall kümmerte. Kommentare wie „Box ihn da raus“ und die angebotene Unterstützung taten Mark gut.

Es gab allerdings auch Kollegen, die skeptisch auf Marks Teilnahme an den Ermittlungen reagierten. Was ebenso gerechtfertigt war. Umgedreht hätte er vermutlich genauso Zweifel, wie unvoreingenommen jemand sein konnte, der monatelang der direkte Partner des Hauptverdächtigen war. Besonders ihnen wollte Mark beweisen, wie falsch sie lagen.

Überraschenderweise sah sein Schreibtisch ziemlich aufgeräumt aus. Weder hatten sich in seiner Abwesenheit Berge unerledigter und ungelesener Memos und Akten aufgetürmt, noch hatte Dominik die andere Hälfte des Doppelschreibtischs als Ablagefläche seines eigenen Krimskrams missbraucht. Gleich ans Werk machen konnte sich Mark trotzdem nicht. Nach sechs Wochen im ausgeschalteten Zustand brauchte seine Computer einige Zeit, um wieder auf Touren zu kommen und all die verpassten Updates zu installieren. Notgedrungen nutzte Mark die Zeit, um sich einen Kaffee für sich und eine Schüssel frisches Wasser für Felix zu holen. Der Hovawart schien ebenfalls etwas unschlüssig zu sein und spazierte minutenlang schnüffelnd um seinen Stammplatz herum, bevor er sich endlich auf seiner Decke niederließ. Auch danach wirkte er ziemlich angespannt und auf der Hut. Zweifellos spürte der Hund mit seinen übersensiblen Sinnen, dass momentan etwas im Argen lag. Unter Umständen fehlte ihm auch der komisch angezogene und permanent quasselnde Kollege seines Herrchens.

Drei Neustarts und zig Aktualisierungen später war der PC einsatzbereit. Was nicht bedeutete, dass er dadurch schneller lief. Irgendwas ratterte beharrlich im Hintergrund und bremste sämtliche Anwendungen aus. Selbst das Laden der E-Mails dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Doch auch mit dem Fuß auf der Bremse stand irgendwann fest, dass kein Report von der Spurensicherung vorlag. Dr. Ziegler hatte das Rennen, das eigentlich gar keines war, dieses Mal gewonnen. Sein vorläufiger Obduktionsbericht war vor weniger als fünf Minuten eingetroffen. Die elektronische Tinte war praktisch noch feucht. Mark war beeindruckt. Offenbar hatte der Rechtsmediziner sich unverzüglich an die Arbeit gemacht. Eine solche Eile und Dringlichkeit war alles andere als selbstverständlich.

Also beschäftigte sich Mark zuerst mit Zieglers Untersuchungsergebnissen. Denen zufolge war die 47-jährige Juliane Gerboth gestern in den frühen Abendstunden in ihrer Wohnung gestorben. Anhand der Körpertemperatur vermutete er einen Zeitraum zwischen 21:30 und 22:30 Uhr. Todesursache war eine hypoxisch-hyperkapnische Erstickung, ein Todesfall durch Sauerstoffmangel, der durch Behinderung beziehungsweise Blockade der Sauerstoffzufuhr- oder -aufnahme sowie durch Behinderung der CO2-Abatmung im Organismus verursacht wurde. Kurz: Sie war stranguliert worden. Höchstwahrscheinlich durch einen am Tatort sichergestellten, etwa einen Meter langen weinroten Stoffschal.

Weitere Anzeichen waren Einblutungen in die Halsweichteile und die Kehlkopfmuskulatur, eine Fraktur des Kehlkopfes sowie petechiale Blutungen an Bindehäuten und Mundschleimhaut.

Bis zu ihrem Tod war Juliane Gerboth bei relativ guter Gesundheit gewesen. Mehrere frische Hämatome und Kratzer legten die Vermutung nahe, dass sich das Opfer im Todeskampf zur Wehr gesetzt hatte. Unklar waren einen Bluterguss am Steißbein und zwei an den Unterarmen, die offenbar post mortem entstanden waren. Sie könnten durch ein Bewegen des Leichnams entstanden sein. Allerdings wies nichts darauf hin, dass das Opfer außerhalb seiner Wohnung getötet worden sein könnte.

In den Stunden vor dem Eintritt des Todes hatte Juliane Gerboth keinen Geschlechtsverkehr gehabt, auch post mortem war nichts dergleichen geschehen. Spermarückstände waren keine zu finden. Das Opfer war nicht schwanger gewesen und hatte nie ein Kind geboren.

Gewebe, Blut- und Urinproben hatte Dr. Ziegler ins forensische Labor geschickt, deren Ergebnisse allerdings noch unbestimmte Zeit auf sich warten lassen würden. Die inneren Organe befanden sich in einem dem Alter der Frau entsprechenden, sehr guten Zustand. Nichts wies auf eine chronische oder akute Erkrankung hin.

Mark griff nach seinem Notizbuch und notierte sich: zwischen 21:30 und 22:30 Uhr. In die Zeile darunter schrieb er: roter Schal. Dieser befand sich, wie der Rechtsmediziner weiter unten im Text geschrieben hatte, derzeit ebenfalls auf dem Weg in ein Labor, um den Stoff auf Faserrückstände und sonstige Spuren zu untersuchen. Im Anhang zum Bericht hatte Ziegler ein Foto des Schals beigefügt, das Mark einen Moment lang aufmerksam betrachtete. Es war ein längliches Modell aus dünn aussehendem Stoff. Der Rotton war kräftig und mit einem schmalen Zickzackmuster versehen. Beim Anblick des Schals dachte vermutlich keiner daran, dass es das Werkzeug eines Mordes gewesen war.

Weitere Fotos zeigten das Opfer auf der metallenen Bahre liegen. Eine grüne Decke bedeckte den Teil unterhalb ihrer Schultern. Andere Bilder zeigten den Hals mit den Strangulationsmalen aus der Nähe sowie das schmale Gesicht der Toten. Juliane Gerboth hatte schmale und leicht kantige Züge besessen, mit hohen Wangenknochen, einer spitzen Nase und dünnen Lippen. Mark betrachtete ihr Gesicht einige Sekunden lang. Er hatte Schwierigkeiten, sie mit der Frau von Dominiks heimlichen Schnappschüssen in Verbindung zu bringen. Keine Frage, es handelte sich um dieselbe Person, doch auf Dominiks Bildern war die Frau vital, immer unterwegs und in Eile gewesen, hatte ihre Umwelt mit skeptischem, leicht abschätzigem Blick betrachtet. Jetzt waren ihre grünen Augen matt und hatten jeglichen Glanz verloren.

Nach den Bildern und Zieglers vorläufigem Bericht aktualisierte Mark noch einmal sein Postfach. Nichts Neues von der Spurensicherung. Die Berichte der Streifenpolizisten, die die Nachbarn und Anwohner befragt hatten, lagen ebenfalls noch nicht vor. Wobei fraglich war, ob diese überhaupt schon wussten, dass Mark mittlerweile mit der Untersuchung betraut worden war. Was genauso fehlte, war ein Bericht über den bisherigen Stand der Ermittlungen und den Ablauf des Vorfalls. Normalerweise wurden die Kommissare nach ihrer Ankunft am Tatort von den bereits vor Ort befindlichen Kollegen unterrichtet und machten sich anschließend selbst ein Bild. Letzteres würde Mark nachholen. Dennoch würde es nicht mehr dasselbe sein wie eine Tatortbegehung unmittelbar nach dem Eingang der entsprechenden Meldung. Inzwischen waren bereits sämtliche Spuren markiert und der Körper der Ermordeten in die Rechtsmedizin gebracht worden. Gerboths Wohnung war jetzt nur noch ein lebloser, leerer Platz ohne relevante Gegenwart.

Da Mark nicht selbst vor Ort gewesen war (geschweige denn heute Morgen überhaupt davon gewusst hätte, dass dies einmal sein Fall werden würde), wäre es gut, sich mit jemandem zu unterhalten, der nach Eingang der Telefonmeldung zum Tatort gefahren war. Im Idealfall einer der beiden Kommissare, die ursprünglich mit der Ermittlung beauftragt worden waren. Unweigerlich wanderte Marks Blick von Dominiks zu Jan Schusters Schreibtisch. Beide waren verwaist. Der eine saß in U-Haft, der andere wurde vermutlich gerade von der Abteilung für interne Ermittlungen in die Mangel genommen. Mit Jan würde er sich also ebenfalls erst später unterhalten können.

Was die Zahl der möglichen nächsten Schritte ziemlich einschränkte. Im Augenblick tappte Mark gleich in mehrfacher Hinsicht im Dunkeln, und alles, was er tun konnte, war, die fehlenden Einzelheiten Schritt für Schritt ans Tageslicht zu befördern. Er wusste auch schon, wer ihm dabei behilflich sein konnte. Er gab Felix ein Zeichen, ihm zu folgen, und verließ das Büro.

Die Abteilung Spurensicherung befand sich ebenfalls im Präsidium, allerdings eine Etage tiefer. Bereits auf dem Flur im ersten Stockwerk kamen ihm mehrere SpuSi-Kollegen in weißen Laborkitteln entgegen. Mark grüßte sie höflich und unterhielt sich mit einigen von ihnen. Zweien zeigte er die erst vorgestern geknipstem Handyfotos von Natalie in ihrem rot-weißen Winterstrampler und freute sich über die unvermeidlichen Ohs und Ahs. Die verzückten Reaktionen ließen auch ihn sofort wieder strahlen. Eine Sekunde lang bedauerte Mark es sogleich, jetzt nicht bei seiner Tochter sein zu können.

Er betrat das Büro von Nicole Rösler im gleichen Moment, wie ein Bär von einem Mann es verlassen wollte. Der Kollege hatte einen fein rasierten Vollbart und Schultern, breit genug, um Kühlschränke darauf zu balancieren. Mark ließ ihm gerne den Vortritt.

Nicole Rösler saß an ihrem Schreibtisch in der Zimmermitte, umgeben von zahlreichen Schränken und Regalen, die mit allerlei Untersuchungs-Zubehör gefüllt waren. Links befanden sich Gerätschaften wie die Abstand- und Tiefenmesser sowie zwei Koffer mit Pinseln, Kreide und sonstiger Ausrüstung, die er schon mehrmals an Tatorten in Benutzung erlebt hatte. Weiter hinten standen mehrere unterschiedlich große Gläser und Dosen, die Chemikalien enthielten. Manche der chemischen Formeln konnte er noch entschlüsseln, an andere erinnerte er sich nur noch rudimentär aus den Unterrichtsstunden seiner Ausbildungszeit.

„Hallo, Mark, hallo, Felix“, rief die Kollegin und stand auf. Sie war Ende dreißig, einen Kopf kleiner als er, mit brünettem Pferdeschwanz und braunen Kulleraugen. Unter ihrem weißen Laborkittel trug sie eine purpurne Bluse und eine schwarze Stoffhose. „Ich hab mich schon gefragt, wann ihr hier auftauchen würdet.“

Sie umarmte Mark und versah anschließend den Hovawart mit ausgiebigen Streicheleinheiten. Dreimal hatte Nicole sie in den vergangenen Wochen daheim besucht, und selbst dort war das innige Begrüßungsritual zwischen ihr und Felix jedes Mal das Gleiche gewesen.

Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, lag es Mark als Erwiderung auf der Zunge. Diese Floskel hatte Dominik bei ihrem letzten gemeinsamen Fall Ende November verwendet, als sie einige wichtige Informationen von der Spurensicherung benötigten, Nicole sich jedoch nicht auf ihre Etage verirrt hatte. Wehmut überkam ihn, die er jedoch rasch beiseiteschob. Ebenso wie die Worte auf seiner Zunge.

Sein Zögern blieb Nicole nicht verborgen. Noch während sie Felix streichelte, schaute sie mit ernster Miene auf. „Ist ’ne schöne Scheiße, das Ganze, oder?“

„Ich hätte es nicht so blumig ausgedrückt, aber: ja. Ich weiß noch nicht mal, was überhaupt passiert ist.“

„Das weiß niemand so richtig.“

„Nein, ich meine: Ich habe nicht mal ’ne Ahnung, was die Fakten vor Ort betrifft. Alles, was mit vorliegt, ist eine ultrakurze Zusammenfassung von Olaf und Zieglers vorläufiger Untersuchungsbericht.“

Nicole klopfte dem Hovawart abschließend auf den haarigen Rücken, bevor sie aufstand. „Ich kann dir gerne das Wenige schildern, was ich von meiner Warte aus mitbekommen habe. Vielleicht hilft dir das weiter.“

„Danke, das wäre toll“, sagte Mark leise.

Vermutlich hörte Nicole es nicht mal. Sie richtete ihren Blick auf eine Zimmerecke und überlegte kurz: „Mal schauen, ob ich das halbwegs chronologisch hinkriege: Ich habe ja diese Woche die Frühschicht und bin gerade auf dem Weg zum Präsidium gewesen. Da hat mich einer der Kollegen angerufen und gesagt, dass wir gleich nach meiner Ankunft ausrücken müssen. Das war so gegen halb sieben. Also hab ich mir hier meinen Kram geschnappt und bin mit den anderen SpuSis zu einer Adresse in der Südstadt gefahren.

Ich weiß noch, dass es über die Pillenreuther Straße zum Annapark und dann in eine ruhigere Wohngegend ging. Es war irgendein Mehrfamilienhaus mit vier oder fünf Stockwerken. Genaue Adresse gebe ich dir nachher. Als wir dort eintrafen, waren vier Kollegen von der Streife vor Ort, unter anderem die, die den Leichenfund gemeldet hatten. Die zwei haben uns rauf in den dritten Stock begleitet.

Dort saß auf den Stufen vor der Wohnung eine ziemlich blasse Blondine in Lycra-Klamotten. Die hatte den Kopf auf den Armen abgestützt und sah völlig fertig aus. Sie war es, die die Tote gefunden und die 110 gewählt hatte. Weil sie und das Opfer zum Joggen verabredet gewesen waren. Als die Freundin nicht kam, ist sie nachschauen gegangen.

Noch während wir mit der Frau redeten, traf der Sanka an. Ein Sanitäter hat sich um die Freundin gekümmert, und der Notarzt ist mit uns in die Wohnung rein. Ob die Frau später noch eine Zeugenvernehmung ausgefüllt hat, kann ich dir nicht sagen. Die Tote lag im Wohnzimmer, zwischen Sofa und Fenster, mit dem Bauch nach oben. So genau habe ich mir die Leiche nicht angeschaut, das muss ich nicht unbedingt haben. Der Arzt ist zu ihr gegangen und hat den Tod offiziell festgestellt. Wir haben uns derweil die Schutzanzüge übergezogen und an die Arbeit gemacht.“

„Wann sind Jan und Dominik aufgetaucht?“, fragte Mark. Nebenbei streichelte er Felix, der zwischen ihnen beiden umherschwänzelte.

„Das hat noch gedauert. Ist ja meistens so, dass sich die werten Kommissare etwas Zeit lassen. Man muss ja erst noch in Ruhe frühstücken und so.“

Obwohl es als Scherz gemeint war, wollte Mark protestieren. Nicole winkte feixend ab und fuhr mit ihrem Bericht fort. „Als deine Kollegen eingetroffen sind, waren wir mit der Spurensicherung im Wohnzimmer fast fertig. Ziegler hatte auch längst mit seiner Leichenschau vor Ort begonnen. Dominik sah mal wieder recht zerknirscht aus, aber das ist bei ihm morgens ja normal.

Jan und er hatten sich gerade ihre Handschuhe übergezogen, da sind von hinten auf einmal zwei Leute von der Streife aufgetaucht und haben Dominik gebeten, mitzukommen. Ich wusste zuerst überhaupt nicht, was los ist. Dominik genauso wenig. Dann hieß es auf einmal, dass er den Tatort nicht betreten dürfte und mit raus auf die Straße kommen soll. Hat ihm natürlich überhaupt nicht geschmeckt. Er hat protestiert, und als die Uniformierten ihn rausbegleiten wollten, ist es recht laut geworden. Jan hat Dominik gut zugeredet, dass hier vermutlich irgendein Sesselfurzer aus der Chefetage etwas falsch gedeutet hat. Aber so war es nicht.

Mein Kollege René Birkner, das ist so ein übereifriger Neuer, den wir erst seit Jahresbeginn im Team haben, war für das Sichern der Fingerabdrücke zuständig. Er hat die Sachen nicht nur gesichert, sondern gleich mit dem mobilen Lesegerät eingescannt. Vermutlich, um die Nachforschungen zu beschleunigen, damit deine Kollegen gleich loslegen können.

Dummerweise hat der Scanner Dominiks Namen als Treffer ausgespuckt. Du weißt ja, dass die Fingerabdrücke all unserer Leute standardmäßig im System sind, damit sie gleich von Anfang an von der Spurensicherung als Treffer ausgeschlossen werden können. Das Problem hier war nur, dass die Abdrücke alle genommen wurden, bevor deine Kollegen aufgetaucht sind. Sprich: Da hätten von Dominik gar keine Spuren sein dürfen. René hat daraufhin gleich Panik gekriegt und in der Zentrale angerufen. Dort ist das Thema dann schnell hochgekocht, und es ging die Meldung raus, dass Dominik mindestens vom Fall abgezogen wird.“

„Vielleicht hat das Gerät einfach ’nen Fehler macht?“, überlegte Mark.

„Das dachte ich anfangs auch. Und René wahrscheinlich genauso. Wir haben das deswegen mehrmals überprüft. Ich selbst habe es wiederholt. Aber das Ergebnis war jedes Mal das Gleiche. Dann haben wir in der Nähe der Leiche ein paar weiße Stofffasern gefunden, die mit Dominiks Wintermantel auffällig übereinstimmen. Und was noch schlimmer ist: Halb unter dem Sofa lag die Verpackung eines verschreibungspflichtigen Medikaments. Ebenfalls mit seinen Fingerabdrücken drauf. Was ein weiteres starkes Indiz ist.“

„Was für ein Medikament?“

„Ein leichtes Antibiotikum gegen Halsbeschwerden. Genau diese Tabletten habe ich Dominik erst neulich einnehmen sehen. Als wäre das nicht schon alles übel genug, sind auf einmal zwei Leute von der Internen aufgetaucht …“

„Noch am Tatort?“

Nicole nicke. „Das hat mich auch gewundert. Offenbar sind die sofort hellhörig geworden, als die Meldung mit den Fingerabdrücken im Präsidium ankam. Die Internis haben sich Dominik gleich geschnappt und zur Rede gestellt. Dabei ist ihm rausgerutscht, dass er das Opfer tatsächlich gekannt hat. Damit war der Ofen endgültig aus. Er musste Ausweis und Dienstwaffe abgegeben, und die Internis haben ihn von einer Streife ins Präsidium bringen lassen. Jan haben sie ebenfalls gleich abgezogen. Er musste mit seinem Wagen dem Auto der Innenrevision hinterherfahren. Alle haben absolutes Kontaktverbot erteilt bekommen.

Soweit ich weiß, ist Dominik hier dann ’ne Stunde lang verhört worden und anschließend in U-Haft gekommen. Das ging Schlag auf Schlag. Echt krass, wie schnell das alles abgelaufen ist. Da kommt man sich vor wie in ’nem Thriller. Mir jagt sofort wieder ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke.“

Mark nickte zustimmend und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Sein Schweigen schien Nicole gleich noch nervöser zu machen. „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Dass Dominik die Frau tatsächlich umgebracht hat, kann ich nicht glauben. Aber wie sind seine Spuren dann an den Tatort gelangt? Von uns hat keiner bei der Sicherung geschlampt oder sie dort platziert.“

„Bist du dir da sicher?“

„Hundertprozentig. Auch für den Neuen würde ich mich verbürgen. Dem kann man allerhöchstens vorwerfen, dass er ein bisschen vorschnell reagiert hat. Wahrscheinlich wollte er alles ultrakorrekt machen, damit ihm daraus später kein Strick gedreht wird. Du weißt ja, wie pingelig die Internis manchmal sein können.

Aber selbst, wenn bei den Spuren am Tatort irgendwas schiefgelaufen ist, wie erklärst du dir dann, dass Dominik zugegeben hat, die Frau gekannt zu haben? Offenbar gibt es sogar Zeugen, die ihn in den vergangenen Tagen in der Nähe der Wohnung gesehen haben. Vielleicht war das ja alles ganz harmlos, aber ganz ehrlich: So sieht das nicht aus. Nicht mit den ganzen Spuren am Tatort. Sag mir, wie passt das denn alles ins Bild?“

„Ich habe keine Ahnung. Aber ich werde es herausfinden.“

„Davon bin ich überzeugt. Ich hoffe nur, du verbrennst dir dabei nicht die Finger. Wenn die Innenrevision mit im Spiel ist, nehmen die alles genau unter die Lupe. Da kann es schnell kompliziert und unangenehm werden. Wie ein ständiger Stein im Schuh.“

„Keine Sorge. Ich halte mich an die Vorschriften und passe auf.“

„Gut. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen. Dominik ist zwar etwas neben der Spur, aber er ist ein Kollege, und ich mag ihn. Wenn er unschuldig ist, müssen wir das beweisen.“

Die Entschlossenheit in ihren Worten freute ihn. Nicht jeder im Präsidium würde in Momenten wie diesen zu ihm – und vor allem zu Dominik – halten. „Du könntest mir mit einem vorläufigen Bericht der Spurensicherung helfen.“

Nicole stöhnte. „Ja, ich weiß. Der ist auch schon in Arbeit. Ein bisschen brauche ich aber noch. Wir sind vorhin erst zurückgekommen und sondieren noch die Fakten.“

„Kannst du mir für den Anfang zumindest einen groben Überblick geben? Irgendwas, damit ich eine ungefähre Ahnung von der Sache kriege?“

„Das sollte kein Problem sein.“ Nicole ging zu ihrem Schreibtisch, und Felix, der treulose Patron, blieb nicht bei seinem Herrchen, sondern begleitete sie. Als sie sich setzte, stellte er sich direkt neben ihren Stuhl, damit sie mit der einen Hand an ihrem Computer arbeiten und mit der anderen den Hovawart streicheln konnte. Erschreckenderweise ging der Plan auf.

„Also, ich gebe dir mal grob wieder, was meine Kollegen und ich uns notiert haben. Manches davon wird später auch so im Bericht stehen: Im Wohnzimmer gab es mehrere Anzeichen für einen Kampf, die restlichen Zimmer befanden sich in annehmbarem Zustand. Keine Verwüstungen, keine aus den Schränken gezogenen Sachen oder so. Da sieht es bei Dominik zu Hause wahrscheinlich schlimmer aus. An der Tür, dem Schloss und dem Türrahmen haben wir zwar einige Kratzer und Schrammen gefunden, allerdings sehen die alle schon älter aus. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Tür gestern Abend aufgebrochen wurde.

Was gestohlene Gegenstände betrifft: Wir kennen zwar nicht das gesamte Inventar, aber nachdem der Schmuck in den Schatullen in Wohn- und Schlafzimmer nicht mal angerührt wurde und sich auch Geld und Kreditkarten in der Brieftasche des Opfers befinden, würde ich Raub als Motiv ausschließen. Ob irgendwelche anderen Wertgegenstände oder Besitztümer fehlen, müssen später die Angehörigen abklären.

Wie üblich haben wir in der Wohnung haufenweise Fingerabdrücke gefunden. Die meisten vom Opfer selbst. Im Wohnzimmer waren die, die Dominik zum Verhängnis geworden sind. Dazu kommen einige andere, die wir stellenweise noch zuordnen müssen. Ein paar vereinzelte sind von Gerboths Noch-Ehemann, der Rest stammt vermutlich von Nachbarn, Freunden und Kollegen. Das Übliche …“

Nicole hielt inne und scrollte durch die restlichen Daten auf dem Bildschirm. Ihr Gesichtsausdruck blieb angespannt, was vermutlich auch mit dem Multitasking zusammenhing. Nach wie vor streichelte sie den Hund. Der hier hoffentlich nicht auf den Geschmack kommen und danach bei jeder Computerarbeit auch neben Marks Schreibtisch auftauchen würde. In der Hinsicht war Nicole so was wie die Oma, bei der die Kinder mehr Freiheiten hatten und mehr Geschenke als daheim bekamen.

„Das war es so im Großen und Ganzen. Ansonsten kann ich nicht viel berichten.“

„Wie wäre es mit Gerboths Adresse?“

„Stimmt, da war was. Sie wohnte in der Gudrunstraße.“ Nicole griff nach einem Zettel und notierte die komplette Anschrift. Sie reichte ihn Mark zusammen mit einem kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel, der den Haustür- und Wohnungsschlüssel enthielt. „Damit dürftest du recht weit kommen. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Da ist tatsächlich etwas. Ich würde gern rüber zur JVA fahren und Dominik besuchen. Wie du weißt, sind Hunde dort nicht erlaubt. Könntest du daher kurz auf Felix aufpassen? Ihr scheint ja heute ohnehin wieder ein Herz und eine Seele zu sein.“

„Das sind wir immer. Zwischen uns passt kein Blatt Papier. Er weiß eben, wer es gut mit ihm meint. Von mir aus kann Felix gerne eine Weile hierbleiben. Aber dann beschwer dich nicht, wenn sich dein Bericht weiter verzögert, weil ich mich die ganze Zeit um den Wauzi kümmern musste.“

„Habe ich mich denn jemals bei dir beschwert?“

„Nein, und das möchte ich dir auch geraten haben.“ Sie hielt eine Millisekunde lang inne, bevor sie etwas leiser fortfuhr: „Ansonsten findet man am nächsten Tatort vielleicht deine Fingerabdrücke.“

Es war ein Scherz, keine Frage. Dennoch wusste Mark nicht, ob er darüber lachen sollte. Oder durfte.

„Ist noch zu früh für solche Witze, oder?“, fragte Nicole, als sie sein Zögern bemerkte.

„Ein bisschen vielleicht. Lass uns mit so was lieber abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Danke für die Infos und deine Hilfe.“

Mark drehte sich um und ging zur Tür. Was auch Felix nicht verborgen blieb. Jetzt kam er wieder zu ihm getrottet. Jetzt. „Tut mir leid, Kumpel, du musst noch kurz bei der bösen alten Katzenlady bleiben. Da, wo ich hingehe, sind keine Tiere erlaubt. Nicht mal Polizeihunde.“

„Ich geb dir gleich böse alte Katzenlady. Ich bin weder alt noch böse! Aber böse werde ich gleich.“ Sie funkelte Mark übertrieben grimmig an. Gleichzeitig machte sie mit der Zunge für Felix Schnalzlaute und klopfte sich geräuschvoll mehrfach gegen den Oberschenkel. Für den Hovawart das Zeichen, abermals zu ihr zu trotten. Er drehte sich nicht mal mehr um. Mark war fast ein bisschen beleidigt deswegen, beeilte sich aber lieber, die Bürotür hinter sich zu schließen, bevor der Hund auf Gedanken kam.

Unter Verdacht - Der vierte Fall für Mark & Felix

Подняться наверх