Читать книгу Die tödlichen Gedanken - Stefan Bouxsein - Страница 10

5

Оглавление

Mein Lehrerinnenbuch

Ich saß wieder am Badesee und schaute dem Treiben um mich herum zu. Insgeheim hoffte ich, dass auch meine Lehrerin wiederkommen würde. Ich hatte mich schon richtig an sie gewöhnt. Vielleicht würde ich sie heute sogar ins Wasser begleiten. Ich war richtig aufgekratzt. Schaute mich immer wieder nach ihr um, aber sie war nirgendwo zu sehen. Dann bekam ich Angst. Was wäre, wenn sie mit jemand anderem käme? Mit ihrem Freund oder einem anderen Schüler. Wenn sie sich gemeinsam mit einem anderen ganz in meiner Nähe niederlassen würde. Wenn sie sich mit einem anderen unterhalten würde, während ich hier ganz allein vor mich hin grübelte. Wenn sie mit einem anderen zusammen Schwimmen gehen würde und ich das beobachten müsste. Mein Magen zog sich bei der Vorstellung zusammen. Ich schloss die Augen. Es gab weniger böse Überraschungen in der Welt, wenn man die Augen geschlossen hielt.

»Schläfst du?«, hörte ich ihre Stimme hinter mir. Ich traute mich nicht, meine Augen zu öffnen. War sie es wirklich? War sie alleine? Wollte sie sich zu mir legen? Mein Herz schlug schneller.

»Nein, ich bin wach«, sagte ich, hielt die Augen aber weiter geschlossen.

»Ich habe mir schon fast gedacht, dass ich dich hier wieder treffe.«

Ich öffnete meine Augen und richtete mich auf. Sie lächelte mich an. Ich lächelte sie auch an. Sie trug heute einen feuerroten Bikini. »Ich habe schon auf Sie gewartet«, sagte ich schüchtern.

»Das ist schön«, freute sie sich. Sie breitete ihr Handtuch direkt neben meinem aus. Unsere Handtücher berührten sich, überlappten sich. Es blieb kein Freiraum zwischen uns.

»Ich ziehe meinen Bikini auch gleich aus, das magst du doch. Oder kommt deine Mutter noch?«

»Nein, nein, Mutter kommt nie an den Badesee«, beeilte ich mich, ihr zu versichern.

»Ich mag deine Mutter«, sagte sie und schlüpfte aus ihrem Bikini. Nackt setzte sie sich mit angezogenen Knien mir gegenüber auf ihr Handtuch. »Sie hat es bestimmt sehr schwer gehabt im Leben.«

»Ich weiß nicht«, gab ich zaghaft zur Antwort. »Entweder ist sie in der Küche und backt oder kocht oder sie sitzt vor dem Fernseher.«

»Schaust du auch viel Fernsehen?«

»Nein, eigentlich nie. Ich gucke am liebsten aus dem Fenster.«

»Mich schaust du auch gerne an«, stellte sie fest.

Ich richtete meinen Blick etwas beschämt auf das Handtuch, auf dem ich saß.

»Schau mich ruhig an«, forderte sie mich auf. »Hat dein Vater deine Mutter früher auch so gerne angesehen?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Sonst wäre er doch bestimmt nicht vor den Zug gesprungen.« Ganz sicher war ich mir aber nicht.

Sie nahm meine Hand zwischen ihre Hände und drückte sie leicht. »Das muss sehr schlimm für dich gewesen sein. Stellst du dir noch oft vor, wie die letzten Minuten und Sekunden für deinen Vater gewesen sein müssen? Wie er sich gefühlt hat?«

»Er hat sich ausgezogen, bevor er auf das Gleisbett gegangen ist. Seine Kleidung hat er fein säuberlich zusammengelegt am Waldrand zurückgelassen. Darüber muss ich oft nachdenken.«

»Er ist nackt vor den Zug gesprungen?«, fragte meine Lehrerin erschrocken.

»Die Unterwäsche hat er anbehalten«, verbesserte ich mich. »Als die Polizei damals in unsere Wohnung kam und meiner Mutter davon erzählt hat, habe ich heimlich an der Tür gelauscht. Ich fand das komisch. Vor allem, dass er seine Sachen auch noch zusammengelegt hat, so als würde er sie in den Kleiderschrank legen. Die Polizisten hatten seine Kleider dabei und haben sie Mutter genauso übergeben, wie Vater sie hinterlassen hat. Das Bild dieser zusammengelegten Kleidung habe ich oft in meinem Kopf.«

»Legst du deine Kleidung auch immer ordentlich zusammen, wenn du dich abends ausziehst und zu Bett gehst?«, fragte meine Lehrerin neugierig.

»Ja. Ich kann sonst nicht einschlafen, wenn meine Kleidung nicht ordentlich untergebracht ist.«

»Und deine Unterwäsche? Behältst du sie an, wenn du schlafen gehst?«

Meine Lehrerin war schon ganz schön tief in mich eingedrungen, stellte ich fest. Es fühlte sich aber gut an, nicht mehr so allein in mir zu sein. »Die Unterwäsche behalte ich immer an«, gab ich zu.

Meine Lehrerin legte sich auf die Seite, stützte den Kopf mit der Hand ab und betrachtete mich nachdenklich. »Manchmal muss man mit alten Gewohnheiten brechen, um neue Erfahrungen sammeln zu können«, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Ich wusste nicht, wie sie das meinte. »Kommst du heute mit mir ins Wasser?«, fragte sie dann.

»Ja, heute komme ich mit«, gab ich freudig zur Antwort.

»Aber ziehe deine Badehose vorher aus«, sagte sie mit fester Stimme.

Ich zögerte erst. Aber sie hatte auch nichts an. Ich konnte mich also schlecht weigern. Zögerlich stieg ich aus meiner Badehose. Als ich sie zusammenfalten und in meiner Tasche verstauen wollte, trat meine Lehrerin ganz dicht an mich heran. »Schmeiß sie einfach hin«, forderte sie mich auf.

Ich hielt meine Badehose in der Hand und brachte es nicht fertig, sie einfach fallen zu lassen. Hilflos sah ich meine Lehrerin an und krallte mich an meiner Badehose fest.

Lukas saß schweigend auf der Rückbank von Siebels‹ Wagen. Bis zu der Wohnung seiner Eltern in der Feuerbachstraße waren es nur einige Minuten Fahrzeit. Der Wagen stand noch in der Parklücke und Siebels machte keine Anstalten, loszufahren. Er ließ das Seitenfenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Till saß auf der Beifahrerseite und ließ ebenfalls sein Fenster herunter.

»Da hast du dich jetzt in eine ziemlich blöde Situation gebracht«, sprach Siebels Lukas an und beobachtete ihn im Rückspiegel. Lukas hatte dunkelbraune, leicht gewellte Haare. Sein seitlich gekämmter Pony hing ihm einseitig über das halbe Gesicht. Er wirkte sanftmütig, aber selbstbewusst.

»Verena ist jetzt in einer blöden Situation. Sie ist tot«, antwortete Lukas etwas trotzig.

Till drehte seinen Kopf nach hinten und sah Lukas direkt an. »Sie war in dich verknallt, stimmt’s?«

»Kann sein. Sie war nett.« Lukas lehnte sich lässig gegen die Rücklehne und versuchte cool zu sein.

»Wie hat sie denn reagiert, als du zu Dagmar Kremer umgezogen bist? War sie eifersüchtig auf die Kunstlehrerin?«

»Was spielt das für eine Rolle? Sie wollte mich aus ihrer Wohnung raushaben, weil Herr Gerster was mitbekommen hat. Das ist unser Englischlehrer. Er hat sie immer angebaggert, sie hat ihn immer abblitzen lassen. Dann hat er ihr Stress gemacht wegen mir.«

Siebels betrachtete Lukas weiter im Rückspiegel. »Wie hat der Englischlehrer denn erfahren, dass du bei ihr wohnst?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist er abends um ihr Haus geschlichen und hat es irgendwann rausgekriegt. Ist ein echt schleimiger Typ.«

»Wie hätte es jetzt mit dir weitergehen sollen, wenn das mit Frau Jürgens nicht passiert wäre?«

»Weiß ich auch nicht. Ich versuche, über die Sommerferien einen Job zu finden. Wenn ich genug verdiene, kann ich nach den Ferien vielleicht in eine WG ziehen.«

»Und so lange wolltest du bei Dagmar Kremer wohnen bleiben?«, fragte Till. »Oder wollte dich Verena Jürgens in den Ferien wieder zurückholen?«

»Mann, Sie nerven«, stöhnte Lukas. »Fahren Sie mich jetzt nach Hause oder soll ich laufen?«

»Schon gut«, wiegelte Siebels ab und startete den Motor. Bis in die Feuerbachstraße blieb es still im Wagen. Till brachte Lukas nach oben. Lukas‹ Mutter fiel ihrem Sohn um den Hals. Lukas löste sich wortlos von ihr und verschwand in seinem Zimmer.

»Sein Vater ist tatsächlich ins Hotel gezogen«, teilte Frau Batton Till mit. »Muss ich mir jetzt Sorgen um ihn machen? Er hat doch nichts mit dem Tod dieser Lehrerin zu tun?«

»Nein, er hat ein Alibi. Falls weitere Fragen auftauchen, melde ich mich wieder.«

Zurück im Präsidium wurden Siebels und Till gleich wieder mit Lukas konfrontiert. Charly hatte den Rechner von Frau Jürgens durchforstet und war auf weitere Fotos von Lukas gestoßen. Charly hatte die Bilder per E-Mail an Siebels weitergeleitet.

»Habe ich doch recht gehabt«, frohlockte Till, als er die Fotos auf dem Monitor von Siebels begutachtete. Auf allen Bildern war Lukas im Bett von Verena Jürgens zu sehen. Allerdings schlief er nicht mehr. Und die Bettdecke war auch nicht mehr zu sehen. Er lag oder saß nackt auf dem Bett und lächelte oder zog alberne Grimassen. Er genoss es sichtlich, von seiner Lehrerin im Adamskostüm fotografiert zu werden.

»Bringt uns das weiter?«, fragte Siebels skeptisch.

»Damit können wir Lukas und die Kunstlehrerin konfrontieren. Dann kommen bestimmt wieder ein paar neue interessante Details ans Licht. Dass Frau Kremer und Frau Jürgens so gut befreundet waren und sich gemeinsam um Lukas gekümmert haben, glaube ich nämlich nicht.«

»Lukas und die Kunstlehrerin als Mörderpärchen? Da sehe ich noch kein hinreichendes Motiv«, befand Siebels. »Kümmern wir uns als Nächstes erst mal um die ehemaligen Sitzenbleiber.« Siebels zog die Liste der Oberstufenleiterin zu Rate. »Norbert Stoll, den hat auch der Englischlehrer in schlechter Erinnerung. Wenn wir uns zunächst auf die Männer beschränken, bleiben außer ihm noch Abdul Ökuz und Jens Gärtner. Schauen wir mal, ob wir zu den Herren etwas finden.« Siebels gab die Namen in die Datenbank ein und wurde auch gleich fündig. Abdul Ökuz saß seit einem halben Jahr hinter Schloss und Riegel. Und dort musste er wegen schwerer Körperverletzung auch noch die nächsten drei Jahre verbringen. Siebels ließ auch noch die Damen auf der Sitzenbleiber-Liste prüfen. Aber weder bei Jessica Gruber noch bei Tina Maurer oder Jana Kunz gab es Eintragungen.

»Kümmere dich mal um die Adressen der Herrschaften und finde raus, was die beruflich so treiben. Ich schaue mal bei Charly vorbei.«

Charly saß an seinem Schreibtisch und war noch mit der Durchsicht der Daten auf dem Rechner von Verena Jürgens beschäftigt. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er die Ankunft von Siebels gar nicht bemerkte.

»Na, Charly, was macht die Kunst?«

»Ach, der Herr Siebels persönlich. Grüß dich. Tja, die Kunst hat mich wieder eingeholt, seitdem Till mir den Rechner hier gebracht hat. Besser gesagt, meine alte Kunstlehrerin. Na ja, damals war sie ja jung. Sehr jung sogar.«

»Hast du dich damals deiner Lehrerin etwa auch als Aktmodell zur Verfügung gestellt?«

»Dann hätte ich jetzt jedenfalls mal was zu erzählen«, seufzte Charly. Siebels setzte sich auf die Schreibtischkante. »Würde dir doch keiner glauben. Und unser Lukas wird sich vielleicht auch bald wünschen, dass es diese Bilder nie gegeben hätte.«

»Hat er was mit dem Tod der Lehrerin zu tun?«

Siebels zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt sieht es so aus, als ob er sauber wäre. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn da noch einige Überraschungen ans Tageslicht kämen. Die Bilder, die du mir geschickt hast, lassen den Fall jedenfalls schon wieder in einem anderen Licht erscheinen. Hast du noch mehr auf dem Rechner gefunden?«

»Jedenfalls keine Fotos mehr mit nackten Schülern. Da hatte er anscheinend einen Ausnahmestatus bei seiner Lehrerin.«

»Oder bei zwei Lehrerinnen«, ergänzte Siebels und Charly zog die Augenbrauen hoch. Siebels erklärte ihm, dass Lukas von der einen zur anderen Lehrerin gezogen war. »Zu seiner Kunstlehrerin«, schloss Siebels genüsslich seine Ausführungen.

»Was für ein Bengel. Da beglückt er also seine Lehrerinnen und bleibt trotzdem sitzen. In was für einer Welt leben wir eigentlich?«

»Das frage ich mich bei jedem Fall aufs Neue. Hast du noch was Interessantes auf dem Rechner gefunden?«

»Ich kämpfe mich gerade durch ihren E-Mail-Verkehr. Sie war aktiv beim Tierschutz, bei Greenpeace und bei Occupy. Aber das interessiert dich eher nicht. Eine interessante Mail vom August 2010 habe ich aber gefunden.« Charly suchte im Verzeichnis die E-Mail und öffnete sie. »Hier, lies selbst.«

Jetzt bist du mich los. Aber du wirst dich noch wundern, du Fotze. Eines Tages werden wir uns wieder begegnen. Da bin ich mir ganz sicher. Und dann wird es dir leidtun. Kannst mir ja antworten, wenn du dich traust, Fotze.

Bis bald,

Norbert

»Norbert Stoll, der steht schon auf meiner Liste. Hat sie ihm geantwortet?«

»Nein, der war wohl nicht ihr Typ.«

»Sende das doch bitte gleich an mich weiter. Dem statten wir heute noch einen Besuch ab.«

»Schon unterwegs. Morgen Früh könnt ihr den Rechner wiederhaben. Dann habe ich alles durch. Das Handy auch.«

»Okay. Sag mal, Charly, wie lange kennen wir uns jetzt eigentlich schon?«

Charly sah Siebels verblüfft an. »Schon eine Ewigkeit. Zwanzig Jahre. Oder?«

»So ungefähr, ja. Zwanzig Jahre Kriminaldienst. Das hinterlässt Spuren.«

»Du stehst doch noch voll im Saft. Oder hat dich die Midlife-Crisis jetzt erwischt?«

»Im Gegenteil. Ich frage mich in letzter Zeit nur immer öfter, ob es nicht noch was anderes im Leben gibt.«

Charly verstand nicht, wovon Siebels jetzt sprach. »Du bist frisch verheiratet mit einer tollen Frau. Euer Sohn geht gerade mal in den Kindergarten und mit deiner Tochter hast du auch wieder Kontakt. Langt dir das nicht?«

»Sabine hat jetzt fünf Jahre pausiert. Dennis geht in den Kindergarten. Sie möchte gerne wieder zurück in unseren Verein.«

»Na, das ist doch kein Problem. Joe und die Jungs von der Sitte nehmen sie doch bestimmt mit Handkuss wieder bei sich auf.«

»Das wäre kein Problem. Allerdings hätten wir dann wieder zu wenig Zeit für Dennis. Wir haben zwar noch nicht wirklich darüber gesprochen, aber irgendwie liegt es seit einiger Zeit in der Luft. Wir machen alle beide gern so Andeutungen, ohne konkret zu werden. Verstehst du?«

»Nein, ich verstehe nur Bahnhof. Was für Andeutungen?«

Siebels rang mit sich, ob er mit der Sprache rausrücken sollte. »Kannst du was für dich behalten? Mit Till habe ich nämlich noch gar nicht drüber gesprochen.«

»Du machst es ja echt spannend. Ich kann schweigen wie ein Grab.«

»Ich glaube, wir sollten tauschen«, sagte Siebels.

»Was sollen wir tauschen?« Charly stand vollkommen auf dem Schlauch.

»Wir doch nicht. Sabine und ich. Sabine macht meinen Job bei der Mordkommission und ich bleibe zuhause. Jedenfalls mal für eine Weile.«

Charly schaute Siebels mit offenem Mund an. »Wow, das ist ja mal ›ne Ansage.«

»Ich habe es eben zum ersten Mal laut ausgesprochen. Und es klingt gut, finde ich. Wenn Dennis dann zur Schule geht, fange ich vielleicht als Privatdetektiv an. Für den Anfang nur kleinere Aufträge, dann wäre ich nicht ganz aus der Welt.«

»Deine Frau wäre dann den ganzen Tag mit Till zusammen. Hast du dir das gut überlegt?«

Siebels grinste. »Da habe ich keine Bedenken. Till und Anna, das wird was. Und Sabine und Till wären beruflich ein tolles Team, da bin ich mir sicher.«

»Siebels und Till in neuer Formation. Das ist ja ein Ding.«

Siebels legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Kein Wort zu niemandem.«

Charly hob die Hand zum Schwur. »Von mir erfährt niemand was. Mein Ehrenwort. Aber sag mir Bescheid, wenn es ernst wird.«

Siebels verließ Charlys Büro und grinste in sich hinein. Nun war es ausgesprochen. Er fühlte sich richtig gut. Bei nächster Gelegenheit wollte er es auch vor Sabine laut aussprechen. Er war schon auf ihre Reaktion gespannt.

Norbert Stoll hatte nach dem Abgang vom Sigmund-Freud-Gymnasium eine Ausbildung zum Industriekaufmann begonnen. Nach einem Jahr hatte er die Lehre bei Opel in Rüsselsheim wieder abgebrochen. Er ist nach Ibiza gegangen und hat sich dort als Animateur und DJ verdingt. Auch das hatte er nach einem Jahr wieder sein lassen. Er kam zurück nach Deutschland und wurde Autohändler. In diesem Geschäft war er noch immer tätig. Auto-Stoll - Import-Export. Das Firmengelände war an der Mainzer Landstraße angesiedelt, zwischen etlichen anderen Autohändlern.

Siebels fuhr auf das Firmengrundstück von Norbert Stoll. Etliche Wagen der Oberklasse standen in Reih und Glied und frisch gewaschen auf dem Platz. Die Büros befanden sich in zwei Containern auf der anderen Seite des Geländes. Siebels und Till betrachteten sich die zum Verkauf angebotenen Wagen, als sie langsam über den Platz fuhren.

»Dahinten stehen die Nobelkarossen«, bemerkte Till und deutete in Richtung der Container. Dort standen mehrere Porsche, Jaguar, Maserati und auch ein Rolls-Royce.

»Das Geschäft scheint zu laufen«, stellte Siebels fest und hielt vor den Containern an. Eine Frau in abgeschnittenen Jeans kam aus dem Büro und warf einen Blick auf den Dienstwagen von Siebels und Till.

»Viel kriegen Sie für den aber nicht mehr«, sagte sie mit abschätzigem Blick.

»Wir suchen Norbert Stoll. Ist er da drinnen?« Till zeigte auf die Container.

»In dem rechten, ja. Falls er schläft, wecken Sie ihn ruhig auf.«

Norbert Stoll schlief nicht. Er telefonierte. Anscheinend mit einem Geschäftspartner aus dem Ausland. Er sprach Englisch. Als Siebels und Till den Container betraten, gab er ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich auf die abgewetzte Couch setzen sollten. Siebels setzte sich. Till trat ans Fenster und beobachtete den Schäferhund, der an einer langen Leine neben dem Container festgebunden war.

»Wie kann ich behilflich sein?«, fragte Norbert Stoll zuvorkommend, nachdem er sein Telefonat beendet hatte.

»Kriminalpolizei«, stellte Siebels klar und zeigte den Ausweis.

»Mein Geschäft ist sauber. Was verschafft mir also die Ehre?«

»Ein alter Liebesbrief hat uns zu Ihnen geführt«, machte Siebels es spannend.

»Davon habe ich nicht so sehr viele geschrieben«, lachte Norbert Stoll. »Vielleicht verwechseln Sie mich da mit jemand anderem?«

Siebels reichte Stoll den Ausdruck der E-Mail. Stoll warf einen neugierigen Blick darauf. »Ach, meine E-Mail an die Fotze. Da kommen Sie aber spät. Hat sie mich jetzt etwa angezeigt?«

»Sie ist jetzt tot«, schaltete Till sich ein und stellte sich vor den sitzenden Stoll.

»Ermordet?«

»Vermutlich von einem, der sitzen geblieben ist«, ließ Till ihn wissen.

»Bei der Fotze sind bestimmt einige sitzen geblieben«, erwiderte Stoll ungerührt.

»Nennen wir sie doch Frau Jürgens«, bat Siebels ihn höflich.

»Von mir aus. Ich habe Frau Jürgens jedenfalls nichts angetan. Außer dieser kleinen E-Mail, die ich ihr vor drei Jahren geschickt habe. Die hatte sie sich aber auch redlich verdient.«

»Was war denn der Auslöser für diese E-Mail?«, erkundigte sich Siebels. »Fanden Sie sich ungerecht behandelt von ihr?«

»Das ist doch Schnee von gestern«, wehrte Stoll ab. »Eigentlich müsste ich ihr dankbar sein, dass ich mein Abitur nicht geschafft habe. Ich habe mir hier was aufgebaut. Mir geht’s gut. Ich habe wirklich keinen Grund, die Fotze, äh, Frau Jürgens, abzumurksen.«

»Wo waren Sie denn in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag?«

»Jedenfalls nicht bei ihr. Ich lag bei meiner Maus im Bett. Sie arbeitet auch hier, Sie können sie gerne fragen.« Stoll schaute nach draußen, ob er sie irgendwo sah. Sie war aber nicht zu sehen. »Sie sitzt bestimmt im Büro. Im Container nebenan.«

»Das machen wir gleich«, sage Siebels. »Ich habe gehört, Sie haben den Stuhl von Ihrem Englischlehrer mit Klebstoff präpariert.«

Stoll grinste. »Das war auch so ein Idiot. Seine Hose war hinüber, er musste sich aus der Hose rausschneiden, um wieder aufstehen zu können.«

»Was war denn nun das Problem mit Frau Jürgens?«, hakte Till noch mal nach.

»Das ist drei Jahre her. Da war ich noch ein anderer Mensch. Ich lebte bei meinen Eltern und das war Scheiße. Mein Vater war arbeitslos und meine Mutter hatte einen Liebhaber. Mir stand der Sinn nicht wirklich nach Schule. Mir stand der Sinn nach gar nichts. Aber ich war nicht dumm, bin ich immer noch nicht. Frau Jürgens hat eine Deutscharbeit von mir mit einem einzigen mickrigen Punkt bewertet. Das hat mir das Genick gebrochen, oder die Versetzung vermasselt. Ich bin immer noch überzeugt, dass meine Arbeit ganz gut war. Egal, vorbei und vergessen. Anscheinend hat ihre willkürliche Benotung ja einen anderen dazu veranlasst, sie aus dem Leben zu befördern.«

»Kannten Sie Abdul Ökuz?«, erkundigte sich Siebels.

»Abdul, den kannte ich, ja. Leider. Der hat mir ein paar Mal die Fresse poliert. War ein Schlägertyp. Der hat es auch nicht geschafft. Ich glaube, der hat die Schule zur gleichen Zeit geschmissen wie ich. Der hatte auch Deutsch als Leistungskurs, der Türke. Der hatte generell ein Problem mit Frauen und mit Frau Jürgens im Besonderen.«

»Wie dürfen wir das verstehen?«

»Sie wollte ihm wohl seine Machoallüren austreiben. Hat aber eher das Gegenteil damit erreicht. Abdul kam aus einer altmodischen türkischen Familie. Anatolien halt. Da hat die Frau die Klappe zu halten. Den sollten Sie sich mal vorknöpfen, den Abdul. So einer wie der, der rächt sich auch spät noch an seinen Widersachern. Das ist eine Frage der Ehre. Sie kennen das ja bestimmt.«

»Ja, das kennen wir. Aber Abdul sitzt schon hinter Gittern«, verriet Siebels.

»Tja, das war abzusehen. Einen anderen heißen Tipp kann ich Ihnen aber leider nicht geben.«

»Dann gehen wir mal rüber ins Büro und klären das mit Ihrem Alibi. Schönen Tag noch.«

Die Maus in der abgeschnittenen Jeans war mit der Buchhaltung beschäftigt. Dass Siebels und Till von der Kriminalpolizei waren, beeindruckte sie nicht sonderlich. Auch die Frage nach ihrem Aufenthaltsort in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag nahm sie gelassen auf. Da lag sie im Bett. Zusammen mit Nobby.

»Streichen wir ihn von der Liste?«, fragte Till, als Siebels mit dem Wagen auf die Mainzer Landstraße einbog.

»Wir überprüfen mal seinen Finanzstatus. Falls er wirklich so gut dasteht, wie er behauptet, hat er wohl tatsächlich kein Motiv mehr. Falls er aber in Nöten steckt, hat er seit seinem unrühmlichen Schulabgang nur Nieten gezogen. Dann hat er vielleicht doch noch die alte Rechnung mit seiner Lehrerin beglichen. Sollte seine Situation anders sein, als er uns weismachen wollte, werden wir die Maus mal in die Mangel nehmen. Jetzt schauen wir uns noch diesen Jens Gärtner an. Wo finden wir den?«

»Im Gallusviertel. Er ist arbeitslos und wohnt in der Frankenallee.«

Die tödlichen Gedanken

Подняться наверх