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Sie blieben noch eine gute Stunde im Gasthof. Die Befragung der Streifenpolizisten dauerte an und hatte bisher zu keinen neuen Erkenntnissen geführt. Nachdem auch das Brautpaar aufgebrochen war, sah Mark den Tatsachen ins Auge: Für den Moment konnten sie hier nichts mehr tun. Draußen ging langsam die Sonne unter, und die Zeit für den Feierabend war eh längst gekommen.

In Absprache mit Nicole und ihrem Team lud er sich zähneknirschend sämtliche Hundesachen aus dem Festsaal und Sybille Kaisers Auto in den Dienstwagen. Felix verfolgte alles aufmerksam, hielt sich mit Bellen oder sonstigen Geräuschen aber zurück. Offensichtlich hatte er sein Schicksal längst akzeptiert. Für Mark war das nicht ganz so einfach. Dass er jetzt eine Hundedecke, mehrere Kissen und Kauknochen sowie das Trockenfutter inklusive zweier dazugehöriger Keramiknäpfe in seinen Kombi verfrachten würde, hätte er heute Morgen noch für ausgeschlossen gehalten. Das und vieles mehr.

Während der Rückfahrt zum Präsidium schaute er immerzu in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, ob es dem Vierbeiner im Kofferraum gut ging und dass er nicht das Interieur auseinandernahm. Zum Glück hielt sich Dominik mit blöden Kommentaren zurück und beschränkte auch seine Nieser – dem offenen Fenster sei Dank – auf ein Minimum.

An der Schöllerkreuzung dämmerte Mark, dass er besser die Gunst der Stunde nutzte. Jetzt waren sie noch zu zweit im Auto. Wenn einer ausstieg, konnte der andere weiterhin die Fellnase im Auge behalten.

Also reihte er sich in die Abbiegespur ein und steuerte den Passat zielgerichtet zur nächsten Fressnapf-Filiale. Insgeheim war er stolz auf sich, überhaupt zu wissen, wo sich ein solches Geschäft befand. Betreten hatte er es hingegen noch nie.

Trotzdem war er wenig überrascht, dass die Auswahl an Tiernahrung gelinde ausgedrückt sehr umfangreich ausfiel. Er entschied sich für einen kleinen Sack Bio-Hundetrockenfutter, das laut der vielen Siegel auf der Verpackung in etlichen Tests als Spitzenreiter abgeschnitten hatte. Wieso Felix nach dem ganzen Mist, den er heute erlebt hatte, nicht was Gutes tun? Im Tierheim würde er morgen vermutlich eh bloß das deutlich günstigere 08/15-Zeug aus dem Großmarkt bekommen.

Als sie das Präsidium erreichten, verabschiedete sich Dominik mit einem schadenfrohen Grinsen und den Worten „Na, dann viel Spaß heute noch“ und stieg aus. Mark überlegte, ihm dafür den Mittelfinger zu zeigen, beschränkte sich aber auf ein launiges „Danke, dir auch.“

Dann gab er Gas und reihte sich wieder in den Feierabendverkehr ein. Er folgte dem Spittlertorgraben den Berg in Richtung Burg hinauf und bog dahinter in die Pirckheimer Straße ein. Vom Präsidium bis zu ihm in die Parkstraße waren es zwar bloß dreieinhalb Kilometer, dennoch schaffte er diese Strecke in der Regel nicht unter 20 Minuten. Auch jetzt waren noch immer viel zu viele Autos unterwegs, als dass an ein zügiges Vorankommen überhaupt zu denken war.

Normalerweise nutzte er die Zeit, um mittels Musik den Arbeitsstress abzuschütteln. Heute aber saß ein Hund im Kofferraum, und sein Blick wanderte mindestens jede zweite Minute zu ihm. Noch verhielt sich Felix friedlich und beschränkte sich darauf, mit seinem Gesabber die Fenster zu beschmieren. Aber es gab keinen Garant, dass das so blieb. Musste der Fiffi nicht auch irgendwann raus, um sein Geschäft zu erledigen? Mit Schrecken fiel ihm ein, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wann der Vierbeiner das letzte Mal pinkeln war. Oder hatte Felix das längst im Auto erledigt? Am liebsten wäre er rechts rangefahren und hätte nachgeschaut, ob alles in Ordnung war.

Hör auf, dich verrückt zu machen, versuchte er sich zu beruhigen. Sein Frauchen hat ihm sicherlich beigebracht, dass er sich meldet, wenn er dringend mal rausmuss. Überleg lieber, wie du Caro die Sache beibringen willst.

Caro.

Oha.

An sie hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Wie würde sie auf den unerwarteten Schlafgast reagieren? Dass sie „Auf keinen Fall kommt mir diese Töle ins Haus!“ sagen würde, war unwahrscheinlich. Eher das Gegenteil. Trotzdem würde die Situation auch für sie eine gewaltige Überraschung sein. Sie jetzt deswegen noch anzurufen machte wenig Sinn. In ein paar Minuten würde er eh daheim sein. Außerdem hatte er keine Ahnung, wie er ihr das erklären sollte.

Was, wenn sie annahm, er hätte ihrem beharrlichen Bitten schlussendlich doch nachgegeben und dass Felix ihr neuer Mitbewohner wäre? Oder wenn sie vorschlagen würde, dass Felix für immer bei ihnen blieb? So nach dem Motto Nachdem er jetzt einmal da ist … Er sah es deutlich vor sich, wie sie ihn mit ihren mandelbraunen Rehaugen fast flehend anschaute. Das konnte sie wirklich gut. Würde sie akzeptieren, dass es bloß für eine Nacht und Felix ausschließlich Zeuge in einer Mordermittlung war?

Wo sollte der Hund überhaupt schlafen? Mit ihnen zusammen im Bett, so wie es im Fernsehen mit Haustieren oftmals der Fall war?

Auf keinen Fall.

Technisch gesehen hatten sie ein ganzes Zimmer leer stehen. Ein Raum, der zurzeit halbherzig als Gäste- und Arbeitszimmer genutzt wurde, jedoch eigentlich für etwas völlig anderes gedacht war: als Kinderzimmer für ihren Nachwuchs.

Caro und er probierten seit Längerem, ein Kind zu bekommen. Geklappt hatte es bisher nicht. Wahrscheinlich war sie deshalb auch so scharf darauf, dass wenigstens ein Hund bei ihnen einzog. Nicht, dass er deswegen irgendein ungutes Omen heraufbeschwor oder eine nicht verheilte Wunde aufriss.

Hör auf, so einen Blödsinn zu denken, ermahnte er sich. Erklär ihr die Sache, wie sie ist. Sie wird es verstehen und sich über den Schlafgast freuen. Selbst wenn es bloß für eine Nacht ist.

Dennoch plagte ihn den Rest der Fahrt eine gewisse Unsicherheit, die sich auch mit den Liedern von Frank Turner und Kasabian nicht vertreiben ließ.

Erstaunlicherweise fand er diesmal einen freien Parkplatz fast direkt vor der Haustür. Normalerweise musste er immer eine gefühlte Ewigkeit danach suchen. Es war fast so, als wollte jemand, dass er möglichst bald nach Hause kam. Allein der Gedanke daran trieb seine Nervosität weiter in die Höhe. Er beschloss, noch einen kleinen Abstecher in den Stadtpark zu unternehmen, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite begann.

Das passte, um noch einmal durchzuatmen und Felix die Sträucher neben dem Bürgersteig bewässern zu lassen. Was ihm zumindest eine Sorge nahm.

Vollgepackt mit dem Hundezubehör öffnete er schließlich die Wohnungstür. Felix spielte mit und stürmte weder voran, noch gab er ein Geräusch von sich. Im Gegenteil, er zog den Schwanz ein, senkte das Haupt und beschnüffelte zaghaft den Boden. Das gab Mark die Chance, wenigstens die Sachen abzustellen, bevor es weiter ins Wohnzimmer ging. Sein Herz hämmerte auf einmal doppelt so schnell, außerdem spürte er dieses Grinsen auf seinem Gesicht, das sich partout nicht abstellen ließ.

„Hi, Schatz, ich bin wieder da“, kündigte er sich überflüssigerweise an. Als ob sie ihn nicht längst gehört hätte.

Caro lümmelte auf dem Ecksofa neben dem Fenster. In der einen Hand hielt sie den aktuellen Roman von Robert Krauss, mit der anderen spielte sie an einer Strähne ihrer braunen, schulterlangen Haare.

Er trat ein, und sie schaute auf. Es war wie im Film. Sobald sie den Hund bemerkte, weiteten sich ihre Augen, und sie begann zu strahlen. In einer fließenden Bewegung lag das Buch zugeschlagen auf dem Beistelltisch, und sie befand sich auf dem Weg zu ihm. Sie war einen halben Kopf kleiner als er, hatte haselnussbraune Augen, ebenso braune, schulterlange Haare, dazu eine normale Figur, nicht dick aber auch nicht spindeldürr. Eben mit den Rundungen an genau den richtigen Stellen. Der Begrüßungskuss fiel heute bemerkenswert kurz aus.

„Wow, ist das dein neuer Partner? Ich dachte, dir soll eine Frau zugewiesen werden.“

„Mein neuer Partner? Wie? Ach so, nein, das ist ein anderes deprimierendes Kapitel. Das ist Felix. Er ist Zeuge in einer Mordermittlung, und im Tierheim haben sie heute noch keinen Platz für ihn.“

„Also kein Familienzuwachs für uns?“ Sie betonte die Frage auf eine Weise, die ihm sofort sagte, dass sie nicht eine Sekunde davon ausging, dass der Vierbeiner tatsächlich dauerhaft bei ihnen einziehen würde. Sie kannte Mark eben. Einen Moment lang kam er sich ziemlich dämlich vor, dass er so was auch nur angenommen haben könnte.

„Nicht ganz. Wenn alles glatt läuft, zieht er morgen woanders ein.“

„Und wenn nicht?“

Darüber denke ich gar nicht erst nach, lag es ihm auf der Zunge. Er fand es ratsamer, lediglich mit den Schultern zu zucken. Was Caro wahrscheinlich nicht einmal mehr mitbekam. Sie war längst auf die Knie gegangen und kraulte den Vierbeiner, als wären sie alte Freunde, die sich eine Ewigkeit nicht gesehen hätten. Auch Felix verhielt sich entsprechend und ließ die Streicheleinheiten sichtbar gerne über sich ergehen.

„Du bist ein ganz Lieber“, sprach sie mit dem Hund. „Und dann auch noch ein Hovawart. Die mag ich besonders.“

„Ein was? Ich dachte, es ist ein dunkler Golden Retriever.“

Sie warf ihm einen Blick zu, als könnte er kaum die Uhrzeit ablesen. „So was gibt es nicht. Was denkst du denn, wofür das Wort Golden in der Bezeichnung steht? Mit dunklem Fell heißen sie Flat-Coated Retriever, aber die sehen ganz anders aus als die Hovawart-Schnuffis.“

„Danke für die Aufklärung. Ich gehe mal davon aus, du hast nix dagegen, wenn Felix heute Nacht bei uns bleibt?“

„Auf die Frage erwartet er nicht ernsthaft eine Antwort“, sagte sie an den Hund gerichtet.

Womit sie recht hatte. Er ging in den Flur, um Jacke und Schuhe auszuziehen, da fiel ihm ein, dass er den Trockenfuttersack noch im Kofferraum stehen hatte.

Also lief er die drei Stockwerke runter zum Auto und anschließend wieder hinauf. Genau das Richtige nach einem anstrengenden Arbeitstag. Alles in allem brauchte er dafür sicherlich keine fünf Minuten. Bei seiner Rückkehr ins Wohnzimmer saß Caro ausgestreckt auf dem Sofa, und Felix schmiegte seinen Kopf an ihren Oberschenkel. Als wären sie tatsächlich alte Bekannte.

Unglaublich.

„Was willst du denn damit?“ Caro rümpfte die Nase.

„Äh … dem Hund zum Fressen geben. Das ist echt hochwertig und Testsieger. Hab ich vorhin erst im Fressnapf gekauft.“

„Das ist hoffentlich nicht alles, was du geholt hast. Was ist mit Nassfutter?“

„Nassfutter? Trockenfutter? Wo ist da der Unterschied?“

„Wo ist da der Unterschied“, äffte sie ihn nach. „Da merkt man echt, dass du keine Ahnung hast. Zeig mir mal, was du noch dabeihast.“

Er tat, wie ihm geheißen, und erntete noch mehr Stirnrunzeln.

„Gib mir mal Zettel und Stift. Ich schreib dir auf, was wir brauchen.“

Mark reichte ihr das Gewünschte und sah zu, wie sie mehrere Sachen notierte. Selbst zwei Spielsachen waren darunter.

„Du sputest dich besser. Es ist schon kurz nach halb acht.“

Zuerst vermutete er einen schlechten Scherz, doch Caros auffordernder Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. Mit viel guter Laune machte er sich wieder auf den Weg.

Zehn vor acht hielt er mit quietschenden Reifen und einem Puls von hundertachtzig auf dem Parkplatz vor dem Laden. Auf dem Weg hierher hatte er eine Fahrschule und zwei Sonntagsfahrer par excellence vor sich gehabt. Dabei war heute gar nicht Sonntag.

Als er das Geschäft betrat, wirkte die Verkäuferin gelinde gesagt wenig erfreut, ihn zu sehen. Offenbar gab es außer ihm keine anderen Kunden mehr, und sie hatte schon mit dem Kassensturz begonnen. Um die Sache für sie beide abzukürzen, setzte er ein möglichst freundliches Lächeln auf und reichte ihr die Liste.

Entnervt pustete sie ihm einen Schwall abgestandener Luft entgegen. Dann stand sie seufzend auf und bat ihn, ihr zu folgen.

Irgendwas läuft hier total falsch, überlegte Mark, behielt den Kommentar aus Rücksicht auf seine Gesundheit aber lieber für sich. Sie führte ihn von Regalreihe zu Regalreihe und wählte zielsicher stets das teuerste Produkt aus. Mark beschwerte sich auch darüber nicht. Er war einfach nur froh, als sie kurz nach acht am Kassenband standen. Beim Anblick des Preises blieb ihm kurzzeitig die Luft weg, doch auch hier protestierte er nur innerlich und zückte brav die EC-Karte.

Wenigstens gestaltete sich die Rückfahrt problemlos. Binnen zehn Minuten war er daheim, brauchte allerdings noch einmal mindestens genauso lang, um eine neue freie Parkbucht zu finden. Einen halben Kilometer vom Stadtpark entfernt wurde er in einer Seitenstraße fündig.

Mark war nicht mal überrascht. Ebenso wenig, als er in der Wohnung feststellte, dass Caro und Felix ihre Freundschaft weiter vertieft hatten. Der Hund ging sogar mit, als sie kurz aufs Klo verschwand.

Er nutzte die Zeit, um sich ein paar längst kalt gewordene Reste des Abendessens reinzuschieben. Mit einem schwerfälligen Seufzer plumpste er anschließend neben Caro aufs Sofa. Buchstäblich als Anstandswauwau saß Felix zwischen ihnen und wirkte nicht, als würde er sich von seinem Platz vertreiben lassen. Er schaute lediglich auf, wenn einer von ihnen eine hastige Bewegung unternahm, und zuckte zusammen, sobald jemand im Treppenhaus ein lautes Geräusch verursachte.

Trotzdem war Mark nicht völlig abgeschrieben. Einige Minuten lang kraulte Caro noch das Fell ihres neuen besten Freundes, dann wanderte ihre Hand weiter zu Marks Rücken und strich auch ihm liebevoll darüber. „Und nun erzähl mal, wie dein Tag war.“

„Furchtbar“, fasste er kurz zusammen und ging anschließend ins Detail. Angefangen von Dominiks Auftauchen auf dem Revier über ihre ersten Gespräche bis hin zu den gemeinsamen Ermittlungen auf der Hochzeit. Auf zu viele Details über den laufenden Fall verzichtete er bewusst, und Caro hakte wie üblich nicht weiter nach. Sie wusste zur Genüge, dass er ihr nicht alles verraten durfte. Worüber sie wahrscheinlich insgeheim auch recht froh war.

„Dein neuer Partner scheint ein ziemlicher Chaot zu sein“, resümierte sie.

„Das ist noch milde ausgedrückt. Ich hoffe, er verzieht sich bald. Er hält es ja offenbar eh nicht lange an einem Ort aus.“

„Na ja, versteif dich darauf mal lieber nicht zu sehr. Die nächsten Wochen – und Monate – wirst du ihn bestimmt an der Backe haben.“

„Hoffentlich nicht. Wie war dein Tag?“

Sie erzählte ihm von ihrem Job als Bauzeichnerin im Architekturbüro inklusive dem neuesten Büroklatsch über den blöden Chef und die eine besonders faule Kollegin, und er lauschte gespannt. Für ihn wäre die Schreibtischarbeit auf Dauer vermutlich nichts, aber Caro mochte es, sich akribisch mit den kleinsten Kleinigkeiten zu befassen. Für sie war es genau das Richtige. Er liebte es, wie ihre Augen leuchteten, wenn sie davon sprach, und ihn mit irgendwelchen Fachbegriffen bombardierte, von denen er gerade mal die Hälfte verstand.

Als sie kurz nach elf zu Bett gingen, ließ sich Felix bereitwillig auf seinen Decken und Kissen im Nebenzimmer nieder. Die Tür ließen sie bloß angelehnt. „Damit er keine Angst bekommt“, erklärte Caro.

Vielleicht sollten wir die lieber haben, dass er in der Nacht über uns herfällt, überlegte Mark, sagte stattdessen aber: „Wie du meinst. Hoffentlich schnarcht er nicht.“

Er meinte das ernst, doch sie lachte nur.

Auf den Hund gekommen

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