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ОглавлениеTag 1, Montag
Mit bedächtigen Schritten lief Hauptkommissar Steffen Siebels durch die Flure des Frankfurter Polizeipräsidiums. Es war ein wolkenverhangener Montagmorgen. Vereinzelt kamen ihm Kollegen entgegen, die ihn flüchtig mit einem Kopfnicken begrüßten. Bekannte Gesichter waren nicht darunter. Schon seit Tagen hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wieder an die ehemalige Wirkungsstätte zurückzukehren. Nachts hatte er sogar davon geträumt. Hatte geträumt, wie er seinen ersten Gang ins alte Büro absolvieren würde: Durch ein Spalier von applaudierenden Kollegen schritt er über einen roten Teppich zu seinem Arbeitsplatz, der mit Girlanden und Luftschlangen geschmückt war. Als er die Schwelle zu seinem Büro übertrat, zündeten die Konfetti-Kanonen, eine Live-Band spielte Blasmusik und eine Truppe Cheerleader tanzte ausgelassen um ihn herum. Der Polizeipräsident persönlich überreichte ihm Dienstausweis und Dienstwaffe und hielt bei einem Sektempfang vor versammelter Mannschaft eine flammende Rede über die Wiederkehr des verlorenen Sohnes.
Es war nur ein Traum, den sich Siebels selbst nicht erklären konnte. Aber als er nun sein Büro betrat, verspürte er doch eine gewisse Enttäuschung. In dem kahlen Raum roch es muffig, niemand erwartete ihn und auf den Schreibtischen lagen mehrere Stapel Akten, die klaglos darauf warteten, bearbeitet zu werden. Till war auch noch nicht da, stellte er fest und ließ sich seufzend auf seinem Stuhl nieder.
Fünf Jahre war es nun schon wieder her, dass er sein erfolgreiches Dasein bei der Mordkommission beendet hatte. Er hatte es sattgehabt, ständig Überstunden zu schieben. Er hatte keine Lust mehr darauf, seine geplanten Urlaube kurzfristig abzublasen, weil er nicht loslassen konnte, wenn er kurz vor der Klärung eines Falles stand. Wenn er einen Fall bearbeitete, befand er sich in einem Tunnel. Dann rannte er wie ein Besessener mit diesem Tunnelblick durch sein Leben. Am Ende des Tunnels stand die Aufklärung eines Mordfalls. Aber kaum hatte er einen Tunnel hinter sich gelassen, betrat er schon wieder den nächsten. Und so ging es in einem fort. Seine Familie, seine Freunde, seine Hobbys, all das befand sich außerhalb der Röhren, in denen er sich bewegte. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem er sich weigerte, den nächsten Tunnel zu betreten. Er wollte frei sein. Wollte mehr Zeit mit seiner Familie verbringen, mit seiner Frau Sabine und Sohn Dennis, der kurz vor der Einschulung stand. Kurzentschlossen quittierte er seinen Dienst. Zu seiner Überraschung vollzog sein langjähriger Partner und Freund den gleichen Schritt. Till Krüger verließ die Frankfurter Mordkommission und folgte dem verlockenden Ruf zum LKA nach Wiesbaden. Eine Ära war damit zunächst beendet.
Siebels stürzte sich voller Elan in einen neuen Lebensabschnitt. Als Hausmann und Papa. Außerdem eröffnete er eine Detektei. Das wollte er nebenbei laufen lassen. Kleine, unbedeutende Fälle, mehr hatte er nicht angestrebt. Aber das ging gründlich schief. Sein Ruf als unermüdlicher Ermittler war ihm vorausgeeilt. Anstatt untreue Ehemänner oder diebische Angestellte zu überführen, bekam er es als Privatdetektiv mit Mafiakillern, Waffenhändlern und den Geheimdiensten fremder Mächte zu tun. Seltsamerweise war bei diesen Geschichten oft auch das LKA involviert und er durchquerte weiterhin gemeinsam mit Till Krüger die dunklen Tunnel der Unterwelt.
Weil das völlig konträr zu seiner angedachten Rolle als sorgender Familienvater verlief, zog seine Frau die Notbremse. Ein erneuter familiärer Rollentausch war die Folge und katapultierte Siebels wieder zurück in sein altes Büro bei der Frankfurter Mordkommission. Und weil es das Schicksal so vorgesehen hatte, kam er nicht allein zurück. Till Krüger war beim LKA zuletzt nicht mehr glücklich gewesen und gelangte zu dem Entschluss, dass er bei der Frankfurter Mordkommission doch viel besser aufgehoben war. Das grandiose Comeback des Duos Siebels und Till war damit besiegelt.
Siebels saß vor seinem Monitor. Er sollte sein Passwort eingeben, hatte aber keins. Langsam fragte er sich, ob hier überhaupt jemand wusste, dass er heute seinen Dienst wieder antrat. Sicherheitshalber schaute er noch einmal auf den Wandkalender. Nicht, dass er sich im Tag geirrt hatte und zu früh angetreten war. An dem Kalender musste er aber erst mal die zurückliegenden drei abgelaufenen Monatsblätter abreißen. Er fing schon an zu zweifeln, ob die Mordkommission in Frankfurt überhaupt noch existierte, als die Tür geöffnet wurde. In freudiger Erwartung auf Till formten sich seine Lippen zu einem Lächeln, aber durch die Tür trat eine junge Frau.
»Hey, Sie sind Steffen Siebels, oder?«
»Ja, der bin ich, zurück an alter Wirkungsstätte.«
»Super, dann können Sie ja gleich loslegen.«
Siebels bekam einen handgeschriebenen Zettel mit einer Adresse in die Hand gedrückt.
»Und wer sind Sie?«, erkundigte sich Siebels zaghaft, nachdem er einen Blick auf den Zettel geworfen hatte.
»Ach, Entschuldigung, ich bin Jasmin, Ihre Assistentin. Also ich kümmere mich hier um alles und unterstütze Sie und Ihren Kollegen bei Ihren Ermittlungen. Wo ist er eigentlich, der Herr Krüger?«
Siebels sah auf die Uhr. Kurz nach neun. Um diese Zeit war Till früher normalerweise im Büro aufgetaucht. »Ich nehme an, der kommt gleich.«
»Die Spurensicherung ist jedenfalls schon vor Ort, ein Mann wurde tot in seinem Haus aufgefunden.«
»Der läuft ja dann wohl nicht mehr weg«, kommentierte Siebels süffisant.
»Aber die Pietät trägt ihn weg, wenn Sie nicht in die Gänge kommen. Der Einsatz hat heute Morgen schon um sieben begonnen.«
»Ich brauche aber noch das Passwort für meinen Computer, den Schlüssel für meinen Dienstwagen, meine Dienstwaffe und einen Dienstausweis.« Siebels kam sich fast ein bisschen hilflos vor am ersten Arbeitstag in seinem dritten Arbeitsleben.
»Das erledigen wir heute Mittag, ich kümmere mich um alles. Am besten fahren Sie jetzt erst mal mit Ihrem Privatwagen, das rechne ich dann ab.«
»Haben Sie auch einen Nachnamen, Jasmin?«
»Jasmin Müller, aber nennen Sie mich ruhig Jasmin, das ist schon in Ordnung.«
Siebels reichte Jasmin die Hand. »Hallo, Jasmin, auf eine gute Zusammenarbeit. Sie können mich Steffen nennen. Oder Siebels und Du – das machen alle.«
»Alles klar, Siebels. Ich habe übrigens schon viel von dir gehört und freu mich voll auf die Zusammenarbeit. Aber jetzt mach hin, die haben schon dreimal angerufen, ob da heute noch mal jemand vorbeikommt.«
Siebels erhob sich seufzend von seinem Stuhl, als Till gemütlich mit zwei Papiertüten von der Bäckerei ins Büro geschlendert kam.
»Guten Morgen, Herr Kollege«, begrüßte Siebels seinen alten, neuen Partner und freute sich, ihn endlich wiederzusehen.
»Hey super, jetzt seid ihr ja komplett«, mischte sich Jasmin ein. »Ihr könnt mich jederzeit anrufen, wenn ihr Unterstützung bei den Ermittlungen benötigt. Bis später, tschau.«
»Ich habe Croissants besorgt«, sagte Till und schaute ihr verdutzt hinterher. »Nach frischem Kaffee riecht es hier aber noch nicht.«
»Die Kaffeefrage klären wir später mit Jasmin.«
»Wer ist Jasmin?«
»Na die Kleine von eben. Sie ist unsere Assistentin.«
»Wir haben eine Assistentin? Wow.«
»Ich befürchte, die ist noch schlimmer, als es Jensen früher war«, murrte Siebels.
»Eine Assistentin, die schlimmer als ein Staatsanwalt ist? Hm, die Zeiten haben sich wohl geändert.«
»Wo müssen wir denn hin?«, wollte Till wissen, als sie im Wagen von Siebels saßen.
»Auf den Riedberg. Martin Schlosser wurde in seinem Haus heute früh tot aufgefunden. 49 Jahre alt, Rechtsanwalt von Beruf. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Wahrscheinlich ist Anna auch dort«, überlegte Till. »Die war heute Morgen jedenfalls schon weg, als ich aufgestanden bin.«
»Sehr gut. Ich freue mich über jedes bekannte Gesicht. Als ich heute Morgen ins Präsidium kam und ins Büro gegangen bin, kam ich mir vor wie ein Besucher.«
»Was hast du erwartet? Den Polizeichor, der vor dem Eingang auf dich wartet und ein Willkommensliedchen trällert?«
Siebels behielt seinen merkwürdigen Traum für sich. »Irgendjemand, der mich begrüßt und sich erfreut zeigt, dass ich wieder da bin.«
»Ja, ich wollte ja auch eine halbe Stunde eher da sein und das erledigen. Aber ich bin noch mal eingeschlafen, nachdem der Wecker geklingelt hat. Und Anna war ja schon unterwegs.«
»Ich hatte da eigentlich an jemanden Höherrangiges gedacht«, entgegnete Siebels mit einem Schmunzeln.
»Hey, ich bin nicht mehr der kleine Oberkommissar von damals, sondern ein ehemaliger hochdekorierter LKA-Kommissar. Nicht vergessen, gelle.«
»Ich erinnere mich da an einen vom Dienst suspendierten Kommissar. Aber egal, bin froh, dass du jetzt wieder jeden Tag neben mir sitzt.«
»Ja, kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, als wir zuletzt für die Mordkommission unterwegs waren.«
»Das war der Fall mit der ermordeten Lehrerin und dem schizophrenen Schüler. Ganz schön heftig war das. Was aus dem wohl geworden ist?«
»Keine Ahnung. Schauen wir lieber nach vorne und nicht zurück. Ein ganz simpler Mordfall für den Wiedereinstieg, das wäre doch mal schön.«
»Einen ganz simplen Mordfall, hatten wir so was überhaupt schon mal?«
»Jedenfalls war keiner dabei, den wir nicht aufgeklärt hätten. Beim LKA war ich nicht immer so erfolgreich.«
»Wir sind schon da«, kam Siebels in die Gegenwart zurück. Die Straße auf dem Riedberg, einer Neubausiedlung mit Ein- und Mehrfamilienhäusern, die den Anschein erweckte, als wäre sie aus einem Lego-Baukasten entstanden, hieß Skylineblick. Von hier aus konnte man auf die Frankfurter Innenstadt und weit darüber hinaus blicken. Mehrere Doppelhaushälften mit unterschiedlichen Farbanstrichen lagen am Rande des Stadtteils, eine davon war mit rotweißem Absperrband weiträumig abgesperrt. Zwei Streifenwagen sowie drei Zivilfahrzeuge standen vor dem Haus.
Siebels stellte seinen Wagen dahinter ab. Als die beiden über das Flatterband steigen wollten, wurden sie von einem uniformierten Polizisten zurückgepfiffen.
»Hey, Sie«, rief er mit empörter Stimme. »Machen Sie sich mal ganz schnell vom Acker, das ist ein abgesperrter Bereich. Oder glauben Sie vielleicht, wir veranstalten hier einen Hindernislauf?«
Siebels machte kehrt, hob beschwichtigend die Hände und ging auf den Mann zu. »Wir sind von der Mordkommission, ich bin Steffen Siebels und das ist mein Kollege Till Krüger.«
»Ach so. Na da müsste ich aber trotzdem erst mal einen Blick auf Ihre Dienstausweise werfen.«
»Die liegen noch bei Jasmin«, seufzte Siebels.
»Aha. Veräppeln kann ich mich auch selbst. Wenn Sie nicht gleich verschwinden, bekommen Sie Probleme, haben wir uns verstanden?«
Siebels stand ratlos vor dem Polizisten, er wusste nicht einmal die Durchwahl von Jasmin. Till hatte aber schon das Handy am Ohr und sprach mit seiner Frau Anna, die als zuständige Gerichtsmedizinerin tatsächlich im Haus war. Sie erschien gleich darauf an der Haustür, rief den Polizisten zu sich und redete kurz mit ihm. Der kam dann kopfschüttelnd zu Siebels und Till zurück.
»Dann gehen Sie mal rein. Aber beim nächsten Mal bitte mit Dienstausweisen. Oder bringen Sie meinetwegen Jasmin mit, wenn die sie hat.«
»Mein Kollege war eigentlich der Meinung, dass ihn jeder Polizist in Frankfurt und dem Rest der Welt auf Anhieb erkennt«, flachste Till und ging zum Hauseingang, wo Anna ihn und Siebels erwartete.
»Das geht ja schon wieder gut los mit euch beiden«, zeigte Anna sich amüsiert. »Na, dann kommt mal rein und verschafft euch einen Überblick. Der Tote hieß Martin Schlosser und wohnte seit seiner Scheidung allein hier im Haus. Das habe ich von den Beamten erfahren, die die Nachbarn schon befragt haben. Er wurde erschlagen, wahrscheinlich mit einer Skulptur, die zur Wohnungseinrichtung gehört.«
Siebels und Till streiften sich Überzieher über die Schuhe und standen kurz später vor dem Toten, der mit Anzug, Hemd und Krawatte bekleidet auf dem Rücken lag, um den Kopf eine Blutlache.
»Die Herren von der Mordkommission sind also auch endlich eingetroffen«, seufzte eine Frau mittleren Alters in Uniform und reichte den beiden Kommissaren die Hand. »Ich bin Petra Schlesinger vom 14. Revier. Wir wurden um 6:30 Uhr verständigt, nachdem ein Notruf eingetroffen ist.«
Siebels stellte zunächst sich und Till vor. »Dann lassen Sie mal hören«, forderte er die Beamtin auf.
»Der Notruf kam von einem Kollegen des Opfers.« Petra Schlesinger zog einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche und warf einen Blick darauf. »Dieser Kollege ist wie das Opfer von Beruf Rechtsanwalt. Er heißt Nils Brenner. Das Opfer heißt Martin Schlosser. Die beiden wollten mit dem Auto gemeinsam zu einem Seminar nach Stuttgart fahren und waren hier um 6:15 Uhr verabredet. Die Haustür stand zu dieser Zeit einen Spalt weit offen. Als sich auf das Klingeln und Klopfen von Herrn Brenner nichts rührte, ist er durch die geöffnete Haustür ins Haus gekommen und dort auf den Toten getroffen. Er hat dann unverzüglich den Notruf gewählt. Es gibt keine Einbruchspuren, von den unmittelbaren Nachbarn hat niemand etwas Auffälliges bemerkt.«
»Der Todeszeitpunkt muss gegen Mitternacht gelegen haben«, ergänzte Anna Lehmkuhl. »Es war ein einzelner heftiger Schlag gegen den Hinterkopf. Das Opfer war aber nicht sofort tot. Vorläufig schätze ich, dass er mit der schweren Kopfverletzung noch ungefähr eine Stunde mit dem Tod gerungen hat.«
»Also wurde er gegen 23:00 Uhr niedergeschlagen«, resümierte Siebels. »Und hat zu dieser Zeit noch Anzug, Hemd und Krawatte getragen.«
»Sieht ganz so aus«, bestätigte Petra Schlesinger. »Es gibt allerdings einen interessanten Hinweis auf das Mordmotiv.«
Siebels sah seine Gesprächspartnerin abwartend an. Die schaute sich suchend im Raum um, wo noch zwei Kollegen von der Spurensicherung bei der Arbeit waren. »Verraten Sie mir auch, um welchen interessanten Hinweis es sich dabei handelt?«, fragte Siebels schließlich etwas genervt.
»Ein Foto. Auf der Brust des Toten lag ein Foto. Das hat die Spurensicherung bereits eingetütet.« Petra Schlesinger rief nach einem der Männer, die noch akribisch auf Spurensuche waren, sich nun aber auf die hinteren Teile der Räumlichkeit beschränkten.
Siebels erkannte den Mann, der jetzt auf sie zukam. Peter Lich arbeitete schon seit über zehn Jahren bei der Spurensicherung.
»Es stimmt also tatsächlich«, sagte Peter Lich erfreut. »Siebels und Till sind wieder vereint im Dienst zurück. Herzlich willkommen.«
»Hallo, Peter. Schön, dass es doch noch jemanden gibt, der sich an uns erinnern kann.«
»Ihr seid doch Legenden, schon seit Tagen werden überall eure alten Geschichten wieder aufgewärmt.«
»Ach ja? Gerade haben wir erst einen Anschiss bekommen, weil wir uns dem Tatort nähern wollten. Aber egal, wie geht es dir?«
»Mir geht es gut. Aber ich arbeite lieber, wenn kein Toter mehr im Raum rumliegt.« Er warf einen kurzen Blick auf den Leichnam, der in unmittelbarer Nähe von ihnen auf dem Boden lag.
»Ja, das kann ich verstehen. Ich denke, er kann jetzt auch in die Gerichtsmedizin überführt werden. Fotos habt ihr ja bestimmt gemacht.«
»Natürlich, aber nicht nur gemacht, sondern auch gefunden. Auf der Brust des Mannes wurde ein Foto hinterlassen. Warte, ich habe es schon eingetütet.«
Peter Lich griff in einen geöffneten Aluminiumkoffer, in dem er Utensilien für seine Arbeit aufbewahrte. Er reichte Siebels ein Plastiktütchen, in dem er das Foto verwahrt hatte.
Siebels pfiff leise durch die Zähne. »Und das lag auf seiner Brust?«
»Ja, da wollte wohl jemand eine Botschaft hinterlassen.«
»Das wurde hier im Haus aufgenommen«, stellte Siebels fest. »Sie liegt auf der Couch da.« Siebels deutete auf das schwarze Ledersofa hinter dem Leichnam.
»Wer liegt auf der Couch?«, fragte Till, der sich bisher herausgehalten hatte, weil er die Gelegenheit nutzte, mit Anna noch ein paar Dinge zu besprechen.
Siebels reichte ihm das Foto. Darauf war eine junge Frau abgebildet, die seitlich auf der schwarzen Ledercouch lag, die nur zwei Schritte vom Fundort der Leiche entfernt stand. Sie war Anfang bis Mitte zwanzig und hatte kurzes braunes Haar mit einem frech geschnittenen Pony. Mit abgewinkeltem Arm stützte sie ihr Kinn auf der Hand ab. Lasziv blickte sie in die Kamera - nackt.
»Wow«, entfuhr es Till, bevor er Siebels das Foto zurückgab.
»Das muss ich aber behalten«, sagte Siebels zu Peter Lich.
»Klar, dachte ich mir schon. Die Kleine ist wahrscheinlich des Rätsels Lösung. Fingerabdrücke waren keine drauf. Die wurden abgewischt. Gleiches gilt für die mutmaßliche Tatwaffe, einer Skulptur aus Eisen. Ich brauche nur eine Unterschrift von dir, Entnahme von Beweismitteln, du weißt ja Bescheid.« Lich reichte Siebels auch gleich das entsprechende Formular, das er bereits ausgefüllt hatte.
»Wo ist das Handy des Opfers?«, wollte Siebels wissen.
»Das liegt auf dem Wohnzimmertisch. Da lag es schon, als wir eingetroffen sind. Das hat niemand angerührt.«
Zwei Männer von der Pietät kamen mit einem Sarg herein. Siebels gab ihnen zu verstehen, dass sie noch einen Moment warten sollten. Er legte das Foto mit der jungen Frau auf die Brust des Opfers und versuchte alles andere um sich herum auszublenden. Die Männer von der Pietät, Peter Lich, Anna Lehmkuhl, Petra Schlesinger. Er konzentrierte sich ganz auf das Opfer. Wollte sich einen Eindruck von dem Mann verschaffen, aus dem alles Leben gewichen war. Till stand seinem Kollegen gegenüber und tat es ihm gleich. Sie schwiegen, ließen sich von nichts ablenken und wanderten mit ihren Gedanken in den Fall, der sie nun eine Weile beschäftigen würde. Schließlich gab Siebels den Sargträgern ein Zeichen und begab sich zu der angrenzenden Küchenzeile, wo sich Petra Schlesinger noch aufhielt.
»Wo ist denn der Mann, der seinen toten Kollegen gefunden hat?«, wollte Siebels wissen.
»Den habe ich wieder nach Hause geschickt, nachdem mir niemand sagen konnte, wann die Mordkommission eintreffen würde.« Sie zückte wieder ihren Notizblock und gab Siebels die Adresse und die Telefonnummer von Nils Brenner. Im gleichen Moment meldete sich ihr Kollege, der vor dem Haus stand, über Funk und machte eine Meldung.
»Draußen steht eine Frau Markowitz«, gab Petra Schlesinger an Siebels weiter. »Sie ist die Putzfrau von Martin Schlosser.«
»Gut, mit der möchte ich mich gerne unterhalten.«
*
Frau Markowitz saß mit Siebels in der Küchenzeile. Sie wirkte geschockt. Als sie das Haus betreten durfte, wurde der Blechsarg gerade rausgetragen. Siebels gab ihr einen Moment, um sich zu sammeln, und reichte ihr ein Glas Leitungswasser.
»Wie oft putzen Sie denn bei Herrn Schlosser?«, begann Siebels behutsam mit seiner Befragung.
»In der Regel zweimal pro Woche. Herr Schlosser mag es ordentlich und sauber.«
»Ja, das sieht man«, bestätigte Siebels und ließ seine Augen durch die Küchenzeile wandern. Kein Krümel war zu sehen. »Wie lange arbeiten Sie schon für Herrn Schlosser?«
»Seit ungefähr einem halben Jahr. Seine Frau ist kurz zuvor ausgezogen. Sie haben sich scheiden lassen.«
»Hatte Herr Schlosser wieder eine Beziehung zu einer anderen Frau?«
Frau Markowitz zuckte mit den Schultern. »Nicht, dass ich wüsste. Im Haus gab es dafür nie Anzeichen. Ich sehe ihn aber nicht oft. Ich weiß nicht viel über sein Leben. Nur, dass er Rechtsanwalt ist und viel arbeitet.«
»Sie haben also einen Schlüssel und putzen immer, wenn er außer Haus ist?«
»Ja. Als ich angefangen habe, war er die ersten Male noch anwesend. Aber da konnte ich nur abends putzen oder samstags.«
»Wie sind Sie zu dieser Anstellung bei Herrn Schlosser gekommen?«
»Ich wurde ihm empfohlen. Von Herrn Brenner. Die beiden arbeiten für die gleiche Kanzlei. Bei Familie Brenner putze ich schon seit vier Jahren. Sie haben drei Kinder. Frau Brenner ist auch berufstätig, halbtags.«
»Ist Ihnen im Haus in der letzten Zeit etwas aufgefallen? Hat sich etwas verändert?«
Frau Markowitz überlegte und sah Siebels fragend an. »Nein, es war alles wie immer. Er wurde ermordet? Stimmt das wirklich?«
»Ja, das stimmt. Mehr kann ich Ihnen dazu aber nicht sagen.«
Frau Markowitz nickte. »Das ist schrecklich. Hoffentlich finden Sie schnell heraus, wer das getan hat.«
Siebels zeigte der Putzfrau das Foto der nackten jungen Frau. »Wissen Sie, wer diese Frau ist?«
Sie schaute es eine Weile an und schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht. Aber es ist hier aufgenommen worden. Auf der Couch drüben. Sie ist noch so jung. Viel zu jung für Herrn Schlosser.«
Siebels nickte, sagte aber nichts dazu. »Gut, Sie können dann wieder gehen. Aber Ihre Telefonnummer möchte ich mir noch notieren, falls es doch noch Fragen geben sollte.«