Читать книгу Targeted Therapies - Zielgerichtet in den Tod - Stefan Ammon - Страница 8
Kapitel 6
ОглавлениеDas Telefon schreckte ihn aus dem Schlaf. "Ja - Raupner", murmelte er in den Hörer. Die Stimme am anderen Ende war freundlich: "Herr Raupner, möchten Sie Ihren Aufenthalt in unserem Hotel verlängern?" fragte sie. Steffen war plötzlich hellwach. "Wie spät ist es?" fragte er und erfuhr, dass es bereits halb eins war. "Check-out war um zwölf", sagte die Stimme jetzt etwas zickiger. "Ich bin gleich unten", sagte Steffen, legte den Hörer auf und sprang aus dem Bett. Zehn Minuten brauchte er für eine unvollständige Körperpflege und das hastige Zuammenräumen seiner Sachen, dann stand er vor der Rezeption und checkte aus.
"Meine Kollegin, Frau Valenzuela, ist die noch da?"
Die Dame an der Rezeption sah ihn aus fragenden Augen an. "Nein. Taxi zum Flughafen. Aber schon lange her", sagte sie mit osteuropäischem Akzent und lächelte ihn an. Ihre Zähne waren gelb, und eine große Zahnlücke klaffte in ihrer oberen Zahnleiste. "Verdammte Scheiße" entfuhr es Steffen und er eilte zum Ausgang.
Nach zwei Paracetamol und ein paar Tassen Kaffee war der Kongresstag ganz gut auszuhalten. Im Pressebüro gab es Brötchen, Suppe und Getränke. "Du siehst klasse aus" schmunzelte Claus. Sein Freund war Mitarbeiter eines pharmazeutischen Großhandels und hatte den gestrigen Abend mit ihm verbracht.
"Danke - Du mich auch. Was willst Du hier? Das ist das Pressebüro - hast Du einen Presseausweis?"
"Ich hatte dich heute Morgen auf dem Symposium zur Zulassungserweiterung von Bromtazumab erwartet. Kann es sein, dass ich dich nicht gesehen habe? Das Frühstück da war bei weitem besser als die Käsebrötchen, die Du gerade in dich reinstopfst." Claus lächelte wissend und machte sich über die Auswahl von Keksen her, die neben den Resten des Mittagsbuffets stand.
"Ich kann den Artikel auch schreiben, ohne dass ich da war", sagte Steffen. "Wusstest Du, dass viele meiner Kollegen die Artikel aus dem Vorjahr nehmen, leicht verändern und nochmal veröffentlichen? Das merkt keine Sau. Bestenfalls ändern sie ein paar Zahlen, das Wetter oder binden aktuelle Nebenthemen ein. Ich selbst habe einen Artikel zum Falastomab dreimal veröffentlicht. Innerhalb von vier Jahren."
"Klar, ich weiß, dass Du nur über Dinge schreibst, von denen Du keine Ahnung hast. Aber was solls. Hey, gehen wir heute Abend wieder los? Am Stand von Salanta Pharma ist eine Standparty. Danach könnten wir einen Happen essen und dann gucken, wo was los ist. Deal?" Claus war unermüdlich. Er würde auch nach einer sechzig Stunden Woche noch auf die Piste wollen. Schließlich war er zehn Jahre jünger als Steffen und immer noch auf der Suche nach einer geeigneten Partnerin. Er war durchaus als attraktiv zu bezeichnen, hatte immer ein smartes Lächeln auf den Lippen und in dem Job, zu dem Steffen ihm verholfen hatte, verdiente er mehr als gut. Steffen hatte sich oft gefragt, warum Claus nie eine Freundin hatte. Schwul war er nicht, da war sich Steffen sicher. Wahrscheinlich stellte er einfach zu hohe Anforderungen an seine Traumfrau.
"Nein Claus, heute nicht. Ich habe einiges auf meiner To-do-Liste und ehrlich gesagt, könnte ein bisschen Schlaf in meinem Alter auch nicht schaden." Claus suchte in dem aufgehäuften Berg von Keksen akribisch alle Waffelkekse heraus und verschlang einen nach dem anderen. "Hm - naja, vielleicht überlegst Du es dir ja nochmal. Ich rufe dich an - ok?" Steffen nickte ihm nur zu und sah ihm hinterher als Claus mit raschen Schritten das Büro verließ. Ein Blick auf die Uhr machte ihm klar, dass er seinen gerade frisch eingeschenkten Kaffee nicht mehr trinken würde. Steffen hatte den am Vormittag verpassten Interview - Termin auf 16.30 Uhr verschieben können. Genau jetzt. Er sprang auf, kippte den Kaffee um, fluchte, schnappte sich seine Ausrüstung und verließ fluchtartig das Pressebüro.
Professor Woltner-Lentek wartete bereits, als Steffen in dem kleinen Interview - Raum ankam. Er wirkte müde und war in Gedanken versunken. Ohne Steffen wirklich anzusehen, murmelte er: "Ah - Herr Raupner. Geht es Ihnen gut? Sicher wollen Sie etwas über die aktuellen Ergebnisse der Impfstudien wissen. Setzten Sie sich doch."
"Mal ganz ehrlich, Herr Professor, das ist doch alles nur ein Fake. Ich habe mir die Studien angesehen, und es gibt für mich keinen nachvollziehbaren Nachweis für einen positiven Effekt einer Impfung. Es kann nur die Gruppe von Personen geimpft werden, die bei regelmäßiger Vorsorge ohnehin keine schwerwiegenden Folgen einer unwahrscheinlichen Infektion zu erwarten hätte. Die Nebenwirkungen sind völlig unbekannt und nicht ausreichend erforscht. Allerdings hatte ich kein Problem, nachzuweisen, dass die gesamte Impfkampagne den Steuerzahler etliche Millionen Euro jährlich kosten wird."
Steffen hatte Lust zu provozieren und seine respektlose Aggression, die in der Frage hing wie eine Spinne im Netz, half ihm seine Müdigkeit zu vergessen.
"Nein, ehrlich gesagt, habe ich keine Frage zur Impfung gegen Krebs. Ich möchte Sie bitten aus Ihrer Sicht zu erzählen, was derzeit wirklich berichtenswert und interessant ist.".
Der Professor richtete sich auf, blickte Steffen nun in die Augen und sagte: "Gut".
Steffen war froh, dass er sein Aufnahmegerät dabei hatte. Er hasste es, während eines Interviews zu schreiben und hatte in Technik investiert, die es ihm jetzt ermöglichte sich zurück zu lehnen und den Ausführungen des Professors zuzuhören.
Woltner-Lentek hatte viel zu erzählen. Fragen musste Steffen kaum stellen. Es war, als würde der Klinikchef sich alle Sorgen von der Seele reden. Die Zettel mit den vorbereiteten Fragen zur Impfung gegen Krebs hatte Steffen ohnehin irgendwo im Hotel liegen gelassen. Woltner-Lenteks Thema war Trufenib. Steffen hatte darüber gelesen und selbst zur Zulassung in Asien einen kurzen Artikel verfasst, der dann allerdings nur in seinem eigenen Internetportal veröffentlicht worden war. Ahnung hatte er wie so oft wenig, und so ließ er den Professor reden.
"Ich frage Sie. Wie kann es sein, dass Kollege Berger bei seinen Patienten eine signifikante Verlängerung des Gesamtüberlebens nachweisen kann und ich nicht? Wieso haben meine Patienten mit erheblichen Nebenwirkungen zu tun, und Berger spricht von anfänglichen Hautirritationen der Stufe eins, die sich nach Dosisreduktion schnell verringern? Wir sind doch nicht blöd in unserer Klinik. Sicher, ich weiß es ist eine groß angelegte Studie, prospektiv randomisiert. Alle Kriterien, die eine Studie zu einer guten Studie machen stimmen." Woltner-Lentek redete und redete. Eigentlich hätte Steffen unterbrochen und Fragen gestellt. Eines allerdings machte das Gespräch so interessant, dass Steffen auf alle Fragen verzichtete und weiter aufmerksam zuhörte. Nach und nach erwähnte der aufgewühlte Professor alle Namen der Männer, die gestern im Hotel Elbchaussee gewesen waren.
"Hallo, Herr Raupner. Gut, dass ich Sie hier erwische". Steffen drehte sich um. Der Vorstandsvorsitzende der Mainpharm AG war das, was man als eloquenten jungen Manager bezeichnete. Seine Natürlichkeit wirkte nicht aufgesetzt, er war sympathisch. Ein Typ zum Pferde stehlen oder zumindest jemand, mit dem man durchaus ein Bier trinken wollte. Steffen war wochenlang hinter ihm hergelaufen, um ein Interview zu bekommen. Erst vor zwei Monaten hatte Dr. Vosse den Vorsitz des aufstrebenden Pharmaunternehmens übernommen. Aber alle Anfragen waren vergeblich gewesen. Vosse hatte ihm keine Minute gewährt. Jetzt stand Steffen vor ihm und verkniff sich zu erzählen, dass er ihn bereits gestern Nacht gesehen hatte.
"Ganz meinerseits, Herr Dr. Vosse - ehm, kann ich etwas für Sie tun?" In Steffens Kopf ratterte es. Für das Interview war es zu spät. Die Übernahme des Vorsitzes war Schnee von gestern. "Lassen Sie uns in unsere Lounge gehen, Herr Raupner." Vosse sagte es und ging voraus, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er ging schnell, und Steffen verstand warum. Sie durchquerten die Ausstellungshalle der Industrie, wo sich zahlreiche Ärzte auf der Jagd nach Kugelschreibern, USB-Sticks, Uhren, Bratwürstchen, Eis, Getränken bis hin zu bedruckten Tischtennisbällen befanden. Jeder Zweite grüßte Vosse. Jeder Dritte öffnete erwartungsvoll den Mund und streckte die Hand in Richtung des mächtigen Industrievertreters aus. Vosse ließ sich nicht beirren, erwiderte alle Grüße, schüttelte allerdings nur wenige Hände und versuchte, die Strecke so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Steffen ertappte sich dabei, sich geehrt zu fühlen, hinter Vosse her rennen zu dürfen, offensichtlich mit demselben Ziel. "Blödsinn", dachte er, versuchte desinteressierter zu wirken und eilte weiter hinter dem fliegenden grauen Anzug her.
"Mögen Sie Lachs? Käse? Sushi?" Vosse wartete Steffens Antwort nicht ab. "Sind Sie so lieb und bringen uns etwas Leckeres", wandte er sich einer hübschen Hostess zu. "Getränke - bringen Sie uns bitte auch Getränke. Wasser, Rotwein und - ach Sie wissen schon". Vosse lächelte. "So, da wären wir". Der Raum war aus Messewänden gebaut worden und offensichtlich lärmisoliert. Nachdem die Hostess die Tür geschlossen hatte, war es erstaunlich ruhig. Es gab einen Schreibtisch, einen Besprechungstisch und ein Regal in dem höherwertige Werbegeschenke wie Laptops, Handys und Uhren gestapelt waren. Steffen lehnte sich in dem bequemen schwarzen Ledersessel zurück und nahm verwundert einen halb gefüllten Aschenbecher auf dem Tisch wahr.
"Sie rauchen?"
"Oh, mein Gott - schreiben Sie das nicht", lachte Vosse. "Wir haben doch alle unsere kleinen Sünden - oder? Möchten Sie eine?" Steffen lehnte lächelnd ab. Er rauchte seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Die Tür ging auf, und das Essen wurde auf den Tisch gestellt. Steffen liebte gutes Essen und Vosse offensichtlich auch. Eine Auswahl an Käse, Lachs, einige - wie sich herausstellen sollte - sehr leckere Dips und frisch aufgebackenes Brot, das noch heiß war, wurde auf den Tisch gestellt. Außerdem eine große Platte mit Sushi-Varianten. "Ich habe wirklich Hunger. Langen Sie zu". Vosse öffnete eine Flasche Rotwein und schenkte ein.
"Sagen Sie mal, Herr Raupner, Sie machen doch dieses Internet-Portal. Wir haben uns das angeschaut und finden gut, was Sie machen. Sie sind die einzige Seite im Internet, die derzeit aktuell und für Patienten verständlich berichtet".
Das stimmte nicht. Steffen fragte sich, worum es ging. Bislang war er von der Marketingabteilung der Mainpharma AG immer abgewimmelt worden. Kein Interesse hieß es. Jetzt saß er hier mit dem Big Boss selbst, und alles sah anders aus. "Wir könnten uns vorstellen, auf Ihrer Seite zu werben, Sie mit Informationen zu versorgen und das Projekt so zu fördern", fügte Vosse hinzu. "Erzählen Sie doch mal - welche Themen werden Sie in der nächsten Zeit behandeln".
Steffen stopfte Lachs in sich hinein. Er war so, wie er sein sollte. Weich, so dass er auf der Zunge zerging und nicht zu salzig. Zusammen mit dem Brot und dem Rotwein war so ein einfaches Essen das Beste, was man zu sich nehmen konnte. Er bedauerte den Schmaus unterbrechen zu müssen und begann, umfangreich über Ziele und Fortschritte seines Projektes zu berichten. Er konnte den Text auswendig. Immer und immer wieder hatte er in Gesprächen, per E-Mail und per Briefpost versucht, einen Partner der Industrie für seinen Internet-Auftritt zu begeistern. Allerdings ohne Erfolg. Vosse hörte aufmerksam zu.
"Großartig! So hatte ich mir das vorgestellt. Wir hätten viel früher miteinander reden sollen, Herr Raupner". Vosse steckte sich eine Zigarette an und blies den Qualm quer über den Tisch. "Passen Sie auf. Wir fördern Ihre Seite mit einem Betrag von zwanzigtausend Euro. Können Sie ein Banner von uns schalten und uns eine entsprechende Rechnung schicken? Sie wissen, wir müssen immer eine konkrete Gegenleistung haben." Wieder wartete Vosse keine Antwort ab: "Kommen Sie - trinken wir auf eine gute Zusammenarbeit". Vosse schenkte Wein nach und prostete Steffen zu. Der Klang der aneinander stoßenden Gläser hörte sich für Steffen an wie ein Glockenschlag, der eine neue Zeit einläutete. Und als die Isolierung der Wand ihn verschluckt hatte, erhob sich Vosse.
"Eins noch, Herr Raupner. Sie haben sich gestern nach unserer Mitarbeiterin erkundigt. Sie wissen schon. Frau Valenzuela. Außerordentlich attraktiv. Filipina." Steffen hob die Augenbrauen und nickte fragend. "Herr Raupner, Frau Valenzuela ist eine junge und engagierte Biochemikerin, die an den asiatischen Studien zum Trufenib mitgearbeitet hat. Wir wollen uns enger mit den asiatischen Kollegen austauschen, und deshalb fliegt Berger - Sie kennen Professor Berger? - nächste Woche auch nach Manila. Es muss nicht jeder alles wissen in unserer Branche, und daher würde ich Sie bitten, einfach alles über Frau Valenzuela zu vergessen. Tja, das sind so die Probleme, mit denen ich mich herumschlage." Vosse lächelte, seine Augen waren allerdings sehr ernst. "Ich verlasse mich da auf Sie, Herr Raupner." Steffen hatte den letzten Satz nicht als Frage verstanden. Jetzt allerdings bestand Vosse auf eine Antwort: "Ich bitte Sie, als mir sehr sympathischen Journalisten. Vergessen Sie Frau Valenzuela. Geht das in Ordnung?"
Steffen wusste, dass sein Lächeln nicht so echt wirkte wie das seines Gegenübers und so musste er sich räuspern, bevor er ein "Sicher - kein Problem" hervorbrachte.