Читать книгу Targeted Therapies - Zielgerichtet in den Tod - Stefan Ammon - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеEs musste ein genetischer Unterschied zwischen Menschen asiatischer Herkunft und Europäern sein. Aber er konnte es sich trotzdem nicht erklären. Maximilian Woltner-Lentek hatte sich schon in der Schulzeit für Medizin interessiert. Sein überdurchschnittlicher Intellekt hatte ihm gute Noten beschert und Türen geöffnet. Ein Stipendium an der Universität, Abschluss des Studiums als Landesbester seines Jahrgangs, drei Jahre Forschungsarbeit im Team seines Doktorvaters, dann fünf Jahre in der renommierten Mayo-Klinik in den USA und anschließend zwei Jahre als Oberarzt in der Abteilung Hämatologie / Onkologie in Jena hatten ihn zu einem der erfahrensten Ärzte auf dem Gebiet der Krebserkrankungen werden lassen. Jetzt, als Chefarzt der Medizinischen Klinik für Innere Medizin in Köln, hatte er sein persönliches Karriereziel erreicht. Der Preis dafür war hoch. Für einen Professor mit seinen Funktionen gab es keine geregelten Arbeitszeiten. Er war Manager und Chef von mehreren Hundert Angestellten, Arzt und Forscher in einer Person. Er trug Verantwortung für die Versorgungsqualität in seiner Abteilung und man verlangte von ihm, als Lehrstuhlinhaber seine Studenten gut auszubilden. Seine Freizeit beschränkte sich auf theoretisch dreißig Tage Urlaub im Jahr und Feiertage. Realistisch waren es nur wenige Feiertage, die heilig genug waren, um die Zeit nicht für ein wichtiges Meeting zu nutzen und von den dreißig Tagen Urlaub verfielen jedes Jahr zehn bis zwanzig Tage, weil Woltner-Lentek sie nicht nehmen konnte oder wollte. Mit achtundvierzig Jahren war er körperlich fit und gesund. Oft wunderte er sich selbst darüber, wie gut sein Körper den Stress und die zeitlichen Strapazen verkraftete. Er fühlte sich wohl. Ganz anders als die Patientin, bei der er zur Visite war.
Eva war ihm während ihres Aufenthaltes in der Klinik ans Herz gewachsen. So etwas kam immer wieder mal vor. Patienten sterben zu sehen, damit war Woltner-Lentek oft konfrontiert. Alle Menschen müssen irgendwann sterben, und Krebs ist eine Erkrankung, die meistens im Alter auftritt. Allerdings hatte Woltner-Lentek schon von seinem Doktorvater gelernt, dass Menschen sehr unterschiedlich sterben. Die meisten alten Menschen fanden sich irgendwann damit ab, dass das Ende gekommen war und besannen sich auf ihr gelebtes Leben, das ihnen dann positiver erschien, als es vermutlich gewesen war. Fast ebenso leicht starben Kinder. Erstaunlicherweise fassten sie es oft als ebenso natürlich auf zu sterben wie alte Menschen. Am schwersten hatten es die jüngeren Erwachsenen. Die, die gerade dabei waren ihre Karrieren aufzubauen, Familien zu gründen und Häuser zu bauen. Menschen wie Eva, die jetzt sechsundzwanzig Jahre alt war und als Zugbegleiterin gearbeitet hatte. Sie hatte ihren Job gemocht und es geliebt, immer wieder auf unterschiedliche Menschen zu treffen, von positiven Gesprächen überrascht zu werden, aber auch unangenehmen Reisenden begegnen zu müssen und Probleme zu lösen. War Eva durch den Zug gegangen, dann hatte sie immer voller Erwartung auf die nächste Überraschung gewartet, die ihr das nächste Abteil bringen würde. Auf die Überraschung, die ihr das Leben dann offenbart hatte, war sie nicht vorbereitet gewesen und hätte sie gerne verzichtet. Nach monatelangem Husten hatte ihr behandelnder Hausarzt festgestellt, dass sie an Lungenkrebs erkrankt war. Ungläubig hatten sie und ihr Lebensgefährte einige Zeit gebraucht, um zu realisieren, dass die Diagnose kein Irrtum, kein Scherz und kein böser Traum war.
Woltner-Lenteks Blick verweilte auf dem auf der Bettkante sitzenden Mann, dessen Hände leicht zitterten, und er fragte sich, ob das Paar wohl schon über Dinge wie Hochzeit oder Kinderkriegen nachgedacht hatte. "Bin ich im Weg?", fragte Evas Lebensgefährte und wollte aufstehen. "Nein, das geht schon", antwortete Woltner-Lentek und drückte ihn behutsam wieder auf das Bett zurück. "Wenn hier jemand stört, dann bin ich das", ergänzte er. "Es dauert nicht lange. Wie geht es Ihnen heute, Eva? Haben Sie noch Probleme mit Ihrer Haut?" "Hey - Sie haben etwas gegen meine Haut, Doc? Ich investiere seit Jahren Unsummen in revitalisierende Nachtcremes, Gurkenmasken und Vitaminpillen, und Sie finden meine Haut nicht schön?" Eva lachte. "Nein, ernsthaft, es ist viel besser geworden. Schauen Sie mal hier."
Eva zeigte dem Arzt ihre Handflächen, die an einigen Stellen gerötet waren. "Ich spüre fast nichts mehr davon". Woltner-Lentek untersuchte Hände und Füße von Eva, die rote, verbrennungsähnliche Hautirritationen aufwiesen. "Tatsächlich, viel besser. Das kommt durch die Dosisreduktion. Manche Patienten vertragen diesen Wirkstoff nicht so gut, aber die Hautreaktionen sind auch ein Indiz für die Wirksamkeit der Therapie. Ich schlage vor, wir lassen die Dosierung für ein paar Tage niedrig und erhöhen dann stufenweise wieder ein bisschen. Meistens treten die Probleme am Anfang der Therapie auf und verschwinden dann." "Und der Rest? Verschwindet der dann auch?" fragte Eva und sah Woltner-Lentek mit einem Blick an, der ihm klar machte, dass sie die Antwort kannte. "Sie haben Lungenkrebs, Eva, aber sie sprechen auf die Therapie an. Das ist erst einmal gut. Mit dem Verschwinden dauert das schon ein bisschen. Sie müssen Geduld haben."
"Versprechen Sie mir, dass Eva wieder gesund wird".
Der Lebensgefährte von Eva war aufgestanden und sah Woltner-Lentek flehend und voller Verzweiflung an. Jetzt sah Woltner-Lentek, dass er geweint hatte. "Das kann er nicht, Martin", sagte Eva, "aber wir hören nicht auf zu hoffen und klammern uns an jeden Strohhalm, den wir erreichen".
Der Professor bestätigte kaum hörbar: "Ich kann es nicht versprechen".