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Schon Wochen vor dem großen Tag war Leon Beyer davon überzeugt gewesen, dass keiner der Anwesenden diese Hochzeitsfeier so schnell vergessen würde. Als Trauzeuge des Bräutigams saß er förmlich an der Quelle und hatte einen guten Überblick über all die Streiche, Spiele und Scherze, die die Gäste für das Brautpaar ausgeheckt hatten. Und was das für Sachen waren!

Eine Brautentführung hatte das baldige Ehepaar zwar ausdrücklich verboten, aber diverse Trink- und Geschicklichkeitsspiele, einen massiven Holzklotz, den die beiden gemeinsam durchsägen sollten, oder eine heiter-pikante Raterunde quer durch die Vergangenheit der beiden hatten sie nicht untersagt. Jedenfalls nicht explizit.

„Macht es nicht allzu peinlich für uns“, hatten sie gebeten, und dieser Bitte hatte Leon zähneknirschend zugestimmt. Zumal ja Peinlichkeit eh im Auge des Betrachters lag.

Nun war der große Tag gekommen, und zumindest die zwei wichtigsten Stationen – die standesamtliche und kirchliche Trauung – hatten sie bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und war erstaunt, dass es schon kurz vor halb vier war. Rein vom Gefühl her hatte er auf maximal zwei getippt.

Er vergewisserte sich kurz, dass es dem Brautpaar momentan an nichts fehlte, und verließ den Festsaal. Draußen stapfte Marina, die Trauzeugin der Braut und damit sein weibliches Gegenstück, an ihm vorbei. Ihr grimmiger Gesichtsausdruck ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass es eine schlechte Idee wäre, sie derzeit anzusprechen.

Das war Leon nur recht. Er schlängelte sich an einigen Freibiergesichtern vorbei und sah zu, dass er das Lokal verließ, bevor ihn einer nach dem Ablauf des nächsten Hochzeitsspiels fragen konnte. Nach der zwanzigsten Erklärung begann das allmählich zu nerven.

Auf dem Parkplatz sog er genüsslich die frische Aprilluft ein und beschloss, sich die Beine zu vertreten. In den vergangenen Stunden hatte er die meiste Zeit gesessen. Auch der kleine Imbiss nach der kirchlichen Trauung lag ihm noch schwer im Magen. Wie er nachher Kaffee, Torte und das viergängige Abend-Menü runterbekommen sollte, war ihm ein Rätsel. Aber damit konnte er sich später beschäftigen.

Zu seiner Linken nahm er eine Bewegung wahr und sah, wie sich der dunkelbraune Hovawart-Rüde Felix zwischen den Autos hindurchschlängelte. Der Kläffer gehörte Sybille Kaiser, einer guten Freundin der Braut. Leon musste zweimal hinsehen, um seinen Augen zu trauen. Irgendein Scherzbold hatte allen Ernstes eine Minikamera am Halsband des Hundes befestigt. Eine Sekunde lang war er eifersüchtig, dass ihm diese grandiose Idee nicht gekommen war, dann sagte er sich, dass ein Großteil der Aufnahmen vermutlich eh total verwackelt sein würde. Doch auch das war nicht sein Problem.

Während der Hund mit hängendem Kopf zum Gasthof trottete, stieg Leon auf die kleine Steinmauer am Parkplatz und wagte einen Blick den Hügel hinab. Vor ihm erstreckten sich die Wiesen und Felder des Knoblauchlandes, die nach dem milden Winter schon wieder in satten Grün- und Gelbtönen erstrahlten. Das und der strahlendblaue Himmel gaben ein herrliches Postkartenmotiv ab. Schade, dass er seine Kamera drinnen liegen gelassen hatte. In etlichen Kilometern Entfernung erkannte er ein paar Häuser, die vermutlich zum Fürther Stadtteil Sack oder Ronhof gehörten.

Aus den Augenwinkeln nahm er einige Sträucher wahr – und einen hellen Gegenstand, der nicht ins Bild passte. Für einen Stein war er zu lang, außerdem schien er aufrecht zu stehen. Leon kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts Genaueres erkennen.

Neugierig ging er darauf zu. Nach wenigen Schritten schalt er sich selbst einen Idioten, dass er jetzt tatsächlich diesen Abhang hinunterlief. Sicher hatte dort hinten nur jemand seinen Unrat weggekippt. Nicht auszudenken, wenn er deswegen stolperte oder ausrutschte und sich den Anzug versaute. Das blöde dreiteilige Ding hatte eine hübsche Stange Geld und mindestens genauso viele Nerven gekostet. Schließlich musste er als Trauzeuge zwischen all den anderen Gästen hervorstechen. Nur der Bräutigam durfte noch edler aussehen.

Eine Fliege schwirrte vor seiner Nase herum, und in Gedanken ganz bei dem fragwürdigen Gegenstand vor ihm, schlug Leon nach ihr. Ein wirklich hartnäckiges Biest war das. Noch dazu brachten ihn die abrupten Bewegungen tatsächlich einen Atemzug lang ins Schlittern. Aber er erlangte das Gleichgewicht zurück, bevor er sich auch nur vor einem Sturz fürchten konnte.

„Ich sollte einfach umdrehen und zurückgehen“, murmelt er. „Die anderen warten bestimmt schon auf mich.“

Trotzdem ging er unbeirrt weiter, bis er die Sträucher erreichte. Der Gegenstand befand sich direkt zwischen zwei größeren Grasbüschen und sah aus wie die Sohle eines blassen lila Damenschuhs. Nein, stopp, er sah nicht nur aus wie ein Damenschuh, es war tatsächlich einer.

Also doch bloß Abfall.

Er wollte sich schon abwenden, da fiel ihm auf, dass etwas in dem Schuh steckte. Besser gesagt jemand, nicht etwas. Hinter den Büschen lag eine Frau. Er erkannte die helle Haut eines Unterschenkels, ein Knie und darüber etwas, was der Anfang eines purpurnen Rocks sein konnte.

Leon stockte der Atem. Wie in Trance ging er weiter. Eisfinger legten sich um sein Herz und pressten es zusammen. Inzwischen sah er auch das andere Bein, das angewinkelt und irgendwie verdreht nach hinten zeigte.

„Hallo? Alles klar bei Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?“

Seine Stimme klang dünn und brüchig, aber das war ihm egal. Er umrundete den Strauch, und es offenbarten sich weitere Details. Eine etwa dreißigjährige Frau in einem lila Kostüm. Sie lag auf dem Rücken. Reagierte nicht. Bewegte sich nicht. Die Augen und der Mund standen weit offen. Ihr Blick, vollkommen ohne Glanz oder Leben, war auf einen unsichtbaren Punkt am Himmel gerichtet.

Leon spürte, wie ihm der Mund trocken wurde. Panik erfasste ihn. Eine Sekunde lang wollte er zurückweichen. Am besten abhauen und so tun, als wüsste er von nichts.

Erst jetzt wurde ihm klar, dass er die Frau kannte. Es war Sybille Kaiser, die beste Freundin der Trauzeugin. Zwar kannte er sie nur flüchtig, erinnerte sich aber daran, dass sie nahe der Nürnberger Innenstadt wohnte und mit ihrem Lebensgefährten Holger zur Feier gekommen war. Aber was tat das in einem Moment wie diesem schon zur Sache?

Tränen schossen ihm in die Augen, und er schnappte nach Luft. Er musste Hilfe holen, auch wenn es so aussah, als käme für Sybille jede Hilfe zu spät.

Hastig eilte er den Hügel hinauf und verschwendete nun keinen Gedanken mehr daran, ob sein Anzug dreckig wurde. Ein befremdlicher Gedanke kam ihm in den Sinn: Dies würde definitiv eine unvergessliche Hochzeitsfeier werden. Es war wie ein blöder Scherz. Doch das Lachen blieb ihm buchstäblich im Halse stecken.

Auf den Hund gekommen

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