Читать книгу Targeted Therapies - Zielgerichtet in den Tod - Stefan Ammon - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеDie flackernden Lichter der zahlreichen Laternen und Leuchtreklamen spiegelten sich im nassen Kopfsteinpflaster wider, und es schien, als ob die enge Straße zwischen den Gebäuden Teil eines Gesamtkunstwerks war, das Dunkelheit und Regen nutzte und sich stolz zu präsentieren versuchte. Trotz aller Bemühungen bemerkten die Besucher der Straße weder die Schönheit der Lichtreflektionen, noch die Einzigartigkeit mit der das Kunstwerk die besondere Atmosphäre dieser nächtlichen Szenerie schuf. Sie huschten mit gesenktem Kopf von Fenster zu Fenster oder wandelten ziellos und doch an allem interessiert wie ein streunender Hund die Straße entlang, nicht um die beste Ecke zum Markieren des Reviers zu suchen, aber doch auf der Suche. Auch eine Horde angetrunkener, noch jüngerer Ausländern nahm die eigentliche Schönheit nicht wahr und beschränkte sich, Bierflaschen in die Luft reckend und laut grölend darauf, die Schönste der Schönheiten hinter Schaufenstern zu suchen.
Steffen sah die Herbertstraße in Hamburg zum ersten Mal. Nach einem anstrengenden Tag auf dem Gesundheitskongress Deutschland hatten ihm Hamburger Kollegen wirklich sehr außerordentliche Insider-Kneipen gezeigt. Er hatte nicht erwartet, gerade im nordischen Hamburg so viel Stimmung und gute Laune zu erleben, da er Hamburger bislang eher als reserviert kennengelernt hatte. Dies schien sich mit Einbruch der Dunkelheit zu ändern. Die Besucher übervoller uriger Kneipen hatten lautstark und mit viel Hingabe zusammen gesungen und gefeiert, wie er es bis dahin selten erlebt hatte. Dass Hamburger stur sind und eher kühl, wenig Emotion zeigen und sich reserviert verhalten, schien ihm nach diesem Abend ein unbegründetes Vorurteil gewesen zu sein. "Vielleicht hat es auch am Alkohol gelegen", dachte er und lächelte bei dem Gedanken daran, dass sie in dem Irish Pub einen übergroßen Hut durch das Trinken von angeblich 20 Guinness in einer Stunde gewonnen hatte. Tatsächlich waren es deutlich weniger, doch die etwas mollige, aber durchaus attraktive Bedienung hatte wohl Gefallen an dem heiteren Journalistentisch gefunden und sichtlich viel Freude daran, die Runde mit diesem Gewinn zu überraschen. Steffen war nicht wirklich betrunken, aber hatte sich gegen ein Taxi entschieden und einen Spaziergang durch die erfrischende Kühle des sanften Nieselregens zu seinem Hotel vorgezogen. Der Weg war zwar weit, aber Luft und Regen taten gut nach den verräucherten Räumen der letzten Stunden. Steffen fühlte sich bestens und genoss auch den letzten Teil der Nacht. Der Abstecher in die Herbertstraße kam ungeplant und geschah aus Neugier, als er das Straßenschild und den Hinweis sah, dass der Zutritt für Frauen in dieser Straße verboten sei.
Zahlreiche mehr oder weniger attraktive, leicht oder gar nicht bekleidete Damen präsentierten sich größtenteils offenkundig gelangweilt hinter Fenstern. Beguckt von relativ wenigen Freiern, die sich bei der Ansprache der Damen meistens auf die Worte "wie viel" beschränkten, manchmal gefolgt von "und was machst du dafür?". Wurde man sich einig, öffneten die Damen eine Tür und baten den erwartungsvoll grinsenden Herrn herein. Gekaufte Liebe, Glück für eine Stunde. Was kostet eine Stunde Glück? Whatever - best things in life are for free. Wahre Liebe, Freundschaft und tatsächliches Glück. Hier würde er all das nicht finden. Steffen schlenderte weiter und ärgerte sich, dass seine Kamera im Hotel lag. Gern hätte er die nächtliche Szene festgehalten. Ohne Kamera loszugehen, war immer schlecht. Ob man hier wohl fotografieren durfte?
Seine Gedanken wurden durch den Aufschrei einer Frau abgelenkt. "Don't touch me - ok?" schrie sie und ergänzte ein die einzelnen Worte betonendes "Fuck you". Steffen sah sich um. Eine hübsche Asiatin war von sichtlich amüsierten, jugendlichen Gockeln umringt und versuchte verzweifelt, der Gruppe zu entkommen. "Scheiße", dachte Steffen, "geh einfach weiter", aber er befand sich schon auf dem Weg zu der Ansammlung. Dort angekommen, wurde er mit drohenden Gesten und einem "Was willst Du" begrüßt. Steffen ging durch den Kreis der Männer, nahm den Arm der jetzt verwundert und ängstlich schauenden Asiatin und sagte "Hey Mary, here you are. Come on, hurry up. We need to go". Er zog sie aus dem sich jetzt öffnenden Kreis der überraschten Männer, legte seinen Arm um sie und ging mit ihr in Richtung Straßenende. Erst als sie zirka zwanzig Meter entfernt waren, hörten sie lautstarke Drohungen der Trunkenbolde hinter sich. "Don't look back", sagte Steffen und ging ruhig aber zügig weiter. Er fühlte sich keineswegs wohl in seiner Haut und horchte auf jedes Geräusch hinter sich, aber sie hatten Glück. Augenscheinlich fand man sich mit dem Verlust ab und wendete sich jetzt wieder den Damen hinter den Glasscheiben zu.
Hinter den Absperrungen der Herbertstraße atmeten beide tief auf, sahen sich an und lösten die Umarmung. "Thank you so much", sagte die hübsche Asiatin. Sie war zirka 1,60 m groß, hatte auffällig schöne Augen, lange schwarze Haare, einen vollen geschwungenen Mund und eine flache, aber niedliche Nase. Ihr langer beigefarbener Mantel aus festem Stoff und die fellbesetzten Winterschuhe schienen für diese Jahreszeit etwas zu warm, trotzdem zitterte die junge Frau, während sie in flüssigem Englisch erzählte, dass sie auf dem Weg zu ihrem Hotel gewesen sei und die Verbotsschilder für Frauen vor der Absperrung der Herbertstraße für einen Scherz gehalten hatte. Dass das ein Irrtum war, hatte sie schnell erkannt, als eine der Prostituierten wassergefüllte Plastiktüten nach ihr geworfen und die aufdringliche Männerrunde sie umringt hatte.
"Sie sieht nicht wirklich asiatisch aus", dachte Steffen, "und auch nicht wie eine der Damen des horizontalen Gewerbes". Ihre Gesichtszüge wirkten edel, und das Lächeln, das sie jetzt zeigte, war offen und herzlich. "Schon gut. Ich bin Steffen", sagte er. Sie stellte sich als Riza vor und bedankte sich immer wieder für ihre Befreiung. "Kein Problem", sagte Steffen und lächelte insgeheim bei dem Gedanken an seinen kalten Schweiß auf der Stirn und seine nur mühsam verborgene Furcht, die er gehabt hatte. "Wo ist dein Hotel?" fragte er. "Oh, es ist nicht weit. Das Hotel Venusberg - gleich da vorne". "Tatsächlich? Gut, da muss ich auch hin" antwortete Steffen, freute sich über die angenehme Gesellschaft und ärgerte sich darüber, dass der Weg zum Hotel nur kurz war. Sie wechselten kaum ein Wort in den folgenden Minuten. Am Hotel angekommen, träumte Steffen kurz, seine Begleiterin würde sich zu einem längeren Gespräch auf seinem Zimmer entscheiden, doch er wagte nicht, sie zu fragen. "Oh - dort wartet man schon auf mich", sagte sie und deutete durch die Glastür zum kleinen Frühstücksraum des Hotels auf einen Mann der einen langen schwarzen Lodenmantel und großem schwarzen Indiana Jones Hut trug". Steffen erkannte den Mann sofort, obwohl er ihm den Rücken zukehrte. "Sieh mal einer an", dachte er, wandte sich dann wieder der schönen Riza zu, die ihm nochmals überschwänglich dankte und ein "God bless you" zum Abschied wünschte. Sie verschwand durch die Glastür, und Steffen wendete sich ab, um von dem Mann nicht erkannt zu werden.
Professor Berger war einer der renommiertesten Spezialisten für Krebserkrankungen in Deutschland. Er war als Individualist und Querdenker bekannt und auch in seinem äußeren Bild hob er sich von der Masse ab. Gut aussehend mit imposantem Schnauzbart und immer bestens gekleidet, imponierte er allein durch seine Erscheinung, wenn er am Rednerpult stand. Als Steffen ihn das erste Mal traf, war er überrascht, als Berger das Rednerpult verließ. Er war sehr klein. Zu klein, um wirklich männlich zu wirken. Aber trotz seiner nicht zum restlichen Äußeren passenden Körpergröße, war seine Wirkung im Raum überragend. Berger war ein Machtmensch, aber ein sympathischer. Er war hoch intelligent und hatte zweifellos Großes in seinem Fach geleistet, aber er war auch jemand, der das Leben, das Essen, einen guten Wein oder Champagner und nicht zuletzt Geld nicht verachtete. Und hübsche Frauen.
Steffen spähte noch einmal durch die Glastür. Berger und die Asiatin hatten jetzt ein Glas Champagner in der Hand und sprachen nur wenig miteinander. "Also doch ein Callgirl", dachte Steffen und hätte jetzt, den Geruch ihres lieblichen Parfums noch in der Nase, gern mit Berger getauscht. Er wendete sich ab und ging in Richtung Fahrstuhl. Das Glück war mit ihm. Der Fahrstuhl war im Erdgeschoss und öffnete sich umgehend. Er drückte den Knopf für die dritte Etage und kurz bevor sich die Fahrstuhltüren komplett schlossen, sah er durch den Spalt, wie drei ihm vertraute Männer die Glastür zum Frühstücksraum öffneten und sich Berger und der jungen Frau anschlossen.
Steffen warf einen Blick auf sein Handy. Ein Uhr zwanzig morgens, Professor Berger, Mainpharma-Vorstandsvorsitzender Vosse, eine attraktive Asiatin und der Geschäftsführer der Agentur, die Gesundheitskongresse in Deutschland organisierte, trafen sich in dem leeren und wenig gemütlichen Frühstücksraum eines Hotels im verregneten Hamburg. "Scheiße, Steffen. Du kannst jetzt nicht schlafen gehen". Er verließ den Fahrstuhl nicht, betätigte den Erdgeschoss - Knopf und spürte, wie der Fahrstuhl mit einem leichten Surren wieder nach unten fuhr.