Читать книгу Auf kurze Distanz - Sören Prescher - Страница 6

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Es regnete in Strömen, mit Tropfen so dick, als wären es Ausrufezeichen. Du bist schuld, schienen sie ihm vorzuwerfen, mit jedem Mal, dass sie die Wagenscheibe trafen.

Etwas ist passiert. Und du bist dafür verantwortlich, weil du nicht da warst. Weil dein blöder Fall wichtiger war als Caro.

Die Gewissheit krallte sich wie eine Klauenhand um Mark Richters Herz und presste es unbarmherzig zusammen. Im Kopf hallten die letzten Unterhaltungen mit Caro wider, bei denen er mehr zugehört als dazu beigetragen hatte. Auch ihre Miene in den vergangenen Tagen hatte er vor Augen. Den verstörten Blick …

Mark hatte ganz klar gesehen, dass etwas im Argen lag, doch er hatte absichtlich nicht nachgehakt. Weil er mit den Gedanken ganz woanders gewesen war – und das schon seit Tagen.

Streng genommen war es da nur konsequent, dass sie heute nicht auf seine Nachrichten oder Anrufversuche reagiert hatte. Weiteres Wasser auf den Mühlen. Andererseits: Was, wenn sie zu dem Zeitpunkt aus irgendeinem Grund gar nicht mehr hatte reagieren können?

Vor ihm wechselte die Ampel auf Rot, und Mark trat fluchend auf die Bremse. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich wieder auf Grün umsprang und sich die Autos vor ihm in Bewegung setzten.

„Komm schon!“, fauchte er den Fahrer eines gelben Fiats an, als dieser nicht schnell genug Gas gab. „Es gibt Leute, die haben es eilig.“

Vom Beifahrersitz aus bellte Felix zustimmend. Er war ein vier Jahre alter Hovawart-Rüde mit dunkelbraunem Fell und einigen blonden Flecken an Hals, Bauch und Beinen, den Mark bei den Ermittlungen zu seinem letzten Fall kennengelernt hatte. Obwohl Mark eigentlich alles andere als ein Hundefan war, hatte es der Vierbeiner irgendwie geschafft, sich in sein Herz zu mogeln. Dass Felix bis zum Tod seines früheren Diensthundeführers als Geldspürhund im Polizeidienst tätig gewesen war, hatte vermutlich zu der schnell wachsenden Sympathie beigetragen. Technisch gesehen war der siebzig Zentimeter große Hovawart so etwas wie ein Kollege.

Der Fahrer des Wagens vor ihnen gab zwar mittlerweile mehr Gas, hielt sich aber überkorrekt an die Geschwindigkeitsvorschriften. Und das um kurz nach halb zehn am Abend, wenn eh kaum noch Verkehr herrschte. Mark fuhr so nah auf, dass die Stoßstange seines BMW-Dienstwagens beinahe die Fiat-Heckklappe berührte. Am liebsten hätte er den Schleicher angeschoben oder abgedrängt.

Wieso zum Henker fuhr der Kerl nicht schneller? Doch selbst mit hundert Stundenkilometern wäre es Mark vermutlich nicht schnell genug gegangen. Dafür waren seine Nerven einfach zu angespannt. Sein Herz raste, und seine Hände waren eiskalt. Vor dem Losfahren hatte er es nicht mal geschafft, die Adresse ins Navi einzugeben, die ihm der befreundete Kollege von der Leitstelle gegeben hatte, der für die Koordination neuer Kriminalfälle zuständig war. Allein dessen Rat „Gerade kam eine neue Meldung rein. Es ist besser, wenn du gleich vorbeikommst“ hatte genügt, um Mark mit Felix nach draußen stürmen zu lassen. Er hatte es nicht einmal gewagt, nachzuhaken, was genau der Kollege damit meinte. Schließlich arbeitete Mark in der Mordkommission und bearbeitete in der Regel nur eine Art von Fällen.

Mark atmete tief durch. Sicherlich gab es für alles eine banale Erklärung … Aber dass er seine Freundin den ganzen Tag über nicht erreicht hatte, legte schon einige sehr eindeutige Schlüsse nahe, denn so etwas war noch nie vorgekommen. Sonst hörten sie mehrmals täglich voneinander.

„Bitte nicht Caro“, rief er wie ein Mantra und bat sogar seinen Beifahrer um Hilfe: „Bitte nicht Caro, Felix.“

Der Hund hielt sich mit Erwiderungen zurück. Sicherlich spürte er, wie angespannt sein neues Herrchen war, und wurde seiner Rolle als treuer Weggefährte und Zuhörer einmal mehr gerecht.

Mark spürte, wie ihn die Panik immer mehr übermannte. Ihm war nach Schreien, Fluchen und Heulen zumute. Tausend ungute Gründe für Caros Verschwinden schossen ihm durch den Kopf, und er zwang sich, sie alle rasch wieder abzuschütteln. Am besten war es, an gar nichts zu denken. Sich nicht selbst verrückt zu machen. Durchzuatmen. Ruhig zu bleiben.

Als ob das so einfach wäre.

Die Häuser und Straßen huschten an ihm vorbei, ohne dass er sie groß beachtete. Er wusste ungefähr, wohin er fahren musste. Den Rest würde er schon finden. Und tatsächlich: Nachdem er hinter dem Bahnhof in die Pillenreuther Straße eingebogen war, dauerte es nicht lang, bis er die ersten Blaulichter in nicht allzu weiter Ferne erblickte.

Für Mark das Signal, das Gaspedal noch einmal bis zum Anschlag durchzudrücken. Erst kurz vor der Breitscheidstraße bremste er ab und suchte sich die nächstbeste Parkmöglichkeit. Notfalls hätte er auch in zweiter Reihe gehalten, doch er fand einen freien Platz nicht weit von der Gasse entfernt, in der er die anderen Polizisten gesehen hatte.

„Bitte nicht Caro“, wiederholte er noch einmal und riss die Fahrertür auf. Ein spitzer Pfiff genügte, und Felix folgte ihm zur selben Tür hinaus. Draußen leinte er ihn wie unter Autopilot an. Als er die Straße überquerte, hielt Mark vor Anspannung den Atem an.

Mit zitternden Knien folgte er zwei Kollegen von der Spurensicherung in die Gasse. Vor den rot-weißen Absperrbändern hob ein uniformierter Streifenpolizist mahnend die Hand. Er sagte irgendwas, was Mark nicht verstand. Wie benebelt zeigte er seinen Dienstausweis vor und ging weiter, ohne auf die Reaktion des Mannes zu achten.

Regen klatschte ihm ins Gesicht, doch er bemerkte es kaum. Selbst Felix war nur ein gelegentlich an seiner Leine zerrendes, weit entferntes Etwas. Alles, was Mark unterwegs wahrnahm, waren die herumgekommenen Backsteinmauern der umliegenden Gebäude, die an den Seiten stehenden Müllcontainer sowie der achtlos weggeworfene Unrat auf dem regennassen Boden. Doch all das war bloß Beiwerk auf dem Weg voran. Sein Blick war starr nach vorn gerichtet. Auf die Stelle hinter den Containern, zwanzig Meter entfernt. Die, um die sich eine Traube von Menschen gebildet hatte.

Unter dem aufgespannten Regendach lag jemand.

Eine Frau. Sie trug einen dunklen Rock oder ein Kleid und lag mit angewinkelten Beinen da.

War es Caro?

Er suchte nach vertrauten Details. Gleichzeitig fürchtete er sich davor, diese zu finden. Viel zu sehen war momentan ohnehin nicht. Die Finsternis verschluckte ein Großteil der Einzelheiten, und das, was zu sehen war, verdeckten die Kollegen von der Spurensicherung und Rechtsmedizin, die rund um den Auffindeort herumwuselten.

Ein wenig erinnerte ihn das Bild der auf dem kalten Boden liegenden Frau an seinen letzten Fall. Vor anderthalb Wochen war die enge Freundin einer Braut während deren Hochzeitsfeier ermordet worden. Obwohl die Tat erst vergangene Woche geschehen war, erschien es ihm wie Jahre.

Sein Blick blieb stur auf die reglose Person gerichtet. Wann immer jemand beiseitetrat, reckte er den Kopf, um vielleicht doch etwas mehr zu erkennen. Vergeblich. Ständig stellte sich ihm jemand Neues in den Weg.

Als er die Menschentraube erreichte, hämmerte sein Herz so massiv, dass Mark schwindlig wurde. Verzweifelt streckte er die Hand aus, um sich an der Kante des Metallcontainers festzuhalten.

In diesem Moment trat vor ihm jemand zur Seite und verschaffte ihm damit einen ungehinderten Blick auf den Leichnam.

Es war eine Frau zwischen dreißig und vierzig Jahren.

Genau wie Caro.

Marks Innereien zogen sich zusammen.

Sie hatte brünettes Haar.

Genau wie Caro.

Schlanke Figur.

Wie Caro.

Schätzungsweise eins sechzig bis eins siebzig groß.

Wie Caro.

Selbst ihr Gesicht war ähnlich.

Aber es war nicht Caro.

Grenzenlose Erleichterung durchflutete Mark. Das Gefühl war so intensiv, dass ihm nach Lachen zumute war. Am liebsten hätte er getanzt.

„Sie ist es nicht“, flüsterte er Felix zu. Mark wollte sich gerade abwenden, als ihn etwas stutzig machte.

Im ersten Moment konnte er nicht einmal sagen, was es war.

Dann traf ihn die Erkenntnis siedend heiß. Sein Herzschlag setzte wieder aus.

„Oh Gott“, keuchte Mark.

Mit einem Mal verstand er auch, wieso der Koordinator ihm ausgerechnet diesen Fall zugewiesen hatte. Der Mann von der Leitstelle war ein langjähriger Kollege, der Mark schon ganz am Anfang seiner Polizeilaufbahn gekannt hatte. Damals, vor fast zwanzig Jahren, als er noch ein blutjunger Streifenpolizist in der Ausbildung gewesen war. Damals, als er nicht mit Caro zusammen gewesen war, sondern mit Gabi.

Die auf dem Asphalt liegende Frau war deutlich älter als der Teenager, den Mark einmal gekannt und geliebt hatte. Sie trug andere Kleidung und eine andere Frisur, und auch in Sachen Make-up hatte sich seither einiges getan. Obwohl er sie seit über zehn Jahren nicht gesehen hatte, bestand für ihn kein Zweifel: Es war eindeutig Gabi.

Seine große Liebe. Die, die ihm einmal buchstäblich alles bedeutet hatte und von der er einmal gedacht hatte, dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen würde.

Ein süßer Traum, der in tausend Teile zerschellt war.

Die Einsicht glich einem Stich tief in sein Herz. Danach pochte es zwar weiter, blutete aber schmerzhaft bei jedem neuen Schlag.

Mark war völlig verwirrt. Wie konnte er innerhalb einer Minute so rasant zwischen immenser Angst, massiver Erleichterung und jetzt wieder Benommenheit und Seelenpein hin und her wechseln? Nie zuvor hatte er eine derartige Achterbahn der Gefühle erlebt. Nie zuvor hatte er sich dermaßen rat- und hilflos gefühlt. Was um alles in der Welt sollte er tun?

Deinen Job, verdammt noch mal, ermahnte ihn eine innere Stimme. Es war die Stimme der Vernunft. Die, die ihm schon oft im Leben weitergeholfen hatte.

Automatisch begann er, wieder wie ein Polizist zu denken. Das hier war ein Tatort. Und er war der ermittelnde Kommissar. Wie unzählige Male zuvor musterte er kurz das Gebiet rund um die Leiche. Am Boden befanden sich mehrere kleine Pfützen. In manchen davon schimmerte es bräunlich. Schwer zu sagen, ob es Schmutz oder Blut war. Die Backsteinwand hinter der Leiche war mit Kratzern, Graffitis und Dreck übersät. Auf den ersten Blick stellte er daran nichts Verdächtiges fest.

Dafür nahm er die vertrauten Gesichter seiner Kollegen jetzt erst richtig wahr. Fast erwartete er, seinen chaotischen Partner Dominik zu erblicken. Aber der saß vermutlich noch immer in der Eckkneipe, wo sie vorhin ein Feierabendbier getrunken hatten, oder jagte irgendwelchen obskuren Verschwörungstheorien hinterher. Links neben den Containern kniete eine sportliche Enddreißigerin mit brünettem Pferdeschwanz und runden Kulleraugen und suchte den Asphalt nach Spuren und Schuhabdrücken ab. Nicole war eine gute Freundin von ihm, die zwar drei, vier Jahre älter war als er, von vielen Kollegen aber aufs gleiche Alter oder jünger geschätzt wurde. Was ihm auch jetzt wieder bewusst wurde. Durch die Strapazen der letzten Tage fühlte sich Mark steinalt. Und hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug weiter zu altern. Just in diesem Moment bemerkte Nicole ihn.

„Hallo, Mark“, grüßte sie und stand auf. „Dich und Felix hätte ich hier nicht erwartet. Hattet ihr nicht noch mit dem Kaiser-Fall zu tun?“

„Technisch gesehen ist der ja abgeschlossen. Sind nur noch wenige Fragen offen. Die klären wir schon noch.“

Zwei uniformierte Polizisten gesellten sich zu ihnen und zückten ihre Notizblöcke. Beide waren in den Vierzigern. Der eine mit ebenso kahlem wie rundem Kopf, der andere mit mehr Haaren, aber einer sehr kantigen Nase. Mark kannte die zwei vom Sehen her. „Was haben wir hier?“

„Weibliche Tote“, las der Kahlkopf ab. „Name: Gabriele Brie… Brett…“ Er kniff die Augen zusammen, um seine eigene Schrift besser lesen zu können.

Brettschneider, vervollständigte Mark in Gedanken, hütete sich aber davor, es laut auszusprechen.

„Brettschneider“, bestätigte gleich darauf der Kahlkopf. „Alter: 37 Jahre. Wurde gegen 21:00 Uhr mit mehreren Stichwunden im Oberkörper aufgefunden. Davon abgesehen keine weiteren Gewaltspuren. Nach einer versuchten Vergewaltigung sieht es nicht aus. Sie ist unverheiratet und lebt laut Melderegister allein in einer Wohnung in der Katzwanger Straße. Die nächsten Angehörigen sind ihre Eltern und ihr Bruder.“

„Wer hat sie gefunden?“

„Eine Gruppe von Jugendlichen.“ Er wies auf eine Handvoll junger Leute, die mit den Rücken zu ihnen neben einem Rettungswagen standen und sich mit den Sanitätern und weiteren uniformierten Polizisten unterhielten. Im grellen Schein des alles verzerrenden Blaulichts waren nicht allzu viele Einzelheiten zu erkennen.

Dafür erhob sich der Rechtsmediziner, der bis eben den Leichnam untersucht hatte, und trat auf sie zu. Ziegler war ein Mann um die fünfzig mit kurzen grauen Haaren und herabhängenden Mundwinkeln, der ähnlich wie Angela Merkel selbst bei bester Laune ziemlich miesepetrig aussah. Im Moment wirkte seine ernste Miene überaus passend.

„Anhand der Körpertemperatur würde ich sagen, die Frau ist seit zwei, drei Stunden tot. Genaueres kann ich nach der Obduktion sagen. Sie starb vermutlich durch mehrere Stiche in den Abdomen. Viel Blut scheint dabei nicht ausgetreten zu sein. In ihrem Gesicht hat sie zahlreiche Abschürfungen, dazu blaue Flecke an ihrem Körper. Ihre Strickjacke ist an einigen Stellen eingerissen, darunter gibt es weitere Kratzer. Wenn Sie mich fragen, ist sie überfallen worden. Als sie sich wehrte, ging der Räuber nicht gerade zimperlich mit ihr um.“

Ein Überfall. Das klang plausibel und wäre typisch für dieses Viertel, das nicht unbedingt zu den sichersten der Stadt zählte. Dennoch weigerte sich Mark, diese Erklärung bereits jetzt als gegeben anzunehmen. Nichts war fataler als eine vorgefertigte Meinung. Wenn man sich frühzeitig auf eine Theorie festlegte, suchte man nur noch nach Beweisen, die diese These untermauerten. Deshalb überhörte er auch Nicoles Hinweis, dass sie bisher nichts gefunden hatte, was der Aussage des Gerichtsmediziners widersprach, sondern kniete sich neben dem Leichnam nieder, um sich selbst ein Bild zu machen. Felix hielt sich an seiner Seite, blieb aber auf Abstand, so als wüsste er, dass er sich hier besser fernhielt. Außerdem könnte der Anblick die längst nicht verheilten Wunden vom Tod seines Frauchens wieder aufreißen. Die Tragödie lag noch keine zwei Wochen zurück.

Gabi hatte die Augen geschlossen. Sie wirkte so friedlich. Buchstäblich, als würde sie bloß schlafen. Nur mit dem Unterschied, dass dies der große Schlaf war, aus dem sie nie wieder erwachen würde. Mark dachte daran, wie er früher gern neben ihr im Bett gelegen und sie beim Schlafen beobachtet hatte. Sofort jagte ihm eine eisige Gänsehaut die Schultern hinab, und sein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an.

Ach, Gabi. Wer hat dir das nur angetan? Was ist geschehen? Wieso du?

Tränen traten in seine Augen, und er biss sich auf die Zunge, um den Schmerz zu kanalisieren. Es funktionierte, aber elendig fühlte er sich dennoch. Um keinen weiteren Tränenrückfall zu erleiden, atmete er tief durch und versuchte, wieder alles von der dienstlichen Warte aus zu betrachten.

Es war ein Schutzmechanismus, der funktionierte. Mit Gummihandschuhen über den Fingern nahm er die üblichen Prüfungen vor. Er musterte die drei Einstichstellen, alle länglich und mit Einblutungen. Dann drehte er den Kopf der Toten vorsichtig einige Zentimeter zur Seite, um die von Ziegler erwähnten Blessuren zu begutachten. Anschließend wiederholte er das Ganze an der Strickjacke, um sich die Kratzer an den Armen anzuschauen, und suchte nach weiteren Auffälligkeiten an der Leiche und um sie herum.

Solange er sie nur als die Leiche betrachtete, war alles den Umständen entsprechend gut. Nur nicht darüber nachdenken, um wen es sich tatsächlich handelte. Zumindest nicht jetzt.

Nach der ersten Überprüfung stand er auf und ließ die Kollegen von Spurensicherung und Gerichtsmedizin ihre Arbeit fortführen. Sein nächstes Ziel waren die Jugendlichen neben dem Rettungswagen.

Fünf waren es an der Zahl, drei davon Mädchen. Alle mit Jogginghosen und dicken Jacken, als stünde in Kürze eine sibirische Kaltfront bevor. Die zwei Jungen hatten noch dazu ihre Sweatshirtkapuzen über die Baseballcaps gezogen. Vom Alter her waren sie allerhöchstens vierzehn Jahre alt, vermutlich jünger. Müssten sie um diese Zeit nicht längst zu Hause sein? Außer ihm schien das allerdings niemandem aufzufallen. Bei den Teenies standen zwei Sanitäter und zwei Streifenpolizisten. Im Näherkommen nickte er ihnen zu und zog seinen Dienstausweis, um sich offiziell vorzustellen.

„Wer von euch hat die Tote gefunden?“

Augenblicklich wichen die zwei Jungen einen Schritt zurück und zeigten stumm auf die Mädchen. Diese nickten zögernd und ließen für einen Moment sogar die Smartphones in ihren Händen sinken. Der Schreck stand allen dreien deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie musterten skeptisch den Hund an Marks Seite.

„Keine Sorge, der tut euch nichts“, versicherte er schnell.

Das zusammen mit dem Fakt, dass der Bello angeleint war, schien den Teenies zu genügen.

„Wir wollten bloß ’ne Abkürzung nehmen“, verriet das mittlere Mädchen. Es hatte schulterlange dunkle Haare und eine spitz zulaufende Nase mit leichtem Höcker. „Weil wir spät dran waren. Jetzt kann ich mir daheim wieder was anhören. Als ob wir das gewusst hätten!“

„Die Frau lag einfach so da“, sagte das Mädchen links von der anderen mit leiser Stimme. Es war einen halben Kopf kleiner und trug einen silbernen Piercingstecker mit Glitzerstein über der Oberlippe. „Erst dachte ich, die wäre zugedröhnt oder besoffen. Aber die hat sich nicht mehr bewegt.“

„Und da waren die roten Flecke auf ihrem Kleid“, ergänzte das Mädchen ganz rechts. Es war ebenfalls etwas kleiner als das mittlere, hatte rote Haare und eine pummelige Figur. „Das war Blut. Da wusste ich schon, dass der Frau nicht mehr zu helfen ist. Sieht man ja immer im Fernsehen. Da haben wir gleich die 110 angerufen. War doch richtig so, oder?“

„Unbedingt“, bestätigte Mark. „Habt ihr irgendwas angefasst?“

Angewidert verzog sie das Gesicht. „Die Tote? Im Leben nicht. Das ist voll eklig, Mann.“

„Ich meine auch nicht den Leichnam. Was ist mit der Kleidung, dem Boden oder der Mülltonne? Irgendwas?“

Alle drei schüttelten den Kopf. „Nee, dann wär’n überall unsere Fingerabdrücke!“, sagte die Mittlere. „Wegen so was gehe ich ganz sicher nicht in den Knast.“

„Habt ihr jemanden in der Nähe der Gasse gesehen, der sich irgendwie verdächtig benahm?“

Erneutes synchrones Kopfschütteln. „Da war keiner.“

„Was habt ihr gemacht, nachdem ihr die Polizei verständigt habt?“

„Na, nix. Haben gewartet und aufgepasst, dass keiner hingeht.“

„Dann sind wir vorbeigekommen“, mischte sich einer der Kapuzenjungs ein. „Wir haben auf die Mädels aufgepasst. Damit ihnen nix passiert.“ Seinem Blick nach zu urteilen schien das einer gewaltigen Heldentat gleichzukommen. Während er sprach, machte er einen heroischen Schritt nach vorne, hielt jedoch sofort inne, als der herumschwänzelnde Felix zum Schnüffeln auf ihn zuging.

„Aber wir haben nichts angefasst“, fügte sein Kumpel hinzu, den Blick auf den Hovawart gerichtet. „Wisst ihr schon, wie sie gestorben ist?“

Kapuze Eins stöhnte auf. „Junge, die ist abgestochen worden. Hast du nicht zugehört?“

„Ach, stimmt ja“, sagte Kapuze Zwei, noch immer auf den Hund schauend.

„Du bist so ein Lappen“, sagte das linke Mädchen kopfschüttelnd.

Da konnte sich selbst Mark ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ist euch sonst noch was aufgefallen, was irgendwie komisch war?“

„Nur, dass sie einen recht teuren Fummel trägt“, sagte das mittlere Mädchen. „Das ist nix von KiK oder NKD.“

Mark überlegte, ob ihm dieser Punkt bisher ebenfalls aufgefallen war. Unbewusst vielleicht. In Sachen Mode war er nicht unbedingt ein Fachmann. „Habt ihr die Frau schon mal gesehen?“

Das linke Mädchen schüttelte den Kopf. „Nee, aber die könnte trotzdem aus der Gegend stammen. Haben Sie ihre Gelnägel gesehen? Das ist ganz klar die Arbeit von Monique. Sieht man sofort.“

Noch so ein Beauty-Detail, auf das er bisher eher weniger geachtet hatte. „Dem werden wir nachgehen. Wo finden wir diese Monique?“

Das Mädchen rollte mit den Augen, als wäre das eine Frage, auf die eigentlich jeder die Antwort wissen müsste. „Na, in ihrem Salon. Nicht weit von hier. In der Wölckernstraße, da beim Aydin-Bäcker in der Nähe.“

Er dankte den Jugendlichen für ihre Hilfe und überließ sie wieder der Obhut der Streifenpolizisten. Nachdenklich kehrte er noch einmal zur Leiche zurück. Um Nicole und ihre Leute nicht zu behindern, blieb er auf Abstand.

Das half ihm, auch weiterhin die emotionale Distanz zu wahren. Es handelt sich um ein normales Mordopfer, ermahnte er sich vorsichtshalber selbst noch einmal.

Dann begutachtete Mark das eng anliegende schwarze Abendkleid. Er musste zugeben, dass es in der Tat recht hochpreisig aussah und Gabi sehr gut gestanden hatte. Am oberen Rand, um das Dekolleté herum, erkannte er schwarze Pailletten. Sie waren kreisrund angebracht und schimmerten leicht. Weiter unten am Kleid war der Rocksaum einige Zentimeter hinaufgerutscht und entblößte Teile der Oberschenkel. Ansonsten keine weiteren Auffälligkeiten.

Nicht viel anders sah es bei den manikürten Fingernägeln aus. Von dem Mädchen wusste er, dass es sich um Gelnägel handelte, was genau dies allerdings bedeutete, musste er erst einmal googeln. Caro lackierte sich zwar ebenfalls gelegentlich die Nägel, allerdings nur ihre eigenen, die natürlich gewachsen waren. Die Gel-Variante war offenbar das mittlerweile gängige Verfahren, um seine Nägel künstlich zu verlängern, wie ihm Google prompt verriet. Dafür brauchte man neben speziellen Chemikalien auch eine UV-Lampe. Also nichts, was jeder automatisch daheim im Regal stehen hatte. Zumindest besaß Caro so etwas nicht.

Die Nägel der Toten waren weinrot und mit goldenem Glitzer versehen. Zu Marks Bedauern waren alle zehn Nägel vollzählig. Aber vermutlich war es bei der aufwendigen Prozedur auch gar nicht mehr so leicht möglich, einen davon zu verlieren. Das hieß, sofern man keinen größeren Kraftaufwand betrieb, der vermutlich dazu geführt hätte, dass sich das komplette Nagelbett mit ablöste. Verlorene falsche Fingernägel schieden als Indiz auf den eigentlichen Tatort oder Täter demnach aus. Blieb die Hoffnung, dass sich unter den Nägeln vielleicht die DNS-Spuren des Mörders finden ließen. Doch in der Hinsicht wollte er Nicoles Untersuchung nicht vorgreifen.

Mark fragte sich, aus welchem Grund sich das Mordopfer in einem teuren Kleid in eine solche Gegend gewagt hatte. Logisch war das nicht. Und weshalb trug sie über dem Kleid lediglich eine dünne schwarze Strickjacke? Für einen verregneten Abend Anfang April war es sicherlich nicht die klügste Wahl. Seiner Meinung nach trug man so was in der Regel bloß, wenn man nicht allzu viel Zeit unter freiem Himmel verbringen wollte. Sofern überhaupt.

„Wie steht es um Geldbörse, Smartphone und Handtasche?“, fragte er daher an Nicole gewandt.

Diese drehte sich mit einer Zeitlupenbewegung zu ihm um und ließ sich auch danach Zeit mit dem Antworten. „Handy und Geld fehlen, aber Portemonnaie und Handtasche sind da.“

Okay, das war ungewöhnlich.

„Welcher Räuber macht sich denn die Mühe, seinem Opfer die Kohle und das Telefon abzunehmen, aber den Rest dazulassen?“

„Vielleicht hatte sie versucht, ihm das Geld freiwillig zu geben. Oder sie hatte gar keins. Hast du schon mal daran gedacht? Abgesehen vom Kleid wirkt der Rest von ihr ziemlich billig.“

Das war ein gutes Argument. Dennoch missfiel ihm, wie Nicole von der Toten sprach. Hier ging es nicht um irgendwen, sondern ... nein, das war nicht der richtige Augenblick, um diese Wunde erneut aufzureißen. Er verzichtete auf einen Einwand und nickte der Kollegin bloß zu, um sich zu verabschieden.

Mehr gab es hier im Moment ohnehin nicht zu tun. Nach kurzer Absprache mit den Streifenpolizisten kehrte Mark mit Felix zum Wagen zurück. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es mittlerweile kurz vor halb zwölf war. Konnte er um diese Zeit noch bei Gabis Eltern vorbeifahren? Normalerweise war die Polizei bestrebt, die Angehörigen möglichst zeitnah zu informieren – auch nachts.

Dennoch konnte man das nicht ganz so pauschal betrachten. Wenn er Mutter und Vater Brettschneider und deren dünnes Nervenkostüm noch richtig in Erinnerung hatte, war es vermutlich besser, die Nachricht über den Tod ihrer einzigen Tochter auf morgen früh zu verschieben. Die beiden müssten um die siebzig sein und hatten eine letzte ruhige Nacht durchaus verdient, bevor sich ihr Leben in einen Albtraum verwandeln würde.

„Oh Mann, was für eine Scheiße“, sagte er zu Felix, als sie von der Pillenreuther Straße zurück in Richtung Bahnhof fuhren. „Gabi! Meine Güte, kannst du dir das vorstellen? Jahrelang höre ich nichts von ihr und dann das. Unfassbar!“

Der Hund brummte etwas, was ebenso Zustimmung wie Widerspruch sein konnte. Mark achtete nicht darauf. In Gedanken ging er noch einmal die in den vergangenen anderthalb Stunden gesammelten Fakten durch. Der Auffindeort der Leiche. Die Einstiche. Das Fehlen von Geld und Smartphone. Alles deutete auf einen aus dem Ruder gelaufenen Raubüberfall hin, wie sie in Nürnberg zwar nicht an der Tagesordnung waren, aber trotzdem gelegentlich geschahen. Insbesondere in diesem Teil der Stadt. Dennoch widerstrebte es ihm, es bloß als normalen sinnlosen Raubmord zu betrachten. Worauf sich das stützte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht war es nur ein Bauchgefühl.

Eine ganz andere Frage war, ob er überhaupt der Richtige war, um diesen Fall zu untersuchen. Nicht grundlos wurden Ermittlern in der Regel keine Fälle zugewiesen, in die sie auch nur ansatzweise persönlich involviert waren. Aber war er das tatsächlich: persönlich involviert? Nach ihrer Trennung vor rund fünfzehn Jahren hatten sich Gabi und er anfangs noch sporadisch gesehen, aber seit bestimmt zehn Jahren hatte es überhaupt keinen Kontakt mehr zwischen ihnen gegeben. Mark hatte keine Ahnung, wie es ihr in den letzten Monaten und Jahren ergangen war. Was sie beschäftigt und angetrieben hatte. Ob sie glücklich oder vom Leben gebeutelt gewesen war. Ob sie einen Lebensgefährten oder gar Kinder hatte. Bei ihrem letzten zufälligen Aufeinandertreffen hatte er sie sturzbetrunken auf einer Party gesehen. Damals war sie solo gewesen. Aber was hatte das schon zu sagen?

Je länger er darüber nachdachte, desto mehr bahnte sich die Flut der Erinnerungen ihren Weg. Und sie nahm mit jeder Minute an Intensität zu, bis sie unaufhaltsam war. Sämtliche Dämme brachen und rissen Mark haltlos mit sich.

Auf den Verkehr achtete er nur noch sekundär. Wie unter Autopilot lenkte er den BMW durch die spärlich befahrenen Straßen. Er hielt an roten Ampeln und beachtete die Vorfahrt, bekam jedoch kaum etwas davon mit.

Vor seinem geistigen Auge sah er unzählige Momente mit Gabi. Die guten wie die schlechten. Die vielen Auf und Abs. Und schließlich der Auslöser ihrer endgültigen Trennung. Er wusste noch genau, wie lange er darunter gelitten hatte, obwohl die Trennung seine Entscheidung gewesen war.

Mit Gänsehaut am ganzen Körper seufzte und schluchzte er, wischte sich mehrfach die Tränen weg, die gleich darauf durch neue ersetzt wurden. Das Leben war nicht fair. War es nie gewesen.

Auf kurze Distanz

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