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Kriminalkommissar Mark Richter ahnte Schlimmes. Statt der erhofften jungen Kollegin aus Erlangen war vorhin ein verlottert aussehender Mittvierziger im schlecht sitzenden Anzug im Präsidium erschienen und direkt im Büro des Chefs verschwunden.

Oh nein, bitte nicht der als neuer Partner, flehte Mark innerlich, spürte aber insgeheim, dass dies vergebliche Mühe war. Es brauchte nicht viel Spürsinn, um hier eins und eins zusammenzuzählen. Warum tat Olaf ihm so was an? Hatte er ihn irgendwie gekränkt?

Dabei hatte Mark so sehr darauf gehofft, dass es die Frau aus Erlangen werden würde. Mit ihr hatte er schon einige Male zusammengearbeitet und sie als ebenso umgängliche wie pfiffige Kollegin erlebt. Der Typ hingegen …

Frustriert lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und nippte an seinem Kaffee. Der längst kalt war. Passte ja. Angewidert verzog er das Gesicht und sah zu, dass er den Pott wieder abstellte.

Auf dem Flur wurden Stimmen laut, und er sah, wie der Chef mit dem Lotter-Heini das Büro verließ. Sicher würden sie direkt zu ihm kommen.

Verdammt.

Mark sprang auf. Eine Sekunde lang war er drauf und dran, zu seinem Kollegen Jan Schuster zu laufen, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Es waren nur wenige Meter bis zum anderen Ende des Großraumbüros. Alles war besser, als hier tatenlos auf die Katastrophe zu warten. Doch Jan griff just in diesem Augenblick nach dem Telefon und schied als Rettungsanker aus. Ansonsten hielt sich niemand im Büro auf. Besonders die gegenüber befindliche leere Hälfte des Doppelschreibtisches bereitete Mark Sorgen. Zweifellos würden der Chef und der neue Kollege genau dahin gehen, damit der Neue seine Sachen dort abladen konnte.

Mark wurde bewusst, dass er sich wie ein kleines Kind aufführte, wofür er mit Mitte dreißig eindeutig zu spät dran war. Nimm es wie ein Mann, ermahnte er sich selbst. Vielleicht ist er ja gar nicht so schlimm.

Beim Betreten des Büros wirkten Olaf und der Neuzugang wie ein eingespieltes Team. Beide hatten die vierzig lange überschritten und schienen keinen besonderen Wert auf ihr Äußeres zu legen. Während der Chef mit einer fliehenden Stirn zu kämpfen hatte, schien dem anderen das immer weiter ergrauende Haar nahezu überall herauszuwuchern. Wie passte da Mark, der als Ausgleich zu seiner Polizeiarbeit zwei-, dreimal in der Woche ins Fitnessstudio tigerte, die blonden Haare möglichst kurz trug und sehr auf Kleidung und Erscheinungsbild achtete, ins Bild? Warum bildeten die anderen zwei nicht ein neues Ermittler-Duo? Sicher wären sie das Dreamteam schlechthin.

Natürlich kamen sie direkt auf ihn zu. Was zwar zu erwarten war, sich aber dennoch wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. Das selbstgefällige Lächeln seines Vorgesetzten glich einem weiteren Fausthieb.

„Mark, darf ich dir deinen neuen Partner vorstellen?“

Acht Worte, die den Untergang besiegelten. Er spürte es deutlich. Lächelnd stürzte er sich ins Messer.

„Hallo, ich bin Kriminalkommissar Mark Richter.“

Er streckte dem Unbekannten die Hand entgegen, die dieser bereitwillig ergriff. Sie fühlte sich knochig und kalt an. Wenigstens nicht feucht.

„Angenehm. Kriminaloberkommissar Dominik Waldmayer.“

Oh, Scheiße, der Neue stand auch noch im Rang über ihm. Das wurde ja immer besser.

„Er kommt direkt aus Aschaffenburg und wurde mir von seinen Kollegen als ausgezeichnete Spürnase empfohlen. Ich bin sicher, dass ihr euch schnell zusammenrauft und gut zusammenarbeiten werdet.“

Als wäre damit alles erklärt, zeigte er Waldmayer seinen Schreibtisch direkt gegenüber Marks und verabschiedete sich dann. Der Chef hatte gut reden. In seinem Einzelbüro mit bestem Blick auf den Jakobsplatz ließ sich bestimmt so einiges leichter ertragen.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte der Neue und ließ sich auf seinem Drehstuhl nieder. Irgendwas schien ihn allerdings zu stören, er rutschte unruhig hin und her. „Wir müssen uns übrigens nicht siezen. In der Hinsicht bin ich locker.“

„Ja, klar. Gern. Dann bin ich der Mark.“

„Und ich Dominik.“

Abermals schüttelten sie die Hände, bevor sich der Neue wieder setzte und erneut anfing, auf dem Stuhl herumzurutschen.

Mark runzelte die Stirn, beschloss aber, es zu ignorieren. „Du bist kein gebürtiger Aschaffenburger, oder? Du klingst nicht so.“

„Gut erkannt, Sherlock. Ich bin bloß für einige Monate dorthin abgeordnet worden. Davor war ich in Gunzenhausen und Ansbach.“

„Da bist du ganz schön rumgekommen.“

„Na ja, ich gehe dorthin, wo ich gebraucht werde. Du weißt schon, immer da, wohin der Wind mich weht.“

Oh Gott. Vor seinem geistigen Auge sah er einen bärtigen Hippie in langen Batik-Gewändern, der beschwingt über eine Blumenwiese tänzelte. Mark stöhnte innerlich. Außerdem erinnerte er sich an einen befreundeten Kollegen von der Polizeiinspektion Ansbach, der ihm vor einigen Jahren sein Leid über einen besonders nervigen Partner geklagt hatte. War es möglich, dass es dabei um Dominik Waldmayer gegangen war? Kurz überlegte er, nachher bei ihm anzurufen, beschloss aber nur einen Atemzug später, dass er es lieber gar nicht so genau wissen wollte.

„Bin mal gespannt, wie es jetzt hier in Nürnberg läuft“, fuhr Dominik fort. „So weit im Zentrum von Mittelfranken war ich bisher noch nie. Das spricht man doch so aus: Middelfrrranknnn, oder?“ Er versuchte, das R zu rollen, machte es damit aber nur noch schlimmer.

„Ja, so in etwa.“ Als gebürtigem Nürnberger tat ihm allein die gekünstelte Aussprache in der Seele weh. Mark überlegte, dem Kollegen einige deftige fränkische Redewendungen um die Ohren zu werfen, um ihm zu zeigen, wie man es richtig aussprach, verwarf allerdings auch diese Idee rasch wieder.

Das Klingeln seines Telefons hielt ihn von einer weiteren Antwort ab. Dankbar für die Ablenkung schnappte er sich den Hörer und bellte ein hastiges „Ja“ hinein.

Gleich darauf wurde sein Lächeln breiter. Neue Arbeit winkte.

„Wir müssen los. Auf einer Hochzeit wurde eine Frau ermordet.“

„Oha, hoffentlich nicht die Braut.“

Würde das einen Unterschied machen? Mark beschloss, auch diesen Kommentar für sich zu behalten. Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, und er hatte das Gefühl, dass es ein sehr langer Tag werden würde.

In Marks Dienstwagen, einem dunkelgrünen Passat, tuckerten sie am Nürnberger Altstadtgürtel vorbei in Richtung Randbezirke. Der Verkehr war um diese Zeit die Hölle, und scheinbar jede Ampel schaltete kurz vor ihnen auf Rot, damit sie möglichst viel Zeit gemeinsam im Auto verbrachten. Die ersten Minuten schwiegen sie, bis Mark die Stille nicht mehr aushielt und das Radio lauter drehte. Sein Namensvetter Mark Ackermann vom Sender Wild FM moderierte gerade die aktuelle Single der Foo Fighters an.

Was bei Dominik zu einem irritierten Gesichtsausdruck und bei Mark genau deswegen zu einem zufriedenen Lächeln führte. Offenbar war sein neuer Partner kein großer Rock-Fan. Sofort bedauerte er es, keine AC/DC-CD parat zu haben. Er hätte die Lautstärke aufgedreht, bis die Fensterscheiben vibrierten. Und das, obwohl er die australischen Bierzelt-Rocker nicht einmal mochte. Aber vielleicht würde Dominik dann ja seinen Kram zusammenpacken und Platz für die optisch deutlich wertvollere Kollegin aus Erlangen machen.

Er drehte das Radio noch etwas lauter und freute sich über die sichtliche Irritation auf dem Beifahrersitz. Schließlich wurde es Dominik aber zu bunt, und er reduzierte die Lautstärke auf ein seichtes Dudeln im Hintergrund.

„Eine Hochzeit am Montag – wer macht denn so was?“, startete er einen Gesprächsversuch.

„Vielleicht war nichts anderes frei. Oder der heutige Tag hat eine besondere Bedeutung für sie?“

„Ja, schon, aber Montag?“ Dominik schüttelte den Kopf. „Ist schon bekannt, wer die Leiche gefunden hat? Oder unter welchen Umständen die Frau umgekommen ist?“

„Den Kollegen vor Ort zufolge hat der Trauzeuge sie entdeckt. Wollte sich laut eigener Aussage die Beine vertreten und hat dabei was Verdächtiges in den Büschen entdeckt. Mit Details über die Tote haben sie sich zurückgehalten. Momentan wissen wir nicht, ob es ein Hochzeitsgast oder jemand anderes ist.“

„Muss trotzdem bitter sein, am Hochzeitstag mit so was konfrontiert zu werden. Stell dir mal vor, es wäre tatsächlich die Braut. Für den Gatten bricht die Welt zusammen. Außer natürlich, er hat die Alte selbst umgelegt. Das wäre dann Blitzscheidung Deluxe.“

Ein gequältes Lächeln schlich sich auf Marks Gesicht, obwohl er es gar nicht wollte. Er kannte makabre Gespräche wie diese von anderen Kollegen – und hoffte inständig, niemals so abgebrüht zu werden. Wobei ein schlechter Scherz bloß einen faden Nachgeschmack hinterließ, im Gegensatz zu dem einen alteingesessenen Streifenpolizisten, der direkt neben einem Tatort ungerührt seine Frühstücksbrote ausgepackt hatte.

Von der Erlanger Straße bogen sie zum Stadtteil Buch ab und erreichten wenig später den Gasthof, in dem sich die Hochzeitsgesellschaft zum Feiern eingefunden hatte. Es war ein flacher, einstöckiger Bau, der in Breite das wettmachte, was ihm an Höhe fehlte. Mark schätzte, dass er bestimmt halb so groß wie ein Fußballfeld war. Mehrere Streifenwagen auf beiden Straßenseiten sowie zwei Rettungswagen ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich an der richtigen Adresse befanden.

Seufzend parkte Mark direkt hinter dem letzten Fahrzeug und betrat das Grundstück. Dominik folgte ihm einige Schritte dahinter und schob sich irgendwas Kleines aus der Jackentasche in den Mund. Hoffentlich bloß Bonbons und nicht irgendwelche Pharmazeutika, dachte Mark und schaute sich um.

Vor dem Lokal stand eine Traube rauchender Männer und Frauen, alle in edlen Kleidern und mit stoischen Gesichtsausdrücken. Eine blasse Blondine zitterte merklich, während sie an ihrem Glimmstängel nuckelte. Aus dem Inneren des Gasthofs drang ein Wirrwarr verschiedener Stimmen, nach Feiern schien niemandem mehr zumute zu sein.

Auf dem Weg zur Rückseite des Gebäudes trafen sie auf zwei uniformierte Polizisten und zückten ihre Polizeiausweise. Der Kollege nickte und trat beiseite, damit sie den breiten Parkplatz betreten konnten. Mehrere Dutzend Autos standen da, jedes davon auf Hochglanz poliert, sodass der Lack im langsam abnehmenden Tageslicht funkelte. So war das für Feiern wie diese nun mal üblich. Mark fragte sich, ob er jemals an diesem Punkt sein würde. Falls ja, dann bitte ohne derartige Zwischenfälle.

„Hast du eigentlich eine Frau oder Freundin?“, fragte er seinen neuen Partner, obwohl er sich die Antwort denken konnte.

Dominik schüttelte den Kopf. „Nein, mit mir hält es doch keine länger aus. Und wie steht‘s bei dir?“

„Freundin.“

„Kinder?“

„Bisher keine.“

„Ich auch nicht. Na siehst du, und schon haben wir die erste Gemeinsamkeit.“

Mark biss sich auf die Zunge. Ja, sie atmeten beide dieselbe Luft und liefen über dieselbe Erde. Trotzdem machte sie das nicht zu Seelenverwandten oder sonst irgendwas.

Sie ließen eine Steinmauer hinter sich und folgten dem dahinter befindlichen kleinen Abhang zu den Sträuchern. Hier hatten die Kollegen vom KDD längst mit dem sogenannten ‚Ersten Angriff‘ begonnen und angefangen, den Tatort in jeder nur erdenklichen Weise zu sichern. Dazu zählte nicht bloß, das Gebiet nach Beweismitteln abzusuchen, sondern auch eine Spurengasse einzurichten, damit mögliche Beweise weder verfälscht, zerstört noch durch eigene beschädigt wurden. Wichtig dabei war außerdem, sämtliche Zeugen und Schaulustigen hinter die Absperrung zu verweisen und nur noch die Fachleute von der Kripo vorzulassen.

Das Hauptaugenmerk der Spurensicherung schien der Rückseite der Büsche zu gelten, wo Mark die blassen Beine der Toten erkannte. Unweigerlich stellte sich ein flaues Gefühl in der Magengegend ein.

„Servus, Kollegen“, begrüßte er die Spusis und erreichte damit genau die Person, die er sich erhofft hatte: eine knackige Enddreißigerin mit brünettem Pferdeschwanz und Kulleraugen, die sofort auf sie zukam. „Hallo, Mark, ist das die neue Kollegin aus Erlangen?“

„Ja, sie sieht ein bisschen anders aus als erwartet.“

„Wir machen nur Spaß“, sagte sie an Dominik gewandt. „Hi, ich bin Nicole. Dein erster Tag heute hier, oder?“

„Ganz genau. Ich heiße Dominik“, stellte er sich vor. Sie tauschten einige Floskeln über seine früheren Einsatzgebiete aus, bei denen auch die Kollegen um sie herum die Ohren spitzten. Einige kamen sogleich zu ihnen und stellten sich ebenfalls vor. Was angesichts des Tatorts, an dem sie sich befanden, vermutlich nicht nur Mark bizarr vorkam. Entsprechend schnell kamen sie wieder auf den eigentlichen Grund ihres Hierseins zurück.

Die Kommissare zogen sich Gummihandschuhe über und gingen neben dem Leichnam in die Hocke. Mark hielt sich absichtlich etwas seitlich, um den Kollegen nicht zu behindern, der gerade mit dem Schießen der Tatortfotos beschäftig war, und drehte den Kopf so, dass ihn das Blitzlicht nicht ständig blendete. Außerdem wollte er so sicherstellen, dass er keine Luft direkt aus Richtung der Toten einatmete. Wahrscheinlich machte es keinen großen Unterschied. Dennoch widerstrebte ihm allein der Gedanke daran. Dominik schien weder das eine noch das andere zu schaffen zu machen. Selbst als der Fotograf ihm deutlich auf die Pelle rückte, verzog er keine Miene.

Die Frau war schätzungsweise um die dreißig. Sie hatte brünette, schulterlange Haare und eine recht sportliche Figur. Obwohl sie mit der linken Gesichtshälfte nach unten lag, erkannte Mark sofort, dass sie ein hübsches Gesicht mit vollen Lippen, einer kleinen spitzen Nase sowie akribisch gezupften Augenbrauen besaß. Zu Lebzeiten war sie definitiv eine Augenweide gewesen. Ihr Hinterkopf wirkte eingedrückt. Vorsichtig tastete er mit den Fingern darüber und spürte massive Knochenbrüche. Sein Magen zog sich auf die Größe einer Walnuss zusammen. An Momente wie diese würde er sich nie gewöhnen. Am liebsten hätte er die Hand sofort zurückgezogen, aber er tastete noch kurz weiter, auf der Suche nach kantigen Abdrücken. Es gab keine.

„Offenbar ein stumpfes Schädeltrauma“, sagte er an Dominik gewandt. Dieser berührte ebenfalls den Hinterkopf und nickte zustimmend. Ihm schien eine Bemerkung auf der Zunge zu liegen, doch bevor er die aussprechen konnte, trat ein grauhaariger Mann in den Vierzigern mit fliehender Stirn und länglichem Gesicht an sie heran. Mark kannte ihn von früheren Einsätzen. Der Notarzt.

„Sehe ich genauso. Der Temperatur zufolge ist sie noch nicht lange tot.“

„Sie hieß Sybille Kaiser“, sagte Nicole hinter ihnen. „Alter: 32. Wohnhaft am Prinzregentenufer.“ Sie gab Mark das Portemonnaie und den Personalausweis der Frau. Er überflog die Daten auf dem Ausweis, ohne etwas Auffälliges festzustellen, und reichte beide Sachen an Nicole zurück. Mit den Habseligkeiten der Toten würde er sich später genauer befassen.

„Das hier dürfte nicht der Tatort, sondern lediglich der Auffindeort sein. Offenbar wurde der Körper nach der Ermordung bewegt“, sagte Nicole, während sie die Tasche der Frau in eine Beweismitteltüte steckte. „Es gibt Schleifspuren im Gras. Blut hingegen haben wir bei den Büschen kaum gefunden.“

Dominik stand auf und schaute sich um. „Und wie kam die Tote hierher? Mit einer ganzen Hochzeitsgesellschaft im Nacken wird der Täter sie wahrscheinlich nicht einmal quer über den Parkplatz geschleppt haben.“

Nicole nickte zustimmend. „Ich glaube, der eigentliche Tatort ist der Hof auf der Rückseite des Gebäudes. Normalerweise haben Gäste dort gar keinen Zutritt, weil es nahe vom Lieferanteneingang liegt und noch dazu dort gerade Baustelle ist. Die Kollegen untersuchen gerade alles.“

„Habt ihr schon etwas entdeckt, was als Tatwaffe infrage kommt?“

„Soweit ich weiß, nicht.“

„In Ordnung, dann lass uns mal zum Tatort gehen. Wenn ihr mit den Fotos und der Spurensicherung fertig seid, könnt ihr den Leichnam in die Rechtsmedizin schicken. Hoffentlich liefert uns die Obduktion ein paar konkrete Hinweise.“

Der Fotograf nickte und beugte sich über die Leiche, um weitere Bilder zu knipsen. Kurz schielte er skeptisch zu Dominik, was aber außer Mark niemandem auffiel.

Nicole trat kurz zu einem ihrer Kollegen, sprach dort allerdings so leise, dass sie kein Wort verstanden. Nach wenigen Sekunden war das Gespräch beendet, und sie führte die Kommissare über die Spurengasse den Berg hinauf. Oben angekommen, stapften sie am Parkplatz vorbei zur Gebäuderückseite, wo weitere Absperrbänder und uniformierte Polizisten sie erwarteten.

Der Hinterhof war ein zur Hälfe gepflasterter Platz von vielleicht 30 Quadratmetern Größe. Dahinter lag ein geteertes Wegstück, das die wenigen Meter bis zur Straße führte. Die schmale Einfahrt wurde durch dichte Sträucher abgegrenzt und war sicherlich nicht der offizielle Eingang . Unwahrscheinlich, dass da jemandem was aufgefallen war. Rechterhand gab es einen breiten Wiesenstreifen mit Laubbäumen, der sich bis zu den Feldern erstreckte. Mit Zeugen brauchte man da eher nicht zu rechnen.

Besser sah es da beim angrenzenden Lokal auf der linken Seite aus. Es gab mehrere Fenster, und auch wenn die meisten davon mit Jalousien oder Gardinen behängt waren, bestand zumindest der Hauch einer Chance, dass einer im richtigen Moment nach draußen geschaut hatte. Entweder dort oder durch eine der beiden Glastüren, die ins Haus führten.

Sein Blick folgte einem schnurrbärtigen Mann von der Spurensicherung, der zwischen zwei hüfthohen Erdhaufen hindurch zu einem Bretterstapel ging. Daneben befanden sich drei Paletten voll mit grauen Pflastersteinen. Ob sich hier irgendwo die Tatwaffe befand? Mark hatte da so seine Zweifel. Unweigerlich dachte er an die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen.

„Ich befürchte, hier werden die Spusis noch ein Weilchen zu tun haben“, sagte Dominik und stemmte die Hände in die Hüften. „Da will man nicht tauschen.“

Mark ignorierte die Bemerkung und folgte Nicole zu den Erdhaufen. Die Rückseite des linken Hügels war eingedrückt, der Boden davor übersäht von dunkelbrauner, halb feuchter Erde. Schwer zu sagen, ob sich dazwischen auch Blutspritzer befanden. Auf den ersten Blick wirkte alles gleich. An drei Stellen standen weiße Kärtchen mit Nummern darauf. Weitere steckten im Erdhaufen. Eine dralle Rothaarige schoss gerade Fotos davon.

„Wir sind zwar mit der Auswertung noch lange nicht fertig, aber wenn mich jetzt einer um eine Einschätzung bitten würde, würde ich sagen, genau hier ist sie erschlagen worden.“

Mark suchte die Stelle noch einmal nach verdächtigen Indizien ab und versuchte sich auszumalen, wie die Tote hier auf ihren Mörder getroffen war. Hatte sie ihn gekannt? Waren die beiden in Streit geraten oder war die Frau vorsätzlich ermordet worden? Noch war es viel zu früh, um sich ein Bild vom Tathergang zu machen.

„Ja, sieht ganz danach aus. Da frage ich mich natürlich, warum der Täter die Leiche nicht liegen lassen hat.“ Er schaute sich um, so als könnte die Antwort irgendwo in der Nähe liegen. „Hatte er Angst, dass sie so noch früher gefunden werden würde?“

„Es könnte auch ein erster Hinweis darauf sein, dass der Täter den Mord geplant hatte und sich den Auffindeort vorab ausgewählt hatte“, gab Dominik zu bedenken.

Mark nickte und drehte sich wieder zu Nicole. „Hast du mitbekommen, wer zuerst am Tatort war?“

„Ein Typ in unserem Alter. Heißt Leon Beyer. Er stand vorhin bei der Streife, oben am Parkplatz. Soll ich dich hinführen?“

Er winkte ab. „Das finde ich schon.“ Aus den Augenwinkeln heraus linste er nach Dominik. Bei ihm war er sich da nicht so sicher. Im Moment schien er abgelenkt zu sein. Sollte er ihn einfach stehen lassen? Eine Sekunde lang fand er die Idee sehr reizvoll. „Bist du so weit?“, fragte er dann.

„Natürlich.“ Langsam wie zähflüssiger Honig wanderte Dominiks Blick vom Erdhügel zu Mark und weiter zu Nicole. „Danke für die kleine Führung. See you later.“

Mit einem Schmunzeln folgte er ihm in Richtung der Autos. „Die ist nicht unflott.“

Unflott? Oh Mann. Mark verdrehte die Augen und sah zu, dass sie rasch den Parkplatz erreichten.

Neben dem grün-weißen VW-Transporter waren die beiden Streifenpolizisten nicht zu sehen. Er war ein hochgewachsener Typ um die vierzig mit zurückgegelten Haaren, der mit einem Fuß im Innenbereich des Wagens stand. Sie war deutlich kleiner, aber ungefähr im gleichen Alter und mit blonder Kurzhaarfrisur, und lehnte mit nachdenklicher Miene an der offenen Schiebetür. Mark kannte sie beide, konnte sich aber an keine Namen erinnern. Als sie ihn bemerkten, stellten sie sich richtig hin.

„Servus, Leute“, begrüßte er sie. „Ihr wart als Erstes hier?“

Die Frau nickte. „Über Funk hieß es, jemand hat eine vermutlich tote Frau im Gebüsch gefunden. Wir waren gut eine Viertelstunde später da, und er hat uns zum Auffindeort geführt. Wir haben nach Vitalzeichen gesucht, aber es gab keine mehr.“

„Wie heißt der Bursche, der die Frau gefunden hat?“

Sie zeigte auf einen aschfahlen Mann in den Dreißigern im eleganten dreiteiligen Anzug, der neben einer Frau mit hochgesteckten schwarzen Haaren stand und geistesabwesend an einem Kaffeebecher nippte.

„Leon Beyer. Gehört zur Hochzeitsgesellschaft. Ist der Trauzeuge des Bräutigams.“ Während sie sprach, fischte Dominik ein eselohriges Notizbuch aus der Jackentasche. Für die Uniformierten das Zeichen, ebenfalls auf ihre Aufzeichnungen zurückzugreifen. „Er wollte sich laut eigener Angabe bloß draußen kurz die Beine vertreten. Das war so gegen 15 Uhr.“

Mark schaute auf seine Uhr. Inzwischen war es kurz nach fünf. Vor drei Stunden war die Welt für den Finder und auch für die Frau noch in Ordnung gewesen. Erschreckend, wie rasch und vor allem wie massiv sich alles verändern konnte. Gerade eben lebte man noch sein normales Leben – dann passierte so etwas.

„Hat er jemanden in der Nähe des Auffindeorts gesehen?“, fragte Dominik.

„Soweit wir wissen, nicht. Als wir ihn danach fragten, war er noch ziemlich durch den Wind. Am besten redet ihr noch mal mit ihm.“

„Hatten wir ohnehin vor. Kennt er die Tote?“

„Mehr oder weniger“, antwortete die Frau. „Sie war offenbar eine recht guten Freundin der Braut und ist mit ihrem Lebensgefährten Holger Janssen zur Feier gekommen. Er dürfte im Gasthaus zu finden sein. Insgesamt sind ungefähr sechzig Leute auf der Hochzeit. Wird ein Weilchen dauern, die alle zu befragen.“

Da wollte Mark nicht widersprechen. „Wer hat überhaupt geheiratet? Die Frage ging im ganzen Trubel bisher völlig unter.“

„Das Hochzeitspaar heißt Stephanie und Alexander Hohenberg“, las der männliche Streifenpolizist ab. „Wir haben vorhin kurz mit beiden gesprochen. Sie haben von der ganzen Sache überhaupt nichts mitbekommen. Als sie davon erfuhren, wollten sie es gar nicht wahrhaben. Sie kommen sich noch immer vor wie im falschen Film.“

„Redet bitte trotzdem noch mal mit ihnen. Ebenso mit den anderen Gästen. Habt ihr schon Verstärkung angefordert? Vielleicht gibt es ja abgesehen von der Braut weitere Leute, die die Tote kannten, und/oder etwas gesehen haben. Ihr wisst ja, wir sind für jeden Hinweis dankbar. Außerdem sollten wir für alle Fälle sämtliche Personalien festhalten. Nicht bloß die der Gäste, sondern auch vom gesamten Personal.“

„Es sind noch drei Streifenwagen gekommen“, sagte der Mann. „Eventuell kriegen wir später noch einen vierten. Die Jungs haben aber noch in Kalchreuth zu tun.“

„Erkundigt euch am besten nach jedem, der heute Zugang zum Grundstück hatte“, schob Dominik im Oberlehrerton hinterher. „Und wenn es bloß der Konditor-Azubi ist, der die Hochzeitstorte vorbeigebracht hat. Jeder könnte was mitgekriegt haben.“

„Natürlich“, bestätigte der Polizist. Die mangelnde Begeisterung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich informiere die Kollegen. Dann legen wir gleich los.“ Widerwillig setzten sich er und seine Partnerin in Bewegung.

„Super. Danke“, rief Mark hinterher, um die Situation zu entschärfen. Auch er hatte Dominiks schroffe Art nicht besonders prickelnd empfunden. Auf diesem Wege würde er sich bestimmt keine Freunde machen. Nicht, dass Mark das störte. Von ihm aus könnte der Neue gleich wieder seine Sachen packen und die Kollegin aus Erlangen nachrücken lassen.

Sofern Dominik wider Erwarten mit Abreiseplänen spielte, ließ er sich davon nichts anmerken. So als besäße er bereits den kompletten Durchblick, stapfte er auf Leon Beyer zu. Mark beeilte sich damit, Schritt zu halten. Auf keinen Fall wollte er Dominik mit ihm allein reden lassen.

„Wir sind die Kommissare Waldmayer und Richter von der Kripo Nürnberg“, stellte Dominik sie in überraschend sanftem Tonfall vor. „Sie sind Leon Beyer?“

Der Befragte nickte zögerlich. Die Frau neben ihm griff nach dessen Hand, so als könnte sie ihm dadurch Kraft für alles gleich Folgende schenken. Beide waren nach wie vor sehr blass, was bei ihr durch die schwarzen Haare noch deutlicher hervorstach.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Na ja, geht so. Den Umständen entsprechend.“

„Erzählen Sie uns bitte noch mal alles. Von Anfang an.“

Er tat wie geheißen. Seine Freundin, die sich als Katrin Schwind vorstellte, hielt die ganze Zeit über seine Hand. Als Leon auf die Tote zu sprechen kamen, seufzte sie einige Male tief. Er hingegen wirkte relativ gefasst.

Pro forma notierte sich Mark das Gesagte in Kurzform, merkte jedoch schnell, dass ihnen das meiste davon nicht weiterhelfen würde. Für alle Fälle erkundigte er sich noch einmal nach dem Zeitrahmen, bekam aber auch da bloß die Angaben der Streifenpolizisten bestätigt: kurz vor 15 Uhr.

„Erinnern Sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches kurz vor oder nachdem Sie die Tote gefunden haben?“, hakte er weiter nach.

Leon Beyer schüttelte zuerst zögerlich den Kopf, sagte dann allerdings: „Wobei … da waren zwei etwas komische Sachen …“ Er ließ den Blick in die Ferne schweifen. Mark sog aufgeregt den Atem ein. Würden sie gleich eine erste Spur bekommen?

„Zuerst war da Marina, die Trauzeugin von Steffy“, fuhr Leon nach einigen Sekunden fort. „Als ich nach draußen wollte, kam sie mir auf dem Flur entgegen. Keine Ahnung, woher sie kam oder ob sie überhaupt draußen war. Auf jeden Fall sah sie recht grimmig aus. Irgendwas schien sie mächtig verärgert zu haben.“

Mark fühlte ein wohliges Kribbeln im Bauch. Er warf einen kurzen Blick zu Dominik, der mit dem Schreiben kaum hinterherkam. Vermutlich spürte er es ebenfalls.

„Marina – wie heißt sie weiter?“

„Marina Friedlein.“

„Wissen Sie, wo wir sie finden können?“

Leon schaute sich kurz auf dem Parkplatz um und zuckte mit den Schultern. „Ist vermutlich drinnen, bei Steffy und Alex. Dem Brautpaar.“

„Wie sieht sie aus?“ Dominik schaute hinter seinem Notizbuch auf, hielt den Kuli aber bereit, um gleich weiterschreiben zu können. Sein Gegenüber zögerte und schaute ratsuchend zu seiner Freundin.

„Sie ist etwas kräftiger gebaut“, half diese aus. „Mit violett-braunen Haaren, breitem Kreuz und äh … noch breiterem Hintern.“

Nur schwer verkniff sich Mark ein Grinsen. „Eine wirklich … äh … bildhafte Beschreibung. Das dürfte die Liste ziemlich einschränken.“ Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Auch ihre Mundwinkel zuckten leicht. Die Frauen waren offenbar nicht unbedingt das, was man beste Freunde nannte.

„Wissen Sie, ob sich die Trauzeugin und die Tote kannten?“, fuhr Dominik ungerührt fort. Er schien von alledem überhaupt nichts mitbekommen zu haben.

Jetzt war es wieder Leon, der antwortete: „Mit Sicherheit. Marina ist eine gute Freundin von Steffy. Und Sybille ist … war … es auch. Ich weiß aber nicht, wie viel sie miteinander zu tun hatten. Das ist nicht ganz meine Baustelle.“

„Was war denn das zweite Ungewöhnliche, das Ihnen aufgefallen ist?“, fragte Mark.

„Na ja, da war noch die Sache mit dem Hund.“

„Die Sache mit dem Hund?“

„Auf dem Parkplatz habe ich Sybilles Hund gesehen. So eine Art dunkler Golden Retriever. Keine Ahnung, welche Rasse genau.“

„Was war denn daran ungewöhnlich?“, hakte Dominik, ohne aufzuschauen, nach. „Dass der Hund alleine draußen war? Oder dass es der von Sybille war?“

„Eigentlich meinte ich damit die Kamera.“ Kurze Pause, so als müsste Leon Beyer in seiner Erinnerung kramen, um wirklich sicherzugehen. „Wenn mich nicht alles täuscht, hatte jemand dem Hund eine Kamera ans Halsband geheftet.“

„Bitte was?“ Mark hatte zwar die Worte gehört, brauchte aber einige Sekunden, um sie richtig zu begreifen.

„Nageln Sie mich nicht darauf fest. Mir kam es so vor, als hätte er so was umhängen. Vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Es waren bloß ein oder zwei Sekunden. Danach war das mit Sybille. Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich da gesehen habe.“

„Was war es für eine Kamera?“, fragte Dominik hinter seinem Block.

„Ein Camcorder, glaube ich.“

Ein weiteres Mal spürte Mark das wohlige Kribbeln in seinem Magen, nur diesmal deutlich stärker als zuvor. Der Hund des Opfers. Mit vielleicht laufendem Camcorder. In der Nähe des Tatorts. Uff ... konnten sie tatsächlich so viel Glück haben?

Vorsichtig schaute er sich um. Kein Vierbeiner in Sicht. „Ich nehme an, der Hund ist ebenfalls drinnen?“

Erneutes Schulterzucken von Leon. „Wahrscheinlich.“

„Ist Ihnen noch was aufgefallen?“

„Es gab keine weiteren Tiere, falls Sie darauf hinauswollten.“

„Nicht direkt. Wissen Sie, ob sich noch jemand draußen aufgehalten hat?“

„Auf dem Parkplatz habe ich niemanden gesehen. Darauf habe ich aber ehrlich gesagt auch nicht geachtet. Ich wollte ja bloß frische Luft schnappen.“

„Und nachdem Sie die Tote fanden?“

„Auch da habe ich draußen niemanden gesehen. Drinnen auf dem Flur standen ein paar Leute, aber wer das genau war? Keine Ahnung! Ich war völlig perplex, bin bis in den Festsaal gelaufen und hab mich dann erst gefragt, was ich da will.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung seiner Freundin. „Katrin kam auf mich zu und hat mich gefragt, was los ist.“

„Er war kalkweiß“, erklärte sie.

Ist er noch, lag es Mark auf der Zunge.

„Ich hab ihr gesagt, was los ist, und die Polizei angerufen. Den Rest kennen Sie.“

Das stimmte mehr oder weniger. Mark bedankte sich für die Informationen und reichte dem Mann eine Karte mit seinen Kontaktdaten. „Für den Moment wäre das alles. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Außerdem möchten wir Sie bitten, morgen ins Präsidium zu kommen. Die Kollegen vom KDD brauchen Ihre schriftliche Aussage für den Tatortbericht. Außerdem müssen Sie die Zeugenvernehmung unterschreiben.“

Leon nickte zustimmend.

Auf den Hund gekommen

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