Читать книгу Unter Verdacht - Der vierte Fall für Mark & Felix - Sören Prescher - Страница 9
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ОглавлениеEs war bereits nach vier, als sie ins Präsidium zurückkehrten. Die allmählich einsetzende Dämmerung zeigte, dass zumindest die Sonne ihre Arbeit für heute fast beendet hatte. Für Mark und Felix war an Feierabend noch nicht zu denken. Noch lange nicht.
Rein von der Ermittlungsseite her betrachtet, hatten sie bisher nicht wirklich viel erreicht. Lediglich Dominiks … nun ja … Augenzeugenbericht hatte für ein bisschen Klarheit gesorgt. Doch weder hatte Mark bisher die Berichte der Streifenpolizisten gelesen noch sich auch nur mit einem der Nachbarn unterhalten. Deshalb machte er sich nach einem kurzen Telefonat mit Caro sofort wieder an die Arbeit.
Wild entschlossen, nun endlich einen Schritt voranzukommen, nahm er sich Juliane Gerboths Personendaten vor. Dabei fiel ihm eine andere Sache ein: Eines der ersten Dinge, die die Kommissare nach der Besichtigung eines Tatorts unternahmen, war die Benachrichtigung der Angehörigen.
Mark hatte den Tatort noch gar nicht besucht. Weshalb er sich danach auch gar nicht an seiner üblichen Routine hatte orientieren können. Was nicht weiter schlimm war, da ja anfangs eh andere Ermittler mit dem Fall betraut gewesen waren. Das Problem war nur, dass Jan und Dominik ebenfalls keine Gelegenheit für den Besuch bei den Angehörigen gehabt hatten.
Höchstwahrscheinlich auch niemand anderes.
Scheiße.
Mark erstarrte mitten in der Bewegung. Ärgerte sich über sich selbst und alle anderen. Wieso hatte keiner an diesen Punkt gedacht? Normalerweise wurden die Angehörigen unverzüglich benachrichtigt. Manchmal sogar mitten in der Nacht. Das waren sie den Familien der Opfer schuldig.
Für alle Fälle wählte er Olafs Nummer. Vielleicht bestand ja doch die unwahrscheinliche Chance, dass irgendjemand anderes – zum Beispiel einer der Streifenpolizisten, die mit am Tatort gewesen waren – in diesem besonderen Fall die Verständigung der Angehörigen übernommen hatte.
Nach dem zweiten Klingeln war der Chef am Apparat, wusste jedoch ebenfalls keine Antwort auf diese Frage. „Ich hake da gleich mal nach. Aber ich befürchte, das ist in dem ganzen Trubel schlichtweg untergegangen.“
Zehn Minuten später rief Olaf zurück und bestätigte genau das. Mark war nicht überrascht und starrte entrüstet auf den Computerbildschirm. Der Lebenslauf der Toten wirkte auf einmal wie eine Anklage.
Laut den sträflich vernachlässigten Unterlagen wohnten nur noch wenige von Juliane Gerboths Familienmitglieder in der Nähe. Ihr Vater Andreas war 2017 verstorben, und ihre einzige Schwester lebte seit mehreren Jahren in Irland. Blieben die Mutter Birgit und Julianes Ehemann Sascha Gerboth, von dem sie offenbar getrennt lebte. Beide besaßen seit knapp zehn Monaten unterschiedliche Wohnanschriften.
Letzteres klang interessant und musste unbedingt genauer überprüft werden. Zuvor wollte Mark jedoch mit der Mutter sprechen, um bei der Gelegenheit auch noch einige Details über die anscheinend in die Brüche gegangene Ehe von Juliane und Sascha zu erfahren. Nicht grundlos zählen Ehepartner in einem Mordfall von Anfang an zu den Hauptverdächtigen, insbesondere wenn vor nicht allzu langer Zeit eine Trennung erfolgt war.
Mutter Birgit wohnte in einer Altbauwohnung in der Bucher Straße, mit einem Fahrradgeschäft und einer Galerie in der unmittelbaren Nachbarschaft. Mark parkte in einer Nebenstraße und klingelte mit dem angeleinten Felix an der Tür zum Treppenhaus. Obwohl es bereits dunkel wurde, betätigte die Mutter nahezu umgehend den Türöffner und erwartete die Störenfriede im ersten Stockwerk.
„Nanu, wer sind denn Sie? Ich hatte eigentlich eine Freundin von mir erwartet“,“, begrüßte die Rentnerin den Kommissar mit Hund. Sie trug eine dunkelbraune Dauerwelle und eine schwarze Strickjacke über ihrer lila karierten Bluse. Ihr Gesicht war rund und mit jeder Menge dünner Falten versehen. Mark klärte das Missverständnis auf und zeigte seinen Dienstausweis vor. Anschließend bat er, zusammen mit Felix eintreten zu dürfen.
„Sie wollen aber keine Razzia bei mir durchführen, oder?“, fragte sie mit einem Lachen in der Stimme.
„Wir – also ich – möchte mit Ihnen etwas besprechen und Ihnen einige Fragen stellen.“
Ihr Lächeln erstarb, und sie wirkte schlagartig ernst. „Dann kommen Sie bitte rein. Schuhe können Sie anbehalten, wenn Sie sie auf dem Abstreicher abgeputzt haben.“
Mark tat wie ihm geheißen und folgte der Frau in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer mit opulentem Sofa und jeder Menge eingetopfter Grünpflanzen. Im Fernsehen lief eine Boulevardsendung mit einem Bericht über Prinz Harry, der mittlerweile rein technisch gesehen kein richtiger Prinz mehr war.
„Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen“, sagte Mark, nachdem er und die Rentnerin sich auf das Sofa gesetzt hatten. Felix hockte brav an der Seite seines Herrchens und schnupperte am Sofabezug und der leeren Teetasse auf dem Beistelltisch.
Die ältere Dame griff nach dem bestickten Kissen zu ihrer Linken und hielt es sich wie einen Schutzpanzer vor den Oberkörper. Ihrer angespannten Miene zufolge machte sie sich auf das Schlimmste gefasst. Was in diesem Fall durchaus zutraf.
Mit ruhiger Stimme und langsam gesprochenen Sätzen unterrichtete Mark die Frau darüber, dass ihre Tochter Juliane Gerboth heute Morgen tot aufgefunden worden war.
Die Unterlippe der Mutter begann zu zittern. Tränen schossen in ihre Augen. Die knochigen Hände krallten sich fest um das Kissen. „Was ist passiert?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.
Mark erzählte ihr eine gekürzte Fassung des Wenigen, was er bisher wusste. Im Grunde genommen waren es kaum mehr als grobe Umschreibungen der Ereignisse. Aber in der Regel genügte das den Angehörigen. Kein Vater und keine Mutter wollten wissen, wie dem Kind der Schädel eingeschlagen, die Kehle aufgeschlitzt oder mit dem Messer mehrmals in den Abdomen gestochen wurde. Juliane Gerboths Mutter stellte da keine Ausnahme dar. Selbst die spärlichen Details genügten, dass sie verzweifelt nach Luft schnappte und sich das Kissen vor das Gesicht hielt.
Obwohl Mark eine solche Reaktion bereits etliche Male erlebt hatte, tat sie ihm jedes Mal wieder in der Seele weh. An diesen Teil seines Jobs würde er sich wohl nie gewöhnen können. Und das wollte er auch gar nicht. Sobald ihn solche Szenen nicht mehr berührten, wäre es vermutlich an der Zeit, sich nach einem anderen Betätigungsfeld umzuschauen.
Er wusste, dass der armen Frau im Moment niemand helfen konnte. Den ersten Schmerz musste jeder für sich selbst verarbeiten, ganz gleich wie übermächtig er sich anfühlte.
Mark nahm sich die Teetasse und füllte sie in der angrenzenden Küche mit Leitungswasser. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, ließ die Mutter gerade ihre Hände sinken. „Bitte trinken Sie das“, sagte er leise und reichte ihr die Tasse. Sie nickte stumm und kam der Bitte nach. Das kalte Wasser schien ihr kleines bisschen Kraft zu schenken.
Er bot ihr an, per Telefon einen Seelsorger oder einen Sanitäter zu verständigen, der ihr ein Beruhigungsmittel verabreichen könnte. Die alte Frau schüttelte den Kopf. Ein Blick in ihre traurigen Augen verriet Mark, dass sie den Schmerz über den Verlust eines nahen Angehörigen bereits kannte. Dass er sie quälen und ihr mächtig zusetzen, sie aber nicht umbringen würde. Das war nicht viel, musste fürs Erste jedoch genügen.
Nachdem sich die Mutter beruhigt hatte, bat Mark sie, ihr einige Fragen stellen zu dürfen. Sie bejahte mit einem weiteren stummen Nicken. Er dankte ihr allein dafür und zog sich Notizbuch und Stift aus der Jackentasche.
„Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen und gesprochen?“, begann er.
„Das war am Wochenende. Sie kam am Samstagnachmittag kurz vorbei, bevor sie am Abend mit einer Freundin ausgehen wollte.“
„Wie ging es ihr?“
„Wie immer. Sie hat sich auf das Treffen mit Svenja gefreut. Die zwei wollten was essen und ins Kino gehen.“
Das deckte sich überwiegend mit Dominiks Aussage. Bloß den Teil mit dem Besuch bei der Mutter hatte er weggelassen. Juliane Gerboth bis in die Bucher Straße verfolgt hatte er vermutlich trotzdem. „Hat sie von Problemen oder Sorgen erzählt?“
„Nein, überhaupt nicht. Wenn sie etwas geplagt hätte, hätte ich das gemerkt. Wir haben ein recht enges Verhältnis und erzählen uns eigentlich alles.“
„Wie war Julianes Beziehung zu ihrem Noch-Ehemann?“
„Ach, der Sascha. Das ist ein Kapitel für sich. Anfangs waren die zwei ein Herz und eine Seele. Er hat ihr die Wagentür aufgehalten und all solche Sachen. Ein echter Rosenkavalier. In den letzten Jahren ist das irgendwie eingeschlafen. Ich glaube, dass er vor ein, zwei Jahren seinen Job verloren hat, hat ihm ziemlich zugesetzt. Eine Midlife-Crisis, nennt man das wohl heutzutage. Auf einmal hat er alles infrage gestellt und war mit nichts mehr zufrieden. Irgendwann hatte Juliane genug davon, und beide haben sich getrennte Wohnungen gesucht.“
„Wie lange waren sie zusammen?“
„Elf Jahre.“
„Das ist eine lange Zeit. Wissen Sie, ob sie sich im Guten getrennt haben?“
„Soweit ich weiß, schon. Natürlich hat es zwischendurch auch mal ein paar böse Worte gegeben. So was gehört bei einer Trennung einfach dazu. Bei meinem Mann und mir war es über die Jahre hinweg auch nicht immer leicht. Aber von uns hat keiner so leicht die Flinte ins Korn geworfen. So eine Ehe bedeutet eine Menge Arbeit. Von beiden Seiten. Nur leider wissen das heutzutage nur noch wenige Leute.“
„Hatte Juliane schon einen neuen Lebensgefährten?“
„Nein. Das hätte sie mir erzählt. Ich glaube, nach dem Debakel mit Sascha hatte sie erst mal die Nase voll von Männern. Nach elf Jahren Ehe dauert es eine Weile, bis so ein gebrochenes Herz wieder verheilt ist.“
„Wie hat sich Juliane mit ihren Freunden und Nachbarn verstanden?“
„Mit jedem gut. Glauben Sie, dass Sascha oder jemand von denen sie getötet haben könnte?“
Mark schüttelte den Kopf. „Ich glaube gar nichts. Mir geht es ausschließlich um die Fakten. Das sind alles Routinefragen, die ich abklären muss.“ Nebenbei streichelte er liebevoll über Felix’ Kopf, um seinen Worten etwas von ihrer Schärfe zu nehmen.
Dennoch wirkte die alte Frau einen Moment lang vor den Kopf gestoßen.
„Haben Sie eine Ahnung, wer ihr etwas Böses gewollt haben könnte? Hatte sie irgendwelche Feinde?“, fragte Mark daher im deutlich gemäßigteren Tonfall.
„Nein, niemand. Wenn es so jemanden geben würde, hätte mir Juliane davon erzählt.“
„Wo und was hat sie gearbeitet?“
„Sie war so eine Managerin bei Wurdinger & Reichardt“
„Wie lief es denn in dem Job?“
„Sehr gut. Sie hat sich mit allen Kollegen gut verstanden. Sogar mit den zwei Chefs. Einmal im Monat sind sie abends alle zusammen was essen gegangen. Das ganze Team. So was macht nicht jede Firma.“
Das stimmte wohl. Wenn Mark mit Leuten aus dem Präsidium etwas trinken gehen wollte, waren das in der Regel bloß eine Handvoll Kollegen. Daran, dass Olaf oder ein anderer der Dienstgruppenleiter regelmäßig dabei gewesen wäre, konnte er sich nicht erinnern. „Wie lange hat Juliane schon in dem Job gearbeitet?“
„Bestimmt sechs oder sieben Jahre. Davor war sie sogar mal einige Zeit bei Thomas Sabo. Das ist dieser Schmuckhersteller draußen in Lauf.“
„Hat Juliane in der letzten Zeit mal erwähnt, dass sie sich beruflich verändern wollte?“
Vehementes Kopfschütteln. „Überhaupt nicht. Sie war bei Wurdinger & Reichardt recht glücklich, hatte ich den Eindruck. Sie …“ In dem Moment wurde die Trauer offenbar übermächtig. Tränen quollen aus den Augen der alten Frau, und sie nestelte hastig in ihrer Hosentasche, um ein Papiertaschentuch hervorzuziehen. Mit einem Mal wirkte sie noch älter und deutlich zerbrechlicher, als sie ohnehin schon war. „War es das mit den Fragen?“, erkundigte sich die Mutter. „Ich würde jetzt gerne für mich alleine sein.“
„Wir sind gleich durch“, versprach Mark. „Hatte sie irgendwelche Hobbys? Womit beschäftigte sie sich in ihrer Freizeit?“
„Sie hat viel Sport getrieben. Ab und zu ist sie mit Freundinnen in Clubs und zu Konzerten gegangen. Das Übliche. Und sie ist gerne verreist. Da hat es recht gut gepasst, dass sie auch beruflich oft unterwegs war.“
„War sie Mitglied in irgendwelchen Vereinen oder Organisationen?“, wollte Mark wissen. Zum normalen Fragenkatalog zählte dieser Punkt nicht. Gerne hätte er die Frau auch direkt auf die Pantokratoren angesprochen, befürchtete allerdings, dass sich das als Bumerang erweisen könnte. Ein Name wie Pantokratoren war dermaßen ungewöhnlich, dass er der Frau, selbst wenn sie ihn noch nie zuvor gehört hatte, im Gedächtnis bleiben könnte. Das wollte und konnte er nicht riskieren.
„Sie war in einem Fitnessstudio angemeldet. Und manchmal ist sie mit einem ihrer Chefs zu irgendwelchen Veranstaltungen von regionalen Unternehmern gegangen. Aber sonst? So viel freie Zeit blieb ihr neben der Arbeit eh nicht.“
Mark nickte zustimmend und überflog kurz seine Aufzeichnungen. „Wo waren Sie gestern Abend?“
„Zu Hause. So wie immer.“
Keine andere Antwort hatte er erwartet. „Das sollte es fürs Erste gewesen sein. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ich weiß, dass das gerade eine äußerst schwere Zeit für Sie ist …“
In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür. Die Rentnerin tupfte sich noch einmal ihre Lider ab und erhob sich. „Das wird meine Nachbarin Leonie vom Haus nebenan sein. Sie kommt fast jeden Abend für ein Stündle oder so vorbei.“
Mark und Felix folgten ihr durch den Flur zur Tür und konnten sich nur Sekunden später davon überzeugen, dass Julianes Mutter mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Im Treppenhaus stand eine etwa gleich alte Frau mit kurzen blassgrauen Haaren und sportlicher Figur. Sie brauchte ihre Freundin nur einen Augenblick lang anzuschauen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte. Wortlos ging sie auf die Rentnerin zu und schloss sie in die Arme.
„Was ist denn los, meine Liebe?“, fragte sie und warf Mark dabei einen besonders giftigen Blick zu.
„Vielen Dank noch einmal für Ihre Hilfe“, wiederholte er und reichte Julianes Mutter eine seiner Visitenkarten. „Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.“
Mit einem mitfühlenden Lächeln verabschiedete er und sah zu, dass der Hovawart und er nach draußen kamen. Es gab nichts, was sie hier noch tun konnten.
Zurück auf der Straße, atmete Mark erst einmal tief durch. Ein eiskalter Ostwind stieg ihm in die Lungen und erinnerte ihn rasch daran, dass es nach wie vor Januar war. Und auch noch anderthalb Wochen lang bleiben würde.
Nachdenklich schaute er auf die Uhr. Allein vom Grat der Dunkelheit um ihn herum hätte es bereits tiefste Nacht sein können. Der Verkehr auf der langen Bucher Straße hatte auch schon nachgelassen. Trotzdem war es gerade mal kurz nach sechs. Definitiv zu früh, um am ersten Ermittlungstag nach Hause zu fahren. Zumal er ohnehin erst spät am Vormittag ins Geschehen eingestiegen war und noch nicht wirklich viel erreicht hatte.
Also ab ins Auto und auf zur nächsten Adresse, die sich laut der Polizeidatenbank in der Wandererstraße befand. Wenn sich Mark richtig entsann, befand sich diese Straße in der Nähe vom ehemaligen Quelle-Areal, was genau wie Julianes Adresse in der Südstadt nicht unbedingt zu den vornehmsten Gegenden zählte.
Bei einem normalen Fall hätte Mark das nicht weiter verwundert. Doch wenn Dominik mit seiner Theorie von dem praktisch allmächtigen Geheimbund richtig lag, hätte man doch annehmen können, dass deren Mitglieder etwas betuchter lebten. Ob Sascha Gerboth ebenfalls zu den Pantokratoren gehörte, wusste Mark zwar nicht. Naheliegend war eine solche Verbindung dennoch. Und selbst wenn nicht, hätte zumindest Juliane Gerboth in einer besseren Gegend der Stadt leben müssen.
Nichts dergleichen war der Fall.
Wie passte das zusammen? Zwang der Vorstand der geheimen Handwerksgilde seine Mitglieder zu bescheidenen finanziellen Verhältnissen? Mark grübelte einen Moment lang darüber und entschied, dass es daran eigentlich nicht liegen könnte. Das Haus in dem Waldstück nahe Ammerndorf, das er während seines zweiten Falls mit Dominik besucht hatte, war alles andere als sparsam und zurückhaltend eingerichtet gewesen.
Also war entweder ein anderer Grund für die vergleichsweise ärmlichen Verhältnisse ausschlaggebend, oder Dominik lag mit seiner Pantokratoren-Theorie vollkommen daneben.
Sascha Gerboths Adresse lieferte jedenfalls keinen Hinweis darauf, welche Möglichkeit wahrscheinlicher war. Er wohnte in einem blassbraunen dreistöckigen Mietshaus, das vermutlich noch aus der Wiederaufbauzeit der 1950er Jahre stammte. Es war schlicht, solide und wäre durchaus passend für einen mittelständigen Handwerker gewesen. Mark nahm sich vor, den Gatten nach seinen früheren Jobs zu befragen. Nur so für alle Fälle …
Auf sein Klingeln an der Wohnungstür hin erschien ein hagerer, fast schon asketisch aussehender Endvierziger mit kantigem Gesicht und fein ausrasierten Koteletten mit feinen Grauansätzen. Mit seinen blauen Augen und dem dazu passenden blauen Langarmshirt wirkte er durchaus attraktiv. Mark konnte sich gut vorstellen, was Juliane über die Jahre hinweg an ihm gefallen hatte.
Auf das Vorzeigen des Dienstausweises reagierte er genauso skeptisch wie auf den dunkelbraunen Hovawart an der Seite des Kommissars. Eine Sekunde lang schien er wegen des Vierbeiners widersprechen zu wollen, ließ seine Besucher dann jedoch kommentarlos eintreten. So wie auch bei Julianes Mutter gingen sie ins Wohnzimmer, in dem der Fernseher lief. Statt einer Promi-Klatschsendung lief eine Autoschrauber-Doku auf DMAX. Passend dazu stand auf dem Couchtisch auch keine leere Teetasse, sondern eine halb volle Flasche Hefeweizen.
Mark setzte sich in den Sessel schräg gegenüber von Sascha Gerboth. Felix hockte sich neben ihm auf den Boden und behielt den Mann auf dem Sofa aufmerksam im Auge.
„Also, was kann ich für Sie tun?“, fragte Herr Gerboth. Er wirkte gespannt.
„Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie …“, begann Mark und erzählte dann in etwa die gleiche Kurzfassung wie vorhin bei Julianes Mutter.
Die Reaktionen der zwei Angehörigen hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Nach der Nachricht über den Tod seiner Noch-Ehefrau wirkte Sascha bemerkenswert gefasst, lediglich sein Blick war ein klein bisschen konsterniert. Verdächtig war das nicht, ungewöhnlich hingegen schon. Mark hatte angenommen, dass ihn das Ableben der Frau, mit der er elf Jahre liiert gewesen war, mehr mitnehmen würde.
In manchen Fällen hatte eine solche kühle Reaktion etwas mit Verdrängung und Den-Schein-waren zu tun. Andere Menschen hatten sich nach der Trennung von ihrem Partner dermaßen weit von ihrem oder ihrer Ex distanziert, dass keine Nachricht über sie oder ihn noch schocken konnte. Hinzu kam eine dritte Möglichkeit: Dass Sascha Gerboth bereits von der Ermordung wusste. Aus welchen Gründen auch immer.
Sein teilnahmsloses Gesicht ließ kaum Schlüsse darüber zu. Aus dem Grund beschloss Mark, mit dem üblichen Fragenkatalog zu starten: „Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen und gesprochen?“
„Das ist ’ne Weile her. In der letzten Zeit lief es nicht besonders gut zwischen uns. Da haben wir vorwiegend über Anwälte kommuniziert.“
„Über Anwälte? Ich dachte, eine Scheidung wäre erst nach mindestens einem Jahr Trennungszeit möglich.“
„Ist sie auch. Es ging gar nicht darum. Dadurch, dass ich arbeitslos bin und wir miteinander verheiratet sind, steht mir ein Teil von Julianes Einkommen zu. Stichwort Trennungsunterhalt. Anfangs hat meine werte Ex deswegen ein Riesen-Zinnober gemacht. Aber das Recht ist da eindeutig auf meiner Seite. Mitgehangen, mitgefangen, wie es so schön heißt. Ich wollte auch gar nicht viel von ihr. Bloß genug, damit ich über die Runden komme und mir ’ne Wohnung leisten kann. Ist mit den paar Kröten vom Staat nämlich gar nicht so leicht.“
Die Wohnzimmereinrichtung bestätigte das. Sowohl die Schränke als auch das Sofa wirkten billig und wie im Ramschverkauf abgestaubt. Bücher suchte man in diesem Raum leider genauso vergeblich wie Bilder an der Wand. Das einzig Auffällige war der große Flachbildfernseher. „Warum suchen Sie sich keinen neuen Job?“
„Als wenn das so einfach wäre! Ich bin gelernter Tragwerksplaner. Sie kennen das wahrscheinlich eher unter dem Begriff Statiker. Da sieht es aktuell auf dem Markt ziemlich düster aus. Und irgendwas Komisches will ich nicht arbeiten. Ich bin ja keine zwanzig mehr und kann mich da nicht an allen möglichen Fronten ausprobieren. Früher habe ich mal an der Tankstelle gejobbt und war aufm Bau tätig. Aber das ist lange her. Nee, da suche ich lieber weiter, bis ich was Passendes gefunden habe. So viel Zeit muss sein.“
Oder eben nicht. Langsam kam Mark dahinter, aus welcher Richtung der Wind hier wehte. Wenn Juliane Gerboth für ihren Noch-Ehemann mitbezahlen durfte, war es logisch, dass sie mit ihrem Geld kaum über die Runden kam. Auf einmal wirkte auch die Wohnung in der Südstadt sehr plausibel. Mark wusste zwar bislang nicht, wie viel Geld die Tote verdient hatte, aber dass es zum Bezahlen zweier opulenter Wohnungen gereicht hatte, wagte er stark zu bezweifeln. Nicht bei der heutigen geradezu perversen Situation auf dem Immobilienmarkt. Aus dem Grund hätte nicht Sascha, sondern vielmehr Juliane ein Mordmotiv an ihrem Ehepartner gehabt. Wäre er gestorben, hätte sie sich monatlich einiges an Geld sparen können.
„Übrigens müsste sie für mich gar nicht zahlen, wenn ich in einer neuen Beziehung wäre und mit derjenigen welchen zusammenleben würde. Falls das Ihre nächste Frage gewesen wäre.“
„Leben Sie denn bereits wieder mit jemandem zusammen?“
Er lachte auf. „Nicht mal ansatzweise. Momentan können mir die Weiber gestohlen bleiben. Sind doch eh alle gleich. Erst tun sie immer so auf verständnisvoll und dergleichen. Aber wenn es mal hart auf hart kommt, lassen sie einen eiskalt im Regen stehen. Nee, nee, alles Schlampen außer Mutti, wie es so schön heißt.“
Das ließ Mark lieber unkommentiert. „Haben Sie eine Ahnung, ob Ihre Ex wieder jemand Neues am Start hatte?“
„Nein, und selbst wenn, wäre es mir egal gewesen. Ich bin fertig mit der Frau.“
„Wo waren Sie denn gestern Abend, sagen wir mal, von um sechs bis Mitternacht?“
„Zu Hause. Sehe ich so aus, als könnte ich mir irgendwelche großen Sprünge leisten?“
Mark griff lieber in seine Jackentasche, um Felix ein paar Leckerlis zu geben, anstatt auf diese rhetorische Frage einzugehen. „Kann das jemand bezeugen?“
„Natürlich. Das komplette Team von GZSZ. Und dann die Jungs von den Steel Buddies auf DMAX. Mann, ich hab vor der Glotze abgehangen, so wie jeden Abend.“
Auf dem Tisch vor sich sah Mark ein Smartphone liegen. Über die Funkzellenortung ließ sich leicht herausfinden, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Auf den ersten Blick fiel Mark allerdings kein Grund ein, wieso der Mann lügen und seiner Ex aufgelauert haben könnte. Alles, was sie schädigte, schädigte letztendlich genauso ihn. Finanziell betrachtet zumindest.
„Wissen Sie, ob Juliane Feinde hatte? Beziehungsweise jemanden, der es auf sie abgesehen haben könnte?“
„Sie meinen, abgesehen von mir?“
Immer diese Steilvorlagen. Zum Glück erwartete Sascha keine ehrliche Antwort darauf.
„Eigentlich verstand sie sich mit allen gut. So spontan fällt mir keiner sein, der sie tot sehen wollte. Nicht mal ich hätte ihr so was gewünscht. Hab ja schließlich kein Herz aus Stein.“
„Was tat Juliane denn in ihrer Freizeit? War sie nebenbei in irgendwelchen Vereinen oder Organisationen tätig?
„Sie war viel unterwegs. Geschäftsessen hier, Meeting da. Ansonsten hat sie gerne Sport getrieben. Da sehen Sie, dass nicht mehr viel Freizeit übrig blieb. Und in dieses bisschen hat sie dann mich reinzuquetschen versucht. Logisch, dass so was nicht funktionieren kann.“
Ganz sicher lag es allein daran, dachte Mark insgeheim. Das aussprechen lohnte sich nicht. Dieses Musterbeispiel von einem Geschlechtsgenossen hätte die Ironie darin ohnehin nicht verstanden. So wie vermutlich vieles andere ebenso. Kurz überlegte Mark, den Ex ganz explizit auf die Pantokratoren anzusprechen, verzichtete jedoch erneut darauf. Ohne hinreichenden Verdacht konnte so etwas problematisch werden. Zumal weder genau feststand, ob die Handwerksgilde in der von Dominik skizzierten Form überhaupt existierte, noch ob sie auch nur ansatzweise etwas mit Juliane Gerboths Ermordung zu tun hatte.
Aus dem Grund vertagte Mark den Punkt einstweilen und verabschiedete sich. Nett, wie Sascha war, brachte er seinen Besuch bis zur Wohnungstür. Dort trat er unruhig von einem Bein aufs andere, so als müsste er dringend austreten. Stattdessen hatte er noch etwas auf dem Herzen.
„Haben Sie eine Ahnung, ob Juliane ihr altes Testament noch hat?“, fragte er, als sich Mark mit Felix schon halb im Treppenhaus befand.
„Ihr altes Testament?“
„Na ja, vor unserer Trennung haben wir mal beim Notar so was aufgesetzt. Da hat jeder den jeweils anderen als Erbe eingetragen. Keine Ahnung, ob das bei ihrem immer noch so ist.“
Mark schüttelte unmerklich den Kopf. Ernsthaft, dachte er und sagte stattdessen: „Ihr Einfühlungsvermögen verblüfft mich.“
„Danke.“
Ganz bewusst atmete Mark einmal tief durch, bevor er antwortete: „Von einem Testament weiß ich nichts. Selbstverständlich höre ich mich um. Schreibe ich ganz oben auf meine To-Do-Liste.“
„Das ist nett. Nochmals vielen Dank.“
Abermals atmete Mark tief ein und aus. Für Rückfragen überreichte er dem Mann eine Visitenkarte mit seiner Telefonnummer und beeilte sich dann, mit Felix die Stufen hinabzulaufen. Dass sich der Hund die ganze Zeit über in der Wohnung ruhig verhalten hatte, könnte man als gutes Zeichen dafür deuten, dass nicht nur in Sascha Gerboths Oberstübchen, sondern in dessen ganzer Wohnung kaum etwas Lohnenswertes zu holen war. Jedenfalls deutete Mark es so.