Читать книгу Targeted Therapies - Zielgerichtet in den Tod - Stefan Ammon - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеSteffen schloss die Augen und wunderte sich darüber, dass er auch weiterhin Bilder sah. Er betrachtete seine Frau Pauline, die bald fünfundvierzig Jahre alt würde und wunderschön war. Nach fast zwanzig Jahren Ehe war am Schluss nicht mehr viel gemeinsames Eheleben übrig geblieben. Die Schuld daran gaben beide ihrer beruflichen Karriere, hatten sich das gegenseitig oft vorgeworfen und trotzdem immer wieder das Engagement des Partners bewundert und geachtet. Steffen fühlte sich schlecht. Er bereute es, nicht mehr Zeit für Pauline gehabt zu haben. Mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Er sah ein fast jugendliches Bild seiner Frau, verliebte sich erneut und empfand ein drückendes Gefühl der Reue und der Wehmut, das sich zu einem stechenden Schmerz unter dem rechten Rippenbogen manifestierte. Er krümmte sich und wie ein Vorhang überzog Schwärze das Bild von Pauline. "Scheiße, so fühlt es sich also an zu sterben", dachte er. Schweißperlen, die er nicht spürte, sammelten sich auf seiner Stirn und rannen sein Gesicht hinab. Steffen konzentrierte sich auf das Bild hinter dem Vorhang und schaffte es nur mühsam, das Schwarze zur Seite zu schieben. Seine Gedanken überschlugen sich wie Steine bei einem Erdrutsch, und es war, als ob sein Gehirn die Gedankenblitze als Schlüssel nutzte, um gespeicherte Informationen abzurufen und ihm in Sekundenbruchteilen als komplette Geschichten zu servieren. Er las ein komplettes Buch in Sekunden. Das Buch seines Lebens. Mit Kommentaren, Anmerkungen und Kritiken vom ihm selbst. Steffen wand sich verzweifelt, ohne sich zu bewegen, hilflos in seinen Gedanken den Abhang herunterstürzend, bis er wie durch eine Seitentür entkam und das nächste Kapitel aufschlug. Er spürte die Vollkommenheit und Glückseligkeit, die Pauline und er in der Gewissheit empfunden hatten, dass sich nichts perfekter vereinen konnte als ihre beiden Körper und Seelen, er schmeckte die Süße des Schweißes, der sich am Rand ihrer Lippen gebildet hatte und genoss den Kontrast zwischen den weichen Berührungen ihrer Brüste auf seinem Brustkorb und dem leichten Kratzen, dass ihre harten Brustwarzen verursachten, wenn sich ihre Umarmungen nur leicht trafen. Steffen schwankte zwischen Glück und Wut über sich selbst. "Zu spät", versuchte er zu sagen und bemerkte, dass sein Mund mit Blut gefüllt war. Seine unausgesprochenen Worte hörte er selbst nur als gurgelnde Laute, er spuckte Blut aus und versuchte die Worte zu wiederholen. Es gelang nicht, da sich das Blut immer wieder in seinem Mund sammelte und ihn überkam zeitgleich die Erkenntnis darüber, wie unsinnig es war, die Worte "zu spät" unbedingt wiederholen zu wollen und grenzenlose Panik.
Hilflosigkeit hatte schon immer Panik bei ihm ausgelöst. Er sah sich in der Kernspintomographie, festgeschnallt mit fixiertem Kopf, langsam in das Gerät einfahren. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er die Erfahrung machen musste, anderen Menschen ausgeliefert zu sein, fremden Menschen vertrauen zu müssen. Eine korpulente Arzthelferin hatte Steffen freundlich über die Untersuchung aufgeklärt, ihn gebeten, ganz still zu liegen und dann mit weißen Riemen fast liebevoll auf der Liege fixiert. Anschließend betätigte Sie die Steuerung des Geräteschlittens, und Steffen fuhr mit dem Kopf voran in die weiße, metallene Röhre. Sein Leben hing von der dicken Arzthelferin ab. Sie konnte das Licht ausmachen, nach Hause gehen und ihn allein lassen. Allein mit den Ratten des Krankenhauses, die die Gelegenheit nutzen würden, mit seinen Genitalien zu spielen und seine Ohren abzubeißen. Oder ihre Bekannten der Organmafia würden kurz nach ihrem Verschwinden auftauchen und alle verwertbaren Organe ohne Betäubung aus ihm herausschneiden. Steffen hatte sich bei der Untersuchung für seine eigene Schwäche verflucht und gegen die Panik gekämpft. Er hatte versucht, sich auf einen fiktiven Punkt in der Röhre zu konzentrieren. Er hatte versucht, mit geschlossenen Augen gegen seine Angst zu kämpfen. Vergeblich. Nach nur wenigen Sekunden hatte er die Panik-Klingel gedrückt und war schnell von der Arzthelferin gerettet worden.
Dieses Mal gab es keine Panik-Klingel. Noch nicht einmal eine dicke Arzthelferin. Steffen spürte das Blut in seiner Luftröhre und den Schmerz in seiner Lunge, als er hustete. Dann spürte er nichts mehr.