Читать книгу Auf kurze Distanz - Sören Prescher - Страница 10
4
ОглавлениеIm Auto sah er, dass Caro ihm eine Nachricht aufs Handy geschickt hatte. Sie erkundigte sich, wie er sich fühlte. Die gute Seele. Dabei war die Frage doch wohl eher, wie es ihr momentan ging. Unter Übelkeit hatte sie heute Morgen nicht gelitten, aber wer wusste schon, ob ihr Befinden nicht inzwischen umgeschlagen war? War es nicht, wie er auf seine Nachfrage hin erfuhr.
„Alles im grünen Bereich“, schrieb sie.
Bei ihm eigentlich auch. Wenn er von einem gewissen Vermissen absah. Kurioserweise schien ihm Gabi jetzt, da sie nicht mehr da war, deutlich präsenter zu sein als in den Jahren zuvor. Er fühlte sich mies dabei, obwohl es dafür streng genommen keinen Grund gab. Eine Trennung bedeutete schließlich, dass man sich nicht mehr so häufig sah und manchmal irgendwann auch nicht mehr an einen dachte.
Dennoch irritierte es ihn, was aus seiner Ex-Freundin geworden war. Eine Escort-Dame? Ein Hingucker war sie zwar schon immer gewesen, damit jedoch hatte er nicht gerechnet. Was war mit der Ausbildung zur Kauffrau im Einzelhandel, die sie damals abgeschlossen hatte? War ihr das nicht genug gewesen? Aber war eine Begleitperson für andere Leute so viel besser?
Nachdenklich lenkte er den BMW zum Rand der südlichen Außenstadt, wo Gabis Wohnung lag. Die ungefähre Strecke kannte er, den Rest übernahm das Navi, das ihn zielsicher zum richtigen Punkt der ellenlangen Katzwanger Straße führte. Ihr Ziel war ein fünfstöckiges Wohnhaus mit hellem Anstrich, nur einen Steinwurf von der Haltestelle Trafowerk entfernt. Von hier aus hatte Gabi definitiv eine gute Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel gehabt. Für Kurzstrecken war ein Auto hier tatsächlich unnötig.
Mit dem Zweitschlüssel ihrer Eltern öffnete Mark zuerst die Tür zum Treppenhaus und vier Etagen weiter oben die Wohnungstür. Einbruchsspuren gab es keine, auch sonst sah alles unverdächtig aus.
Drinnen nahm Mark seinen tierischen Begleiter von der Leine. Nicht nur, damit Felix sich hier die Beine vertreten konnte, sondern auch, um ihn ein wenig herumschnüffeln zu lassen. Wie er ja vergangene Woche erfahren hatte, war der Hovawart ein ehemaliger Polizeihund. Gut möglich, dass ein bisschen was von seiner früheren Arbeit hängengeblieben war. Drogen oder Waffen würde Felix zwar nicht erschnüffeln (dafür war er schließlich nicht ausgebildet), aber wenn irgendwo in der Wohnung eine größere Menge Bargeld deponiert war, standen die Chancen gut, dass die Fellnase bei einem Rundgang darauf stieß.
Während er sich die Gummihandschuhe überzog, wagte sich Mark tiefer in den schlauchförmigen Flur hinein. Links erwartete ihn die Küche, rechts das Schlafzimmer mit ordentlich gemachtem Bett und keinem einzigen Kleidungsstück am Boden. Früher war Gabi nicht so penibel gewesen, was Ordnung betraf, doch dies hatte nichts zu sagen. Auf dem Nachtschränkchen entdeckte er einen Roman von Silke Porath mit einem rundlichen Mops auf dem Cover. Früher hatte sich Gabi eher an Horror und Thriller von Stephen King und Dean Koontz gehalten.
Ja, in achtzehn Jahren veränderte sich viel. Technisch gesehen hatte er es mit einem vollkommen anderen Menschen zu tun. Der in einer für ihn vollkommen fremden Wohnung lebte. Nie zuvor war Mark hier gewesen. Und dennoch entdeckte er in jedem Raum Dinge, die geradezu typisch für Gabi waren und an denen er ihren Stil und Geschmack sofort wiedererkannte. Die kantigen schwarzen Wohnzimmermöbel zum Beispiel, die Schroffheit ausstrahlten, aber auf ihre ganz eigene Art schön waren. Und das im krassen Gegensatz dazu stehende hellbraune Billy-Regal auf der gegenüberliegenden Wandseite, direkt neben den Fenstern, das Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Weil Felix dort gerade an der weißen Gardine herumschnüffelte, ging Mark zu ihm und warf im Vorbeigehen einen Blick ins Regal. Weitere Liebesromane von Silke Porath standen da, dazu aber auch etliche Bücher von Robert Krauss, F. Paul Wilson und einige, die sie vor achtzehn Jahren schon besessen hatte.
„Hast du was gefunden?“, fragte er seinen tierischen Begleiter. Der Hund antwortete ihm, indem er von den Fenstern weiter zum Couchtisch trottete und an den zwei eckigen Bastkörben darunter schnüffelte. Mark folgte ihm auch dahin und untersuchte den Inhalt der Körbe: Handykabel, Modezeitschriften, eine Tüte M&Ms und eine offene Packung Gemüsechips.
„Du hast Hunger, oder?“, vermutete Mark.
Der Hovawart blickte ihn auffordernd an.
„Machen wir nachher. Aber lass die Pfoten von den Süßigkeiten. Schokolade ist nicht gut für Hunde. Die komischen Chips wahrscheinlich auch nicht.“
Mit einem beleidigten Brummen trottete Felix davon. Mark schaute sich weiter um. Rechts neben der Schrankwand und halb verdeckt von einer davorstehenden Stechpalme bemerkte er einen drehbaren, länglichen CD-Ständer. Die Nerdgene ließen ihm keine andere Wahl, als sich den Inhalt genauer anzuschauen. Die Auswahl war bemerkenswert. Über und unter veralteten Pop-Samplern reihten sich düstere Interpreten wie Marilyn Manson, Oomph! und Rammstein. Ziemlich weit unten im Regal entdeckte er mehrere CDs der Deutschrockband Selig, die ihm augenblicklich eine Gänsehaut verschafften. Seine Innereien verknoten sich, und er hatte sofort ein bestimmtes Lied im Ohr.
Ohne dich hieß es und war DER Song für sie beide gewesen.
Und das obwohl er bereits 1994 und damit etliche Jahre vor ihrem ersten Date erschienen war. Dennoch war es genau das Lied, das sie bei ihrer Verabredung in einem Nürnberger Eiscafé gehört und zu dem sie sich das erste Mal geküsst hatten. Später hatte er es für sie auf eine Kassette überspielt, als sie während ihrer Ausbildung für mehrere Tage nach Hannover gereist war. Der Liedtext war nicht ganz so romantisch und handelte von jemandem, der seine Freundin vermisste, die ihn für einen anderen sitzengelassen hatte.
War es ein erstes Omen dafür gewesen, dass auch ihre Beziehung irgendwann unschön enden würde? Vermutlich nicht. Wer hätte das zu Beginn erahnen können? Trotzdem hatte er das Lied nach ihrem Split rauf und runter gehört.
Jetzt wieder daran zu denken war wie eine Reanimation der Vergangenheit und belebte einige weitere verschollene Erinnerungen. Einen Herzschlag lang fühlte er sogar dieselbe Sehnsucht wie damals, als sie das erste Mal für einige Tage voneinander getrennt gewesen waren. Wie verliebt sie damals gewesen waren! So intensiv hatte er danach nie wieder gefühlt. Nicht weil er für die Frauen nach Gabi weniger empfunden hatte, sondern weil bei seiner ersten großen Liebe auch eine gewisse Naivität mit im Spiel gewesen war, die sich mit der Trennung ebenfalls verabschiedet hatte. Seine Gefühle für Caro jetzt waren mit den früheren für Gabi überhaupt nicht zu vergleichen. Sie bewegten sich auf einer ganz anderen Ebene, waren reifer, ebenfalls intensiv, aber auf völlig andere Weise tiefer gehend.
Seufzend wandte er sich vom CD-Regal ab und ermahnte sich einmal mehr, sich nicht von solchen Einzelheiten ablenken zu lassen. Er musste den Fall ausschließlich aus einem professionellen Blickwinkel heraus betrachten. Dies bedeutete, sich in der Wohnung nicht nach alten Erinnerungen umzuschauen, sondern nach Hinweisen, die ihm ein genaueres Bild vom Opfer verschafften. Sowie möglicherweise auch Fehler zutage förderten, die Gabi vor anderen verborgen gehalten hatte.
Aus dem Grund schaute er auf der Rückseite der Schrankwand und hinter den Büchern nach möglichen versteckten Gegenständen. Nachdem er dort nichts fand, nahm er sich die Dekoartikel auf den Schränken sowie die Schrankfächer selbst vor. Es waren die üblichen Verstecke, in denen die Leute einen Notgroschen für schlechte Zeiten, USB-Sticks mit heiklen Daten, wichtige Briefe oder auch ihren privaten Grasvorrat verstauten. Nichts dergleichen schien es bei Gabi zu geben.
Erfolg hatte er lediglich bei der Steckdose neben dem Sofa. Völlig unscheinbar hing ein Smartphone an einem zweiten Ladekabel. Er konnte sein Glück kaum fassen und war mit einem Satz an der Stelle. So viel zu der Überlegung, dass der Räuber das Telefon mitgenommen hatte. Es war ein etwa zwei Jahre altes Gerät mit normalen Abnutzungserscheinungen. Nur eine Sekunde darauf folgte der Dämpfer: Das Telefon war ausgeschaltet, der Akku zeigte inzwischen volle Kapazität. Mark fischte eine Beweismitteltüte aus seiner Tasche und ließ das Fundstück darin verschwinden.
Im Anschluss stellte er sich in die Zimmermitte und überlegte, was die Wohnung als solche über ihre Bewohnerin aussagte. War das die Bleibe einer selbstbewussten Frau oder einer, die etwas kompensierte oder nach etwas auf der Suche war?
Ihm fiel auf, dass die Räume nicht nur ordentlich, sondern obendrein sehr sauber waren. In der Hinsicht schien Gabi sich erheblich weiterentwickelt zu haben. Er hingegen war manchmal immer noch derselbe alte Schludrian wie früher, der gern mal einen benutzten Kaffeebecher irgendwo stehen ließ oder wochenlang keinen einzigen Gedanken ans Staubwischen verschwendete. Wenn sich Caro nicht regelmäßig darum kümmern würde, würde es in ihrer Wohnung sicherlich deutlich anders aussehen.
Auf einem hüfthohen Schrank neben dem Sofa standen ein halbes Dutzend gerahmte Fotos, die Gabi mit Familie, Freunden und Bekannten zeigte. Manche Gesichter darauf sagten ihm etwas, andere nicht. Doch da die unbekannten Leute etwa in seinem Alter waren, vermutete er, dass sie Freunde von Gabi waren. Auffällig war, dass kein einziges Bild eine Umarmung oder einen Kuss zeigte. Einen neuen Lover gab es demnach nicht. Das deckte sich mit dem, was die Familie gesagt hatte.
Er ging in die schmale Küche, wo Felix gerade skeptisch um den Mülleimer herumtapste. Eine neue Spur war es nicht. Vermutlich hatten den Hund lediglich die darin entsorgten Essensreste interessiert. Auch die Schubfächer und Küchenschränke förderten nichts von Bedeutung zutage.
Interessanter war da das zugeklappte Notebook, das neben einigen Werbeprospekten auf dem schmalen Esstisch stand. Kurz überlegte er, den Computer gleich hier und jetzt zu untersuchen, aber vermutlich wäre er bereits an der Login-Maske gescheitert. Bevor er dabei irgendein Unheil anrichtete, überließ er die Arbeit lieber den Kollegen von der IT-Abteilung, die sich das gute Stück ohnehin vornehmen würden. Heutzutage war das Online-Leben der Menschen fast genauso aufschlussreich wie ihre Aktivitäten im realen Leben. Manchmal sogar mehr als das.
Mark interessierte sich da eher für das Schlafzimmer. Die Wände waren in einem hellen Blau gestrichen, die Bettbezüge und Vorhänge waren ebenfalls blau, nur eine Spur dunkler. Sein Blick fiel auf die weiße Spiegelkommode neben dem Kleiderschrank. Oder vielmehr auf die Blumenvase mit dem Strauß roter Rosen darauf.
Was haben wir denn hier, fragte er sich überrascht. Dass Frauen Blumen mochten, war kein Geheimnis. Auch nicht, dass sie sich gelegentlich selbst welche kauften, wenn ihnen keiner welche schenkte. Allerdings keine rote Rosen. Und vor allem kein Dutzend davon. Diese spezielle Blumensorte – insbesondere in dieser Farbe – war in der Regel für Verehrer und Liebende vorbehalten. Hatte Gabi eventuell einen geheimen Liebhaber gehabt, von dem ihre Eltern und ihr Bruder noch nichts wussten?
Er dachte einen Moment darüber nach und fand die Idee mit jedem Atemzug plausibler. Von einem Lover erzählte man seiner Familie erst, wenn es wirklich was zu erzählen gab. Wenn die Sache wirklich ernst wurde. Davor war die beste Freundin für so was der Ansprechpartner Nummer Eins. Mark notierte sich den Gedankengang auf seinem Block, bevor er sich den Kleiderschrank vornahm. Felix gesellte sich zu ihm und beobachtete interessiert, was es darin zu entdecken gab.
Jede Menge auf Bügeln hängende Kleider. Der Großteil waren normale Ausgehfummel von Esprit, Desigual und anderen gängigen Marken. Nicht billig, aber auch nichts, was die Top Models auf dem Laufsteg trugen. Zwei der Kleider allerdings gingen von Stil und Farben her eher in Richtung von dem Stück, das sie gestern Abend getragen hatte. Interessiert betrachtete er sie genauer. Das eine war ein weinrotes Seidenkleid von Fabiana Filippi. Die Marke sagte ihm nichts, was nicht viel zu bedeuten hatte. Jede Faser des Kleides strahlte Exklusivität und Eleganz aus. Einen solchen Fummel bekam man – wie meinte es das eine Teenie-Mädel gestern Abend so treffend? – nicht im KiK oder NKD.
Nicht viel anders war es beim zweiten Kleidungsstück. Ein schwarzes Trägerkleid, auf dem schwarzen Label hinten am Rücken stand Emporio Armani. Als wäre das nicht beeindruckend genug (dieser prominente Name sagte sogar Mark etwas), hing an einer kleinen Schnur ein dunkles Pappschild mit Armani-Logo in einer milchigen Plastikhülle. Auf der Hülle klebte ein Preisschild. Satte 649 Euro standen darauf.
Uff.
Das war entschieden mehr, als Mark vermutet hatte. Obwohl der Vergleich etwas hinkte, erinnerte es ihn sofort an die eine Filmszene aus The Game, in der Michael Douglas einen seiner Schuhe verlor und trocken meinte: „Da verabschieden sich gerade tausend Dollar.“ Die Frau neben ihm hatte verwundert gefragt: „Ihre Schuhe kosten tausend Dollar?“ Er daraufhin: „Ja, einer davon.“
Ganz so teuer war es hier nicht, dennoch kostete auch Gabis Kleid erheblich mehr, als Mark in der Regel für seine Kleidung ausgab. Nachdem er den ersten Schock verdaut hatte, besah er sich das Preisschild erneut. Nicht nur die Summe stand darauf, sondern auch die Adresse des exquisiten Modehauses Breuninger in der Nürnberger Karolinenstraße. Nachdenklich notierte er sich das und machte mit seinem Smartphone Fotos von den zwei Kleidern sowie dem Etikett. Er fragte sich, ob sie die teuren Fummel für ihren Escort-Job gebraucht hatte oder ob vielleicht ihr Rosenkavalier eine dicke Brieftasche besaß. Beides ließ einige sehr interessante Gedankengänge zu.
Links zwischen dem Kleiderschrank und der Fensterwand stand ein schulterhoher länglicher Schrank. Im oberen der drei Fächer hatte Gabi einige Blusen abgelegt, in den zwei Fächern darunter befanden sich mehrere breiten Mappen mit Dokumenten. Ganz oben darauf lagen die Unterlagen einer Hausrats- und Lebensversicherung. In Letzterem wurde ihre Mutter als Begünstigte angegeben. Im Stapel daneben ging es um Rentenbescheide und verschiedene Anstellungsverträge. Die ältesten gingen fünfzehn, der aktuellste dreieinhalb Jahre zurück. Die Mappe ganz rechts enthielt Lohnabrechnungen einer Firma namens Puls Conception. War dies das Escort-Unternehmen? Der Firmenname war so unverfänglich, dass er alles und nichts bedeuten konnte. Ein Blick auf das Datum sorgte für mehr Klarheit: Die Belege waren chronologisch geordnet. Der jüngste war erst wenige Wochen alt.
Bingo.
Die Beträge ganz unten auf der Abrechnung variierten. Mal waren es bloß tausendsiebenhundert Euro, dann wieder knapp über dreitausend Euro. Abhängig war es offenbar vom Stundenlohn. Außerdem wurde eine recht üppige Vermittlungsprovision von dreißig bis fünfzig Prozent abgezogen, abhängig von bestimmten Klassifizierungen, die lediglich als Kategorie A bis E aufgeführt wurden. Was immer das auch bedeutete. Interessant war zudem, dass Gabi für ihre Arbeit offenbar extra ein Kleingewerbe angemeldet und als Selbstständige gearbeitet hatte. Dazu passend folgten weiter unten die Belege der privaten Krankenversicherung, mit ebenfalls recht deftigen Beträgen.
Im Kopf überschlug er die Summen und rechnete zusammen, wie viel ihr monatlich zum Leben blieb. Konnte man sich davon teure Designerkleider kaufen? Mark grübelte hin und her – und musste sich eingestehen, dass er eindeutig zu wenig Ahnung von der Materie hatte.
Eine halbe Stunde später verließen sie die Wohnung ohne neue Erkenntnisse. Es hatte weder versteckte Liebesbriefe im Nachttischschränkchen noch irgendwelche anderen konkreten Hinweise auf einen geheimen Lover gegeben. Abgesehen von den Rosen hatte er nichts.
Was die Liebesbriefe betraf – schrieb heutzutage überhaupt noch jemand so etwas? Schon vor knapp zwanzig Jahren, als Gabi und er zusammen gewesen waren, war das nicht mehr zeitgemäß gewesen. Inzwischen dürfte derartige Kommunikation komplett über Anrufe, SMS oder WhatsApp laufen.
Vielleicht hatten die Nachbarn ja etwas von gelegentlichen Männerbesuchen mitbekommen. Direkt gegenüber wohnte eine gewisse Annette Silberstein. Ein altdeutscher Name, der nahelegte, dass sich die Bewohnerin mindestens im Rentenalter befand. Ob so jemand die richtige Ansprechpartnerin war?
Mark irrte in jeder Hinsicht. Die Frau, die nach seinem Klingeln öffnete, war um die dreißig, schlank und fast so groß wie Mark. Sie hatte lange rotbraune Haare, grüne Augen und eine Handvoll Sommersprossen im Gesicht. Kaum hatte sie Felix bemerkt, beugte sie sich hinab und begann, ihm das Fell zu kraulen. Der Hovawart erwies sich als äußerst bestechlich und nahm jegliche zusätzliche Streicheleinheit bereitwillig an. Was vollkommen untypisch für den sonst eher zurückhaltenden Hund war.
Die Überraschungen gingen noch weiter: Die Frau entpuppte sich nicht nur als Tierliebhaberin, die in ihrer Kindheit ebenfalls einen Hund besessen hatte, sondern auch als enge Freundin von Gabi. Offenbar war dies die befreundete Nachbarin, die Gabis Familie erwähnt hatte.
Sowie Mark seinen Ausweis zeigte und von dem Vorfall in der Gasse erzählte, wurde Annette auf einen Schlag kalkweiß. Mit der einen Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, die andere hielt sie sich vor den Mund. „Bitte nicht.“
Einige Sekunden darauf fragte sie ihn mit leiser Stimme, was genau passiert war. Mark erzählte es ihr, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, und fragte, wann sie Gabi das letzte Mal gesehen hatte.
„Das war vorgestern früh. Ich war gerade auf dem Sprung, weil ich auf dem Weg zur Arbeit war.“
„Was hat sie da gemacht?“
„Nichts weiter. Nach der Post in ihrem Briefkasten geschaut. Ich hab sie kurz gegrüßt und bin dann weiter.“
„Wann war das?“
„So gegen acht.“ Es klang mehr wie eine Frage als wie eine Feststellung.
„Kommt die Post hier schon so früh?“
Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich immer erst gegen Mittag.“
„Wie hat Gabi an dem Morgen gewirkt?“
„Sie war gut drauf. Hat gelächelt und mir zugewinkt. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich mich mit ihr unterhalten. So bin ich einfach an ihr vorbeigehuscht. Ich war echt spät dran.“
Er notierte die Informationen, obwohl er wusste, dass sie ihm nicht viel weiterhelfen würden. „In den Tagen davor, wie hat sie sich da verhalten?“
Annette dachte kurz darüber nach. „Ganz normal, würde ich sagen. Sie war nicht niedergeschlagen oder so, eher das Gegenteil. In der letzten Zeit ging es bei ihr richtig aufwärts.“
Es war ein kleiner Trost für ihn, dass Gabi in ihren letzten Lebenswochen offenbar nicht gelitten hatte. Dennoch ließ der letzte Satz der Nachbarin einiges an Spielraum. „Also gab es davor eine Zeit, wo es ihr nicht so gut ging?“
Sie zögerte abermals, bevor sie antwortete. „Vor drei, vier Monaten hat sich ihr Freund von ihr getrennt. Das hat sie ziemlich mitgenommen. Obwohl die zwei bloß ein paar Monate zusammen waren. Manchmal passt es eben einfach nicht.“
„Wie heißt der Ex mit Nachnamen?“
„Liebel. Roland Liebel. Sieht gar nicht mal schlecht aus. Lang, schlank, dunkle Haare und grüne Augen. Nicht schlecht. Allerdings charakterlich nicht ganz mein Fall.“
„Will meinen?“
„Na ja, er war immer bierernst. Ich glaube, ich hab ihn nie lachen sehen. Selbst wenn jemand einen richtig guten Witz riss, hat er höchstens mal geschmunzelt. Manchmal nicht mal das. So was mag ich nicht. Ich stehe auf Typen, die das Leben locker und sich selbst auch nicht so ernst nehmen.“
„Ist er der Typ, der Gabi gelegentlich Blumen geschenkt hat?“
„Roland?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht mal am Anfang ihrer Beziehung. Das war ihm alles zu kitschig. Wahrscheinlich hat er deshalb gleich noch im Januar Schluss gemacht, damit er ihr ja nichts zum Valentinstag kaufen muss.“
„Scheint ja ein echter Charmebolzen zu sein.“
„Er war schon nett. Auf seine eigene Art. Roland ist eher der Mann, den man anruft, wenn man die Wohnung gestrichen oder Lampen an die Decke montiert haben will.“
„Das klingt eher konservativ.“
„In mancher Hinsicht ist er das auch.“
„Dann war er von Gabis Job sicher nicht so begeistert.“
„Das können Sie laut sagen. Aber Sie würden vermutlich auch nicht gerade jubeln, wenn Ihnen Ihre Freundin gesteht, dass sie als Hostess arbeitet.“
„Wahrscheinlich. Was können Sie mir noch über Gabis Arbeit erzählen? Zum Beispiel den Namen ihres Arbeitgebers?“
Mit einem Mal wirkte die Nachbarin sehr vorsichtig. Eine natürliche Schutzreaktion, wenn Zivilpersonen von der Polizei befragt wurden. Keiner wollte indiskret sein und Dinge verraten, die ihn oder jemand anderen belasteten. Mark hatte das schon mehrfach erlebt und wusste entsprechend darauf zu reagieren. Mit aufgeschlagenem Notizbuch und einem Stift in der Hand sagte er: „Es geht um einen allgemeinen Überblick. Wir stehen ganz am Anfang unserer Untersuchung und müssen sämtliche Punkte abklären. Ein Großteil davon sind lediglich Informationen für die Unterlagen.“
Das nahm ihr zwar einen Teil der Skepsis, dennoch zögerte sie noch einen Moment, bevor sie antwortete: „Die Firma heißt Puls Corporation oder Puls Inception oder so was in der Art. In den zwei Jahren, die ich Gabi schon kenne, hat sie für die gearbeitet. Wo die ihr Büro haben, weiß ich nicht. Das alles ist nicht so ganz meine Baustelle. Ich weiß nur, dass sich Gabi mit dem Job so weit arrangiert hat. Sicherlich war das nicht unbedingt der Beruf, von dem sie als Teenie geträumt hat, aber wie meinte sie mal zu mir: ‚Letztlich ist es eine Arbeit wie viele andere. Du gehst aus dem Haus, hast zu tun und am Monatsende kriegst du deinen Lohn.‘ Nur eben, dass es kein typischer Nine-to-five-Job war und sie sich mit fremden Männern verabredete.“
„Wie weit gingen diese Verabredungen?“ Sein Herz schlug schneller, als er die Frage stellte.
Die Nachbarin blickte ihm direkt in die Augen. Unter ihre Traurigkeit mischte sich noch etwas anderes. „Das weiß ich nicht genau. Ich weiß auch nicht, was da alles zur Geschäftspolitik gehört. Über ihre Arbeit hat sie nicht viel erzählt, und ich habe irgendwann nicht mehr nachgefragt. In dem Bereich ist Diskretion das A und O.“
„Also kennen Sie keinen ihrer Kunden?“
Sofortiges Kopfschütteln.
„Ist Gabi von ihren Begleitern mal daheim abgeholt worden?“
„Da ist mir nichts aufgefallen. Ist ja auch schwer zu sagen, welcher der Männer, die sie über die Jahre hinweg besucht haben, ein Bekannter und wer ein … äh … Kunde war. Ist es in dem Geschäft nicht eh so, dass man sich an einem neutralen Ort trifft? Also ich würde nicht wollen, dass jeder Geschäftspartner weiß, wo ich wohne.“
„Was arbeiten Sie denn?“
„Ich bin Einkäuferin in einem Großhandel für Baustoffe.“
„Haben Sie eine Ahnung, ob Gabi nach Roland einen neuen Freund hatte? War das vielleicht der Grund für ihre gute Laune?“
Annette Silberstein runzelte die Stirn und ließ den Blick in die Ferne schweifen. „Sie hat keinen erwähnt.“
„Schade. Um noch mal kurz auf den Ex zurückzukommen: Wo könnte ich den um diese Uhrzeit antreffen?“
Sie zuckte mit den Schultern, sichtlich erleichtert, dass sie diese Frage leicht beantworten konnte. „Der dürfte in der Baier Autowerkstatt zu finden sein. In der Rollner Straße, nicht weit von dem großen Edeka entfernt. Er arbeitet als Fahrzeuglackierer oder wie man das nennt.“
„Vielen Dank. Noch eine Frage für meine Unterlagen: Was haben Sie gestern Abend gemacht?“
Ihre Augen weiteten sich. Eine weitere erwartbare Reaktion.
„Ich war zu Hause, habe ferngesehen.“
„Kann das jemand bezeugen?“
„Nein. Das heißt, doch. Ich hab mir die neuen Shameless-Folgen bei Amazon Prime Video angeschaut. Drei habe ich ganz geschafft, bei der vierten bin ich eingepennt. Ich zeige Ihnen das gern in meiner Playlist.“
„Laufen die Episoden nicht einfach nacheinander durch?“
„Das schon, aber ich habe eine Jugendschutz-Sperre drin, weil die Folgen alle FSK 16 sind und meine Nichte öfters mal bei mir übernachtet. Da muss ich vor dem Start jeder neuen Folge einen Pin-Code eingeben.“
Das könnte zwar theoretisch auch jeder andere getan haben, aber das erwähnte Mark nicht. Bislang zählte Annette Silberstein nicht zum Kreis der Verdächtigen. Also notierte er sich nur alles brav in seinem Büchlein, überreichte ihr eine Visitenkarte und verabschiedete sich.
Die Befragung der anderen Nachbarn führte zu keinen neuen Erkenntnissen. Diejenigen, die anwesend waren, empfanden Gabi durch die Bank weg als nette junge Frau, mit der es keinen Ärger gab und die nie durch irgendwelche Störungen aufgefallen war. Da ein Großteil der Bewohner weit jenseits der Fünfzig war, wunderte es Mark wenig, dass keiner von ihnen viel Kontakt zur deutlich jüngeren Nachbarin gehabt hatte und sich die Kommunikation lediglich auf Begrüßungen und kleine Small Talks übers Wetter beschränkte.
Einzig eine ältere Dame im Erdgeschoss reagierte anders. Die Frau hatte panische Angst vor Hunden und bestand darauf, das Gespräch durch die halb geschlossene Wohnungstür zu führen. Sie kannte Gabi von gemeinsamen Einkäufen im Supermarkt, wo sie sich nebenbei über alles Mögliche unterhalten hatten. Über die Escort-Arbeit wusste sie nicht viel, aber Gabi hatte ihr von Roland ebenso wie von der Trennung erzählt. Eine neue Bekanntschaft hatte Gabi mit keiner Silbe erwähnt, doch auch der Rentnerin war aufgefallen, dass sie in der letzten Zeit regelrecht gestrahlt hatte. Gestern und vorgestern hatte sie Gabi aber überhaupt nicht gesehen.