Читать книгу Auf kurze Distanz - Sören Prescher - Страница 9

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Mark erwachte hundemüde. Wieder hat er bloß wenige Stunden geschlafen. Diesmal jedoch absichtlich, weil er mit Caro noch lange Zeit über das Baby gesprochen und sie beide sich ausgemalt hatten, wie es bald zu dritt (beziehungsweise zu viert, wenn man Felix mitzählte) werden würde. Vermutlich war dies in einem so frühen Stadium der Schwangerschaft etwas vorschnell – immerhin befand sich Caro gerade mal in der siebenten Woche –, dennoch zauberte ihm allein der Gedanke, dass demnächst buchstäblich ein Produkt ihrer Liebe zur Welt kommen würde, ständig ein neues Lächeln ins Gesicht.

Wenn Mark sich nicht verrechnet hatte, konnte es schon Ende November so weit sein. Was für eine Vorstellung!

Auf das morgendliche Joggen mit Felix im Stadtpark verzichtete er heute lieber. Mark war schon froh, dass er im Badezimmer die Augen genug offen halten konnte, um sich beim Rasieren nicht das ganze Gesicht zu zerschneiden. Mit einem innigen Kuss und einem liebevollen Streicheln über ihren Bauch verabschiedete er sich von Caro.

Sogar während der morgendlichen Rushhour hielt sich die Freude erstaunlich lang. Am liebsten hätte er in die Welt hinausgebrüllt, dass er noch in diesem Jahr Vater werden würde, doch Caro und er hatten darin übereingestimmt, mit dem Verkünden dieser Neuigkeit die üblichen ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft abzuwarten. Bis dahin würde noch gut ein Monat vergehen. Eine verdammt lange Zeit für eine derartige bahnbrechende Nachricht.

Das Präsidium am Nürnberger Jakobsplatz wurde da zur ersten Feuerprobe. Auf dem Weg zum Großraumbüro in der zweiten Etage, das er sich mit seinem Partner und weiteren Kriminalkommissaren teilte, traf er etliche Kollegen. Nicht alle gaben sich mit einem kurzen Nicken zum Gruß oder einem „Servus“ zufrieden. Einige fragten auch, wie es ihm ging und was es Neues gab.

„Nichts“, log Mark und war froh, dass Felix an seiner Leine zerrte, weil der Hund es offenbar kaum erwarten konnte, es sich auf seiner Decke neben dem Schreibtisch bequem zu machen. Offenbar war die Nacht auch für den Hovawart ein bisschen zu kurz gewesen.

Bei der Ankunft am Doppelschreibtisch musterte ihn sein Partner Dominik prüfend von oben bis unten. „Na, du musst ja gestern Nacht noch ordentlich gefeiert haben. Du siehst aus, als hättest du den Rest der Nacht unterm Couchtisch verbracht. Mit dem Gesicht nach unten. Junge, Junge. Da geht mir ja der Hut schief. Wenn ich einen hätte.“

Sein zehn Jahre älterer Kollege trug wie üblich einen mehr schlecht als recht sitzenden Anzug (diesmal kariert und in Mausgrau) und lümmelte hinter seinem Schreibtisch, als würde er auf seinem Monitor ein Fußballspiel verfolgen. Wobei Mark bei näherer Betrachtung bezweifelte, dass Dominik sich mit so was Profanem wie Fußball überhaupt abgab. Seine Kragenweite waren eher Verschwörungstheorien über Geheimgesellschaften und deren angestrebte Weltherrschaft. Sicher hätte er auch sofort etliche Theorien über das Bankenwesen oder den elften September zum Besten geben können.

Mit Genugtuung stellte Mark allerdings fest, dass sein Partner momentan mit dem Tippen des Berichts über ihren gestrigen Fallabschluss beschäftigt war. Seine Finger hämmerten auf die Tastatur ein, als wäre es eine fünfzig Jahre alte Mechanik-Schreibmaschine mit klemmenden Tasten.

„Leider keine Feier, sondern ein neuer Fall“, korrigierte Mark. „Während du dir in der Eckkneipe wahrscheinlich ein Bier nach dem anderen hinter die Binde gekippt hast, bin ich zu einem Tatort gerufen worden.“

„Echt?“ Dominik setzte sich aufrecht hin. „Warum hast du mich nicht angerufen?“

Das war eine berechtigte Frage. Mit einer wahrheitsgemäßen Antwort liefe er allerdings Gefahr, den neuen Fall schneller wieder los zu sein, als Dominik einen seiner vermeintlich witzigen Denglisch-Sprüche vom Stapel lassen konnte. Daher versuche Mark es mit einer Ausrede: „Ich war eh gerade in der Nähe. Da hätte es wenig Sinn gemacht, dir noch Bescheid zu geben. Außerdem wusste ich ja nicht, ob du nach der Kneipe nicht wieder mit einer deiner … äh … Observationen beschäftigt warst.“

„Unsinn, wenn es wichtig ist, kannst du mich zu jeder Tages- und Nachtzeit verständigen. Auch wenn es mal nicht um was Dienstliches geht. Du bist mein Partner. Da gehört so was mit zum Rundum-Paket. Worum geht es denn in dem neuen Fall?“

Erleichtert darüber, dieses Riff so leicht umschifft zu haben, fasste Mark die nüchternen Fakten der vergangenen Nacht zusammen. Dass die Tote und er eine gemeinsame Vergangenheit hatten, ließ er aus.

Dominiks Reaktion fiel aus wie erwartet: „Klingt nach einem stinknormalen Raubüberfall. Der wird doch eh auf kurz oder lang zu den Akten gelegt.“

„Nun mal nicht so vorschnell. Da gibt’s ’ne Menge, was näher untersucht werden muss.“

„Du kannst ja schon mal loslegen. Ich hab hier noch ein bisschen was bei einem richtigen Fall zu tun.“

Einem richtigen Fall? Marks erster Impuls war es zu widersprechen. Wie konnte Dominik auch nur annehmen, Gabis Ermordung könnte nicht so relevant sein? Im letzten Moment besann sich Mark eines Besseren. Dass sich Dominik fürs Erste lieber um ihren anderen Fall kümmerte, war mehr als nur ein Glücksfall. Mark war ohnehin kein großer Freund vom Berichteschreiben. Wenn sich sein Kollege darum kümmern wollte, warum nicht? Außerdem hätte er Dominik vor dem Besuch bei Gabis Angehörigen einiges zu erklären gehabt. Es war nämlich mehr als wahrscheinlich, dass ihre Eltern Mark auf Anhieb erkennen würden.

„Ganz wie du meinst. Wie weit bist du mit dem Einsatzbericht?“

„In groben Zügen steht er. Nun geht es ans Eingemachte. Nachher haben wir – beziehungsweise ich – allerdings einen Termin mit einem Kunstsachverständigen. Du weißt ja: einfach mal jemanden fragen, der sich damit auskennt. Ich hoffe, dass wir mit seiner Hilfe auflisten können, was alles gefälscht wurde. Der gute Herr Berger schweigt ja leider noch immer.“

„Sag bloß, er kann deiner bekannten charmanten Art widerstehen. Wo gibt’s denn so was?“

„Das frage ich mich auch. Vielleicht habe ich einfach noch nicht den richtigen Hebel gefunden, den ich bei ihm ansetzen muss.“

„Probiere es doch mal mit einem Zitat aus einem 2Pac-Song. Den Rapper scheint er zu mögen.“

Oder war 2Pac bloß eine weitere falsche Maske? Aber das war nicht der Moment, um sich näher mit dieser Frage zu beschäftigen. Mark fuhr den Computer hoch in der Hoffnung, dass ihm die Kollegen bereits erste Berichte über den gestrigen Abend geschickt hatten.

Von der Rechtsmedizin und den Spusis lagen noch keine Rückmeldungen vor – was Mark wenig verwunderte. Sowohl Ziegler als auch Nicole und ihre Leute hatten nach seinem Aufbruch gestern Abend zweifellos noch etliche Stunden am Tatort zu tun gehabt. Deshalb verschwendete er auch keinen einzigen Gedanken daran, ob er jetzt deswegen kurz in den jeweiligen Abteilungen durchklingeln sollte. In der Regel führte ein solches Drängeln eher zu Verzögerungen als zur Beschleunigung. Davon abgesehen dauerte es für gewöhnlich bis zu zwei Tagen, bevor auch nur der vorläufige Report vorlag, für den abschließenden Begutachtungsbericht meist mehrere Wochen, abhängig davon, wie viele Zusatzuntersuchungen notwendig waren.

Aber zumindest die Meldungen der Streifenpolizisten, die gestern Abend die Aussagen der jugendlichen Zeugen aufgenommen hatten, waren eingetroffen. Mark überflog die Zeilen, fand jedoch keine für ihn neuen Details. Er hoffte, dass die Suche nach etwaigen weiteren Zeugen und/oder Anwohnern, denen zur Tatzeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen war, aufschlussreicher sein würde.

Nachdem er die restlichen E-Mails in seinem Postfach überprüft hatte, gab er Felix das Zeichen für den Aufbruch. Widerwillig erhob sich der Hovawart und folgte ihm leise maulend zum Ausgang.

Laut den Angaben des Einwohneramts lebten Gabis Eltern noch immer dort, wo sie schon vor achtzehn Jahren gewohnt hatten: in einem Wohnbaukomplex in der Grünewaldstraße, nicht weit vom Nordring entfernt.

Bereits auf der Fahrt dorthin rutschte Mark unruhig auf dem Sitz hin und her. Seine Hände waren klitschnass, während er sich fragte, wie Herbert und Ingrid Brettschneider wohl auf ihn reagieren würden. Dass sie früher einmal vertraut miteinander gewesen waren, machte es jetzt komplizierter. Und wie würde er reagieren, wenn sie ihn nicht erkannten und ihnen auch der Name auf dem Dienstausweis nichts mehr sagte – die beiden siezen, als wären sie Fremde? Oder sie mit dem vor nicht ganz zwanzig Jahren erhaltenen Du begrüßen und sie somit vielleicht noch mehr verwirren?

Ratlos schaute er zu Felix, der im Kofferraum völlig tiefenentspannt aus dem Seitenfenster starrte. An der Sitzlehne davor hingen – genau wie auf dem Beifahrersitz – zahlreiche dunkle Hundehaare. Der Anblick erinnerte Mark an das Sofa daheim. Überall hinterließ der Vierbeiner seine Spuren. Vermutlich gehörte das für ihn als frischgebackenen Haustierbesitzer schlichtweg dazu.

Mark beneidete den Hovawart um seine Gelassenheit und atmete tief durch.

„Vielleicht hast du recht“, sagte er dann. „Einfach ruhig bleiben und die Dinge ihren Lauf nehmen lassen.“

Was natürlich leichter gesagt als getan war. Als er die Stufen zum dritten Stock des Altbauhauses hinaufstapfte, wummerte sein Herz wie nach einem Marathonlauf. Felix hingegen trabte locker neben ihm her, als erwartete er oben eine Wellnessoase für Hunde.

Vor der Wohnung blieb Mark stehen, um sich zu sammeln. Die Tür und das Klingelschild waren zwischenzeitlich modernisiert worden, aber die eingravierte Schrift auf dem blassgelben Emailleschild war die Gleiche wie früher: Familie Brettschneider. Zögernd bewegte er den Finger zur Klingel und verharrte davor in der letzten Sekunde. War er wirklich bereit für das Folgende? Nein, war er nicht.

Mit Hitzewallungen wie in den Wechseljahren klingelte er. Mit der anderen Hand krallte er sich an der Hundeleine fest.

Schlurfende Schritte näherten sich der Tür, und Mark hielt vor Anspannung die Luft an. Sekunden darauf öffnete ein untersetzter Mann um die siebzig im aufgeknöpften karierten Hemd, unter dem ein weißes Unterhemd hervorblitzte. Er musterte ihn kurz, bevor sein Blick weiter zum Hovawart wanderte.

„Ja, bitte?“

Scheiße, er erkennt mich nicht, schoss es Mark durch den Kopf.

Aus dem Raum links vom Flur streckte eine etwa gleichaltrige Frau den Kopf hervor. Sie war einige Zentimeter größer als ihr Gatte, ebenfalls etwas stämmig und trug dieselbe rotbraune Dauerwelle wie zur Jahrtausendwende. Sie runzelte die Stirn und trat hinter ihren Mann.

„Mark, bist du das?“

Ihr Gesichtsausdruck signalisierte Erkennen und entspannte sich mit jeder Sekunde mehr. Sogar ein kleines Lächeln blitzte auf. Auch die Miene ihres Gatten wechselte von fragend zu Stimmt-den-kennste.

Einzig Mark fühlte sich noch genauso unwohl wie zuvor. Er beantwortete die Frage mit einem Kopfnicken und zeigte seinen Polizeiausweis vor. „Ich bin heute dienstlich hier. Darf ich bitte reinkommen?“

„Ja, klar, was ist denn?“, fragte Ingrid Brettschneider. „Du machst mir richtig Angst.“

„Lasst uns das drinnen besprechen. Ist es in Ordnung, wenn ich Felix mitnehme?“

„Natürlich“, bestätigte Herbert Brettschneider, nun ebenfalls deutlich nervöser.

Mark folgte ihnen durch den Flur, wo es genau wie früher nach Bohnenkaffee, eingelegten Pfirsichen und einer chemischen Zutat roch, von der er nie ganz herausgefunden hatte, worum es sich handelte. Wahrscheinlich ein Reinigungs- oder Politurmittel, eventuell auch ein merkwürdiges Raumspray. Allein diese olfaktorische Wahrnehmung förderte jetzt unzählige längst vergessen geglaubte Erinnerungen zutage. Er sah sich mit der Familie zusammen zu Abend essen (fränkischen Kartoffelsalat mit Bratwürstchen), auf dem Sofa lümmeln und gemeinsam Wetten, dass? schauen. Dazu auch einige nicht ganz jugendfreie Erlebnisse, wann immer Gabis Eltern mal ausgeflogen waren. Gott, wie jung sie damals gewesen waren.

Sie gingen ins Wohnzimmer, das inzwischen zwar etwas moderner eingerichtet war, in dem die Möbelstücke aber noch immer genauso wie früher angeordnet standen. Schräg gegenüber der nussholzfarbenen Schrankwand nahmen sie auf einer blauen Eckcouch Platz. Mark setzte sich an die Stelle vor dem Seitenfenster, an dem er auch früher so oft gesessen hatte. Im Gegensatz zur Jahrtausendwende gab es mittlerweile kein Problem mit unangenehmer Zugluft mehr. Felix streckte sich zu seinen Füßen aus, und Mark widerstand dem Drang, dem Hund jetzt über Fell zu streicheln.

„Geht es um Gabi?“, platzte es aus Ingrid Brettschneider heraus. Sie verschränkte die Hände in Gebetsposition vor dem Gesicht.

„Ich … äh …“ Mark stockte, bevor er richtig angefangen hatte. Mehrere dutzend Mal hatte er dieses Gespräch bereits geführt. Nie war es leicht gewesen, doch so schwer wie jetzt war es ihm noch nie gefallen. „Ich habe schlechte Nachrichten. Gabi ist etwas zugestoßen. Gestern Abend. Wir haben sie in einer Gasse an der Pillenreuther Straße gefunden. Offenbar wurde sie überfallen und dabei niedergestochen.“

„Niedergestochen?“, fragte Ingrid mit schluchzender Stimme. „Wie geht es ihr? Wo ist sie? Wann können wir zu ihr?“

„Es tut mir leid. Sie ist tot.“

Die Mutter schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Neben ihr war der Vater kalkweiß geworden.

„Niedergestochen“, wiederholte auch er. „Vielleicht hat der Arzt sich geirrt, und sie ist bloß schwer verletzt. Wir müssen zu ihr.“

Er machte Anstalten aufzustehen, und Mark hob beschwichtigend die Hand. „Der Arzt hat sich nicht geirrt. Gabi ist tot. Ich war da und habe sie mit eigenen Augen gesehen.“

„Das ist doch nicht möglich“, beharrte ihre Mutter. Sie schüttelte immer wieder den Kopf. „Vor ein paar Tagen haben wir noch telefoniert. Sie klang wie immer.“

„Wann ist es passiert?“, fragte Gabis Vater. Es war kaum mehr als ein Flüstern.

„Gestern, irgendwann am Abend. Die genaue Zeit steht noch nicht fest. Meine Kollegen ermitteln das gerade. Wann habt ihr Gabi das letzte Mal gesehen?“

Ingrid schnäuzte sich, bevor sie antwortete. „Das ist ein paar Wochen her. Durch ihren Job ist … war … sie zeitlich recht eingespannt. Sie arbeitete als Kellnerin für eine Zeitarbeitsfirma. Die haben sie ständig woanders hingeschickt. Mal nach Fürth, mal nach Erlangen, manchmal sogar bis hinter Schwabach.“

Während die Mutter sprach, zog Mark Block und Stift aus der Jackentasche und notierte sich die relevanten Fakten. Er fühlte sich mies, die Eltern ausgerechnet jetzt zu vernehmen, aber die Erfahrung zeigte, dass gerade die Befragungen unmittelbar nach dem Erhalt der Todesnachricht sehr zielführend waren, da die Angehörigen unter Schock stehend so manche Information ausplauderten, die sie der Polizei sonst nicht anvertraut hätten. „Wisst ihr, wie die Zeitarbeitsfirma heißt?“

Beide schüttelten die Köpfe.

„Wie ging es ihr, als ihr sie das letzte Mal gesehen oder mit ihr telefoniert habt?“

„Ganz normal“, sagte Ingrid. „Sie war gerade auf dem Sprung, meinte sie und wollte mich irgendwann diese Woche oder so zurückrufen. Das wird sie jetzt wohl nicht mehr tun.“ Wieder brach sie in Tränen aus. Mit versteinerter Miene und starrem Blick strich Herbert ihr tröstend über den Rücken.

„War sie in einer Beziehung?“, hakte Mark vorsichtig nach.

„Nein, zurzeit nicht“, sagte die Mutter. „Vor ein paar Monaten war sie mit einem Roland zusammen, aber das hat nicht so richtig funktioniert. Wie auch, wenn sie fast jeden Abend weg ist?“

„Wie heißt Roland mit Nachnamen?“

Erneutes Kopfschütteln. „Wir haben ihn nie gesehen. Dafür dauerte es nicht lang genug.“

„Hatte Gabi Geldsorgen?“

„Nicht, dass wir wüssten.“ Ingrid schaute Herbert fragend an. Auch ihm fiel nichts dazu ein.

„Hatte sie sonst irgendwelche Probleme? Irgendwas Auffälliges in der letzten Zeit?“

Abermals Verneinung.

„Habt ihr eine Ahnung, was sie gestern Abend bei der Pillenreuther Straße gesucht haben könnte? Von ihrer Wohnung aus liegt das nicht gerade um die Ecke.“

„Nein, wirklich nicht. Gabi hat ja nicht mal ein Auto.“

„Wie fuhr sie dann zu den vielen Jobs?“

„Meistens mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Mit S- und U-Bahnen kommt man fast überall hin. Manchmal hat sie sich den alten Nissan von Annette geliehen. Das ist ihre Nachbarin.“

Auch das notierte sich Mark. „Noch eine Frage zur Wohnung: Habt ihr einen Zweitschlüssel dafür? Ich würde mich dort gern umsehen.“

Die Mutter nickte. Nach kurzem Zögern stand sie auf und verließ den Raum. Als sie zurückkehrte, reichte sie ihm einen kleinen Schlüsselbund, an dem auch ein runder Schmuckanhänger hing.

Mark fragte sich, wie das Verhältnis von Gabi zu ihren Eltern in den letzten Jahren gewesen war. Von früher wusste er, dass es zwar harmonisch, jedoch gleichzeitig auch recht oberflächlich gewesen war. Gabi hatte ihm einmal gestanden, dass sie nie das Gefühl hatte, dass ihre Oldies sie tatsächlich verstanden. Ob sich daran zwischenzeitlich etwas geändert hatte? Mark bezweifelte es. Zu ihrem jüngeren Bruder Michael hatte sie früher ein deutlich besseres Verhältnis gehabt. Vermutlich war es daher am besten, wenn er sich mit ihm unterhielt.

„Arbeitet Michi noch immer für die Schreinerei Ammon? Wenn ihr mögt, teile ich ihm die Nachricht mit.“

„Beim Ammon ist er schon seit Jahren nicht mehr“, antwortete ihr Vater. Er sprach in einem beinahe vorwurfsvollen Tonfall, so als wäre dies etwas, was Mark eigentlich wissen müsste. „Er arbeitet jetzt in dem Möbelhaus in der Ingolstädter Straße. Dem mit dem großen roten Stuhl. Ja, das wäre nett, wenn du … das übernehmen könntest. Ich glaube, ich schaff das noch nicht.“ Seine Stimme wurde brüchig und klang jetzt wie die eines steinalten Mannes. In diesem Augenblick tat er Mark furchtbar leid. Genau wie Ingrid. Kein Elternteil sollte miterleben, dass sein Kind starb.

„Wenn ich euch sonst noch irgendwie weiterhelfen kann … wir haben da Notfallseelsorger, die speziell für Momente wie diesen geschult sind. Ich kann sie anrufen, sie wären innerhalb kurzer Zeit hier und könnten sich um euch können. Die wissen genau, was im Trauerfall zu tun ist.“

„Danke“, sagte Gabis Mutter. „Das ist nett. Aber ich glaube, wir müssen jetzt erst mal allein sein. Da brauchen wir keinen Fremden, der uns irgendwelches Psycho-Zeug erzählt. Kann der uns den Schmerz und die Trauer nehmen?“

„Nein, das nicht …“, begann Mark.

„Also. Dann können wir auf so jemanden verzichten. Wir schaffen das allein.“

Genau diese störrische Art kannte er noch von früher. Bloß niemanden von außerhalb involvieren. Den Brettschneiders war es nicht einmal recht, wenn befreundete Nachbarn etwas von irgendwelchen Streits erfuhren. Alles wurde stillschweigend geklärt oder unter den Teppich gekehrt. Dies war eine der Sachen, die Gabi immer maßlos geärgert hatten.

„In Ordnung. Dann fahre ich jetzt zu Michi.“ Als er aufstand, erhob sich auch Felix sofort. Mark zog eine Visitenkarte aus der Tasche. „Falls ich euch irgendwie helfen kann oder euch noch etwas einfällt, ruft mich bitte an.“

Er gab die Karte an Ingrid und strich ihr mitfühlend über den Oberarm. Kurz überlegte er, sie zu umarmen, doch dafür waren sie nicht mehr vertraut genug. Bei Herbert verabschiedete er sich wie früher per Handschlag. Dann trat er mit Felix hinaus ins Treppenhaus und schloss leise die Wohnungstür hinter sich.

Von Gabis Eltern bis zur Ingolstädter Straße war es eine gut acht Kilometer lange Strecke, einmal den kompletten Nordring bis tief in den Süden Nürnbergs hinab. Ohne Verkehr wäre die Route in einer guten Viertelstunde zu schaffen. Am späten Vormittag hoffte Mark, dass er bloß die doppelte Zeit brauchen würde.

Doch selbst dreißig Minuten waren eine verflucht lange Zeit, wenn man von seinen Gedanken und Erinnerungen verfolgt wurde. Um gar nicht erst in ein weiteres Emotionsloch zu stürzen, drehte er die Lautstärke des Radios auf. Statt eines knalligen Rocksongs lief auf seinem Lieblingssender Wild FM allerdings eine deutlich fiesere Nummer: Bruce Springsteens herzzerfetzende Ballade Point Blank. Binnen weniger Sekunden hatte ihn das Lied in seinen Bann gezogen. Es ging um einen Mann, der eine alte Freundin ziemlich heruntergekommen an der Straßenecke stehen sieht und darüber nachdenkt, was für schwere Zeiten sie durchgemacht hat und wie es früher einmal gewesen war. Früher, als sie zusammen und die Welt noch eine andere – eine bessere gewesen war. Die Person im Lied wollte seiner Verflossenen helfen, doch diese antwortete ihm nicht einmal mehr, weil sie zu sehr in ihr eigenes Elend abgetaucht war. Es war ein ausgesprochen düsteres Szenario, das Springsteen da zeichnete, und gerade dadurch schien es haargenau widerzuspiegeln, wie miserabel Mark sich im Moment fühlte.

Noch dazu hatte er beim Refrain sofort vor Augen, wie er mit Gabi knutschend auf ihrem Kinderzimmersofa gelegen hatte, während in ihrem CD-Player dieses Stück gelaufen war. Früher war ihm die düstere Geschichte des Liedes gar nicht weiter aufgefallen. Heute traf es ihn mit voller Breitseite.

Er war froh, als der Gänsehautsong nach sechs Minuten endlich zu Ende war, und fühlte sich danach dermaßen emotional aufgewühlt, dass er mit dem im Anschluss folgenden Kracher Are you gonna be my girl? von Jet überhaupt nichts anfangen konnte. Und das, obwohl er diesen Ohrwurm eigentlich mochte. Kurzerhand stellte er das Radio ab und legte den Rest der Fahrt schweigend zurück.

Hinter dem großen roten Stuhl bog er auf den Kundenparkplatz ein. Von früheren Besuchen in diesem Möbelhaus wusste er, wo sich das Auslieferungslager befand, und beschloss, dort mit seiner Suche zu starten. Dass Gabis Bruder mittlerweile als Möbelberater im Haupthaus arbeitete, hielt Mark für unwahrscheinlich. Dann doch eher als Lagerarbeiter oder einer derjenigen, die hinter den Kulissen für Reparaturen und dergleichen zuständig waren.

Das Möbellager war ein quaderförmiger Bau im hinteren Teil des Grundstückes, der nahtlos an ein fünfstöckiges Parkhaus anschloss. Mark parkte etwas abseits der Laderampen und legte das letzte Stück mit Felix an der Leine zu Fuß zurück.

„Ich würde gern mit Herrn Michael Brettschneider sprechen“, meldete er sich am Eingangsbereich. Hier warteten ein halbes Dutzend Leute darauf, ihre gekauften Möbelstücke in Empfang zu nehmen. Zwei korpulente Männer waren damit beschäftigt, klobig aussehende Pakete in einen dafür eigentlich viel zu kleinen Nissan-Kofferraum zu hieven. Mark dämmerte im selben Moment, dass er nicht einmal wusste, ob Gabis Bruder heute Dienst hatte. Allerdings standen die Chancen, jemanden mit Festanstellung an einem späten Donnerstagvormittag bei der Arbeit anzutreffen, nicht schlecht.

„Warte mal kurz“, bat ihn eine bullige Rothaarige mit einem Kreuz so breit, dass sie einen Traktorreifen darauf abstellen konnte.

Gleich darauf erschien Michi. Er war drei Jahre jünger als Mark und hatte pechschwarzes Haar, das ihm fast ins Gesicht wuchs, und so stahlblaue Augen, dass selbst Terence Hill beeindruckt den Daumen gehoben hätte. Obwohl sie beide sich seit Jahren nicht gesehen hatte, erkannten sie einander sofort wieder und begannen unweigerlich zu grinsen.

„Mark? Das ist ja mal ’ne Überraschung. Was führt dich denn hierher?“ Danach verfinsterte sich seine Miene. „Du bist nicht zufällig vorbeigekommen, oder? Ist was mit meinen Eltern?“

Leider nicht. „Nein, mit Gabi.“

Er trat näher an ihn heran. „Oh Gott! Was ist passiert?“

„Sie wurde niedergestochen. Sie …“ In dem Augenblick tauchten die zwei korpulenten Männer neben ihnen auf, um weitere Kartons für ihren Nissan zu holen. Dazu kam eine Frau, die am Eingangsbereich hektisch mit ihrem Abholschein herumwedelte. Dies war eindeutig nicht der richtige Ort, um eine derartige Unterhaltung zu führen.

„Können wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind?“

„Natürlich. Komm mit.“

Er führte ihn zum letzten Abschnitt des Grundstücks, nicht weit hinter der Lagerhalle. Dort, wo die Sperrmüllcontainer standen und die Mitarbeiter auch gern mal eine Zigarettenpause einlegten, wie am Boden zu sehen war. Der Trubel am Eingang des Abholbereichs war von hier aus nicht zu sehen und lag schön verborgen hinter der nächsten Gebäudeecke. Mark nutzte die Gelegenheit, um Felix ein wenig herumstreunen zu lassen. Was sich der Hund nicht zweimal sagen ließ. Er schnupperte interessiert an den Zigarettenstummeln am Boden sowie an allem, was statt in den Containern davor gelandet war.

„Also, was ist mit Gabi“, fragte Michi entschieden. „Ist sie tot?“

Mark nickte zögernd und hielt schon mal Notizbuch und Stift bereit. Er würde beides gleich brauchen. „Gestern am späten Abend habe ich einen Anruf gekriegt, dass eine Frau in der Südstadt tot gefunden wurde. In einer Gasse an der Pillenreuther Straße. Als ich am Tatort ankam, habe ich gesehen, dass es Gabi ist.“

„Scheiße.“ Die Kraft wich sichtbar aus seinem Körper. Einige Sekunden lang wankte er und musste sich an der Wand abstützen, um nicht hinzufallen. Als Mark ihm zu Hilfe eilen wollte, hob er abwehrend den Arm. „Wie ist es passiert? Wurde sie vergewaltigt?“

„Sieht nicht danach aus. Es hat den Anschein, als wäre sie überfallen und ausgeraubt worden.“

„Den Anschein?“

„Noch steht nichts fest. Hast du eine Ahnung, wieso sie in die Gasse gegangen sein könnte?“

„Nicht die geringste.“ Er richtete sich auf und schien auf einmal eine gewaltige Wut im Bauch zu haben. „Fuck. Ich hab ihr zigmal gesagt, dass sie vorsichtig sein soll. Sie hat immer so getan, als würde ich übertreiben. Nürnberg ist nicht Frankfurt oder Berlin, meinte sie. ‚Ich kann ganz gut allein auf mich aufpassen.‘ Sieht man ja, wie gut das geklappt hat. Habt ihr eine Spur?“

„Wir stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen. Daher ist jede Kleinigkeit wichtig. Hat sie dir gegenüber irgendwelche Schwierigkeiten erwähnt?“

„Nichts dergleichen.“

„Was ist mit Geldsorgen?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie war nicht reich, aber sie kam über die Runden. Hat mit ihrem Job ganz gut verdient, um sich ein bisschen was auf die hohe Kante zu legen. Ewig kann man so was eh nicht machen.“

„Du meinst die Arbeit als Kellnerin?“

Michi starrte ihn an, als wüsste er nicht, ob und was er dazu sagen sollte. Gleichzeitig machte er mit dem Mund Bewegungen, als würde er an der Innenseite seiner Unterlippe nagen. Für Mark ein untrüglicher Hinweis, dass er auf Gold gestoßen war. Sofort wurde er ungeduldig. Trotzdem gab er Gabis Bruder Zeit. Hätte er ihn jetzt bedrängt, hätte Michi sicherlich die Schotten dicht gemacht.

„Das mit dem Kellnern haben dir meine Eltern gesagt, oder?“

Zustimmendes Nicken.

„Das ist so nicht ganz richtig. Gabi hat zwar mal als Bedienung in einem Café in der Innenstadt gearbeitet, aber das ist lange her.“

„Wie hat sie jetzt ihre Brötchen verdient?“

Marks Gegenüber zögerte abermals. Etwas änderte sich in seinem Gesicht. Da war eine Spur Scham und noch viel mehr Unsicherheit. Michi rang förmlich mit sich. Auch jetzt konnte Mark nicht viel mehr tun, als ihm Zeit zu geben. Ihn jetzt auf das Offensichtliche hinzuweisen, dass die Kripo es sowieso herausbekommen würde, ersparte er sich. Es war immer gut, wenn die Leute sich freiwillig dafür entschieden, den Ermittlern bestimmte Dinge anzuvertrauen. Überprüfen würden sie die Angaben ohnehin.

„Gabi hat … als Escort-Dame gearbeitet.“

Okay, das kam überraschend. „Escort, so wie auf Messen und so?“

„Ja. Nein. Ein paar Messesachen waren sicherlich dabei. Laut Gabi ging es hauptsächlich darum, mit hochrangigeren Geschäftsleuten und Politikern essen zu gehen, sie zu Veranstaltungen begleiten und so weiter.“

„Und so weiter?“ Mark hob die Augenbrauen. „Gab es … äh … Zusatzleistungen?“

Die Männer schauten einander in die Augen. Es gab Dinge, die sie beide nicht erst beim Namen nennen mussten.

„Angeblich nicht. Ob das stimmt, keine Ahnung. Mir war diese ganze Sache nicht geheuer. Tausendmal hab ich ihr gesagt, dass das keine richtige Arbeit ist und sie sich was Anständiges suchen soll. Sie hat es immer mit einem Lächeln abgetan. So wie alles.“ Seine Augen wurden feucht, und er drehte den Kopf beiseite, damit Mark ihn nicht weinen sah.

Mark nutzte die Gelegenheit, sich nach Felix umzuschauen. Der Hovawart war gerade dabei, den dünnen Rasenstreifen neben dem Grundstückszaun zu bewässern. Er schien viel Freude dabei zu haben.

„Weißt du, für wen sie diese Escort-Dienste gemacht hat?“, fragte Mark, nachdem Michi sich etwas gefasst hatte. Er hob den Stift, um sich alles Relevante zu notieren.

„Meinst du damit Kunden oder Arbeitgeber?“

„Sowohl als auch“, sagte Mark kurzerhand.

„Kundennamen hat sie keine genannt. Meinte, die wären streng vertraulich. Gelegentlich gab es ein paar Andeutungen über Leute, die man aus der Presse kennt. Auch die eine oder andere Berühmtheit wäre darunter. Aber jetzt nix im Stil von Hollywood, eher so lokale Prominenz. Was weiß ich.“

„Wie heißt die Escort-Firma?“

Michi blickte zu einem imaginären Punkt am Horizont. „Das wusste ich mal. Irgendwas mit Elite? Nein, das war was anderes. Vielleicht was mit Konzept im Namen? Sie hatte ihn mir mal genannt, und ich weiß noch, dass ich bei denen auf der Website war, um mich umzuschauen, aber da bin ich nicht weit gekommen. War alles passwortgeschützt und so. Mir fällt gerade beim besten Willen nicht ein, wie der Laden heißt.“

„Die haben doch sicherlich ein Büro in der Gegend.“

Michi zuckte ratlos mit den Schultern, was Mark frustrierte. Wieso wusste der Bruder nicht mal, wo seine Schwester arbeitete? Am liebsten hätte er ihn an seiner Arbeitsjacke gepackt und kräftig durchgeschüttelt. Vielleicht half das seinem Gedächtnis ja auf die Sprünge.

„Hatte Gabi aktuell eine Beziehung?“, fragte er stattdessen.

„Soweit ich weiß, nicht. Bis vor zwei, drei Monaten war sie mit einem Roland liiert. Den Nachnamen kenne ich nicht. Aber das hat nicht so ganz funktioniert. Warum, hat sie nicht gesagt, und ich wollte nicht in der Wunde herumstochern.“

Weshalb sollte man das als Bruder auch, lag es Mark auf der Zunge. Die Vorsicht und das Desinteresse seines Gegenübers gingen ihm zunehmend auf die Nerven.

„Was für Freunde hatte sie denn? Mit wem hat sie sich in ihrer Freizeit getroffen?“

Erneutes Schulterzucken. „Ein paar Leute von früher. Malte, Pelle, Doro. Und da war auch ’ne Nachbarin, mit der sie ziemlich dicke war. Ich glaube, die heißt Annika oder so.“

Hinter ihnen ertönte plötzlich ein scharfer Pfiff. Irritiert drehten sie sich um und sahen einen Mann in den Fünfzigern im Blaumann an der Gebäudeecke stehen und ihnen auffordernd zuwinken. Vermutlich ein Kollege von Michi, der dessen Hilfe benötigte oder ihn zurück zur Arbeit rufen wollte. Es wäre für Mark ein Leichtes gewesen, den Burschen mithilfe seines Dienstausweises in die Schranken zu weisen. Doch in dem Fall war das unnötig. Im Moment wusste Mark ohnehin nichts, was er den Bruder noch fragen wollte. Also drückte er noch einmal sein Beileid aus, wies auf die mögliche psychologische Unterstützung hin, die Michi dankend ablehnte, und überreichte ihm bei der Verabschiedung seine Visitenkarte mit Telefonnummer und E-Mail-Adresse.

Inzwischen hatte auch Felix sein Geschäft beendet und folgte seinem Herrchen bereitwillig zum Dienstwagen zurück.

Auf kurze Distanz

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