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Mein Lehrerinnenbuch

Ich war spazieren gewesen. Bin einfach ziellos zwischen den Häuserreihen umhergelaufen und habe versucht, klare Gedanken in meinen Kopf zu bekommen. Es war wieder ein heißer Sommertag. Die Sonne brannte auf den Asphalt der Straßen. Ich hatte das Gefühl, als würde die Sonneneinstrahlung giftige Dämpfe aus dem Straßenbelag lösen. Dämpfe, die ich einatmete. Mit jedem Atemzug drang eine neue Dosis Gift in meinen Körper. Gift, das mich lähmte. Es lähmte meine Schritte und es lähmte meine Gedanken. Und nirgendwo konnte ich Schatten entdecken. Die pralle Sonne hatte alle Schatten getilgt. Überall löste sich ungehindert das Gift aus dem Asphalt und breitete sich flächendeckend aus. Langsam stieg es höher. Unsichtbar, aber unaufhaltsam. Ich atmete tief ein. Füllte meine Lungen mit den giftigen Dämpfen. Sog sie in mich ein. Und spürte ihre lähmende Wirkung. Mir wurde schwindelig. Die Häuser um mich herum fingen an sich zu bewegen. Fast unmerklich, aber es entging mir trotzdem nicht. Wenn ich noch länger umherlief, würde ich bald tot umfallen. Ich musste zurück. Zurück in die Wohnung. Dort war es kühl. Die Jalousien waren heruntergelassen.

Ich hatte einige Mühe, bis ich den richtigen Schlüssel für die Haustür an meinem Schlüsselbund gefunden hatte. Schnell drückte ich die Tür hinter mir wieder zu, damit die reine Luft im Treppenhaus nicht kontaminiert wurde. Schwerfällig stieg ich die Treppenstufen bis zur zweiten Etage hoch. Der Spaziergang hatte seine Spuren an mir hinterlassen. Vor meiner Wohnungstür verschnaufte ich einen Moment, bevor ich sie öffnete und die Wohnung betrat.

»Du hast Besuch«, tönte die Stimme meiner Mutter aus der Küche.

Etwas ratlos blieb ich im Flur stehen. Meine Zimmertür war angelehnt. Ich hatte sie bestimmt zugezogen, als ich mein Zimmer verlassen hatte. Mit kurzen Schritten näherte ich mich dem offenen Spalt meiner Zimmertür. Ich war viel zu erschöpft, um jetzt Besuch empfangen zu können. Vorsichtig drückte ich mit zwei Fingerspitzen meine Zimmertür auf. Da sah ich sie. Sie saß auf der Kante meines Bettes. Neugierig und erwartungsvoll blickte sie mich an. Ich wusste nicht, was sie nun von mir erwartete, meine Lehrerin.

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen«, sagte sie und lächelte mich an. Ich versuchte zurückzulächeln, doch das misslang mir gründlich. Mein Gesichtsausdruck glich wohl eher einer säuerlichen Grimasse.

»Deine Mutter hat gemeint, dass du nicht lange fort sein würdest und hat mir erlaubt, hier auf dich zu warten.«

Ich blieb wie angewurzelt an der Schwelle meiner Zimmertür stehen. Sie war wieder sommerlich gekleidet, mit einem pastellfarbenen Kleid. Sie lehnte sich zurück und stützte sich mit nach hinten gestreckten Händen auf meinem Bett ab. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte und blieb vor ihr stehen.

»Hast du ihr was zum Trinken angeboten?«, hörte ich meine Mutter aus der Küche fragen. »Bei der Hitze muss man viel trinken.«

»Haben Sie Durst?«, fragte ich zaghaft.

»Ein Glas Wasser nehme ich gerne.«

Ich nickte, war aber nicht imstande, das Zimmer zu verlassen.

»Ich dachte, wir nutzen die Ferien und holen gemeinsam deine Wissenslücken nach«, ließ sie mich dann wissen.

»Ich hole das Wasser«, sagte ich schnell und schaffte es nun doch, mich wieder zu bewegen. Schnell ging ich in die Küche und füllte zwei Gläser. Ich fragte mich, von welchen Wissenslücken sie gesprochen hatte, als ich mit den gefüllten Gläsern wieder in mein Zimmer zurückkam. »Ziehen Sie sich auch wieder aus, so wie am Badesee?«, fragte ich sie und stellte die gefüllten Wassergläser auf meinem kleinen Nachttischchen ab.

Es war bereits früher Abend, als sich die Kommissarenwege trennten. Siebels besuchte Familie Bach, Till machte sich auf den Weg zu Familie Batton.

In der Robert-Mayer-Straße wurde Siebels von Frau Bach an der Haustür empfangen. Daniel saß mit seinem Vater im Wohnzimmer. Die beiden hingen ausgelassen über einer Spielekonsole. Weder Vater noch Sohn bemerkten den Besucher, der von der Mutter ins Wohnzimmer geführt wurde.

»Wir haben Besuch«, unterbrach Frau Bach die Spielfreude ihrer Männer. »Das ist Herr Siebels von der Kriminalpolizei.«

Jetzt hatten Siebels und Frau Bach die volle Aufmerksamkeit der Spielgemeinschaft. Vater Bach trug seine schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Programmierer erhob sich vom Fußboden und schaute seine Frau fragend an. »Kriminalpolizei?«

»Ich würde mich gerne kurz mit Ihrem Sohn unterhalten«, bestätigte Siebels und zeigte dem Vater seinen Polizeiausweis.

Jetzt stand auch Daniel auf. Der Junge hatte hellblonde Haare und war definitiv nicht der junge Mann, den die ermordete Lehrerin in ihrem Bett fotografiert hatte.

»Worum geht es?«, fragte Vater Bach und legte einen Arm um seinen Sohn.

»Zunächst um eine reine Routinebefragung.« Siebels wandte sich an Daniel. »Ich müsste wissen, wo du letzte Nacht gegen Mitternacht gewesen bist.«

»Er war natürlich hier«, schaltete sich sein Vater ein. »Was soll das?«

»Ja, ich war hier«, bestätigte Daniel schüchtern. »Nach dem Fußballtraining bin ich direkt nach Hause gefahren.«

»Er kam kurz nach neun hier an. Dann hat er noch etwas gegessen und anschließend haben wir gemeinsam vor dem Fernseher gesessen«, klärte Frau Bach Siebels auf.

Siebels machte sich einige Notizen und wandte sich dann wieder an Daniel. »Du hast dieses Schuljahr die Versetzung nicht geschafft. Woran lag es denn?«

»Was soll das denn jetzt?«, regte sich Vater Bach auf. »Ermitteln Sie jetzt gegen Schüler, die die Versetzung nicht geschafft haben?«

»Nur wenn sie ihre Lehrerin deswegen umbringen«, antwortete Siebels trocken. »Wir ermitteln im Mordfall Verena Jürgens, der Deutschlehrerin von Daniel.«

»Frau Jürgens wurde umgebracht?«, flüsterte Daniel ungläubig. Seine Eltern sahen ihn erschrocken an.

»Leider ja«, bestätigte Siebels.

»Und da fällt Ihnen nichts Besseres ein, als unseren Sohn zu verdächtigen? Nur weil er sitzen geblieben ist?«, schimpfte nun Frau Bach.

»Weil er sitzen geblieben ist und weil der Mörder einen Zettel bei der toten Frau Jürgens zurückgelassen hat. Sitzen geblieben hat auf dem Zettel gestanden.«

»Ach du Scheiße«, stammelte Daniel.

»Das ist schrecklich«, murmelte Frau Bach und streichelte ihrem Sohn übers Haar. »Aber Daniel hat damit nichts zu tun. Er war die ganze letzte Nacht über zuhause. Und die Nächte davor auch. Hat sich die Sache damit für uns erledigt?«

»Fürs Erste, ja. Wahrscheinlich habe ich aber in den nächsten Tagen noch weitere Fragen an Daniel. Haben Sie vor, in den Sommerferien zu verreisen?«

»Ja, das haben wir«, sagte Vater Bach. »Übernächste Woche fahren wir für zwei Wochen nach Südfrankreich.«

Siebels machte sich wieder eine Notiz. Dann holte er sein Smartphone hervor. Er und Till hatten sich das Foto vom Handy der Lehrerin jeweils auf ihr eigenes Smartphone geschickt. Siebels zeigte Daniel jetzt das Foto. »Weißt du, wer das ist?«

Daniel schaute nur kurz auf das Foto. Dann schaute er hilfesuchend zu seinem Vater. Auch der Vater betrachtete sich nun das Foto. »Das ist ein Klassenkamerad von meinem Sohn. Was hat es mit dem Foto auf sich?«

»Das wurde anscheinend im Bett von Frau Jürgens aufgenommen.«

Nun betrachtete sich auch Frau Bach das Foto eingehend. »Das beweist ja nun gar nichts«, sagte sie dann ungerührt.

»Es erweckt nur den Eindruck, als hätte Frau Jürgens ein Verhältnis mit einem Schüler gehabt«, erläuterte Siebels. »Dem müssen wir jetzt natürlich nachgehen. Spätestens morgen werden wir es in der Schule erfahren. Sie können es mir also getrost auch schon jetzt verraten.«

»Das ist Lukas Batton«, kam Frau Bach ihrem Sohn zuvor. Sie wollte verhindern, dass ihr Sohn den Namen seines Freundes verraten musste.

»Wusstest du von der Beziehung?«, fragte Siebels Daniel.

»Das spielt doch wohl keine Rolle.« Herr Bach stellte sich schützend vor seinen Sohn.

»Ob eine Beziehung vorlag, ist anscheinend ja nur Ihre Mutmaßung. Es gibt vielleicht auch eine ganz andere Erklärung für das Foto«, stellte Frau Bach klar.

»Wie wurde sie umgebracht?«, fragte Daniel.

»Dazu darf ich momentan leider noch keine Auskunft geben.«

»Ich mochte sie. Ich habe zwar nur drei Punkte in der Deutschprüfung bei ihr bekommen, aber ich hatte deswegen überhaupt kein Problem mit ihr.«

»Das habe ich in der Schule schon gehört«, verriet Siebels und erntete damit ein erleichtertes Aufatmen der Eltern.

»Kannst du mir sonst noch irgendetwas Hilfreiches sagen? Hatte sie Probleme mit anderen Schülern? Oder mit anderen Lehrern? Oder hat sie sich in letzter Zeit anders benommen als üblich?«

Herr und Frau Bach schienen nun weniger Vorbehalte gegen die Fragen von Siebels zu haben. Der Vater klopfte seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter. »Gibt es da etwas, was die Polizei wissen müsste?«

Daniel druckste erst etwas herum. Sah sich unschlüssig zwischen seinen Eltern um, bevor er wieder Siebels ansah. »Lukas hat bei ihr gewohnt. Seit ungefähr drei Wochen. Es sollte nur vorübergehend sein. Spätestens nach den Ferien wollte er was anderes gefunden haben. Er hat Stress mit seinen Eltern, müssen Sie wissen.«

Die Wohnung von Familie Batton befand sich im zweiten Stockwerk in einem Mehrfamilienhaus in der Feuerbachstraße im Westend. Im Erdgeschoss lag die Zahnarztpraxis von Robert Batton. Till hatte das Ehepaar bei einem lautstarken Streit gestört. Nun stand er im Wohnzimmer und versuchte rauszufinden, wo sich Lukas Batton befand.

»Dem hat es bei uns nicht mehr gefallen«, sagte Robert Batton unwirsch.

»Du hast ihn aus dem Haus geekelt«, verbesserte Monika Batton seine Aussage.

»Ich? Da verwechselst du was, meine Liebe. Dein ewiges Gezeter wegen seiner Unordnung hat ihn doch immer zur Weißglut getrieben.«

Monika Batton stemmte die Hände in die Hüften und baute sich kampfeslustig vor ihrem Mann auf. »Dass ich nicht lache. Er hatte es einfach satt, von dir immer nur als Träumer und Spinner und Faulpelz beschimpft zu werden. Du hast doch immer noch nicht kapiert, wie sensibel und feinfühlig dein Sohn ist.«

Till fragte sich, was die Patienten auf dem Zahnarztstuhl von Robert Batton durchmachen mussten, wenn seine Frau ihm assistierte. »Er wohnt hier also nicht mehr?«, fragte er dann leicht genervt.

»Vor drei Wochen hat er seine Sachen gepackt«, sagte Monika Batton.

»Und wo hat er sie wieder ausgepackt?«

»Vermutlich bei einem Freund. Genau weiß ich es auch nicht. Aber er geht regelmäßig zur Schule, deswegen stehe ich in ständigem Kontakt mit seiner Lehrerin.«

»Mit Frau Jürgens?«

»Nein, mit Frau Jäger. Sie unterrichtet Physik. Das ist sein Leistungsfach. Warum fragen Sie?«

Till berichtete in Kurzform von dem Mord an Frau Jürgens.

»Das ist ja furchtbar«, schrie Monika Batton auf.

»Sie verdächtigen doch nicht etwa Lukas?«, fragte Robert Batton pragmatisch.

»Ich würde ihm jedenfalls gerne ein paar Fragen stellen, aber dazu müsste ich wissen, wo er sich aufhält.«

»Morgen ist der letzte Schultag. Da werden Sie ihn bestimmt antreffen. Sagen Sie ihm, dass er sich hier mal wieder blicken lassen soll. Es gibt einiges zu besprechen.«

Till zeigte nun auch das Foto vom Handy der Lehrerin. »Ist das Lukas?«

Monika Batton schaute sich das Bild zuerst an. »Ja, das ist er. Wo ist er da?«

»Bei seiner Lehrerin. Bei Frau Jürgens.«

»Bei der, die jetzt ermordet wurde?« Monika Batton wurde kreideweiß im Gesicht. »In was ist er da nur reingeschlittert?«

»Zeig mal«, forderte ihr Mann sie auf.

Monika Batton gab ihrem Mann das Smartphone. »Wurde sie in ihrer Wohnung umgebracht?«, wollte sie wissen.

Till bestätigte das.

»Wie?«, fragte Monika Batton leise.

»Dazu kann ich noch keine Auskunft geben.«

»Wie alt war sie?«, wollte Robert Batton wissen und gab Till das Smartphone zurück.

»Anfang dreißig.«

Lukas‹ Vater nickte anerkennend. »Sah sie gut aus?«

»Unser Sohn steht scheinbar unter Mordverdacht«, fauchte Monika Batton und schlug ihrem Mann wütend gegen die Brust.

»Mein Sohn ist mit Sicherheit kein Mörder. Er kann nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun. Sehen Sie sich doch das Foto an. Das ist gut getroffen. Er ist ein Träumer.«

»Er hat die Versetzung ins nächste Schuljahr nicht geschafft«, merkte Till an.

»Ja, ja, ich weiß«, winkte Robert Batton ab. »Dafür war sein Auszug hier wohl zu spät. Meine Frau und ich streiten uns schon seit einiger Zeit. Das war für Lukas leider nicht einfach.«

»Wir streiten wegen der Scheidung«, ergänzte Monika Batton.

»Wir arbeiten nämlich auch zusammen. Unten, in meiner Zahnarztpraxis«, erklärte Robert Batton.

»In unserer Zahnarztpraxis«, stellte Monika Batton klar.

»Es ist meine Praxis«, zischte Robert Batton wütend.

»Die Hälfte davon, wenn überhaupt«, kam sofort Widerspruch.

Till konnte sich vorstellen, was Lukas hier durchgemacht hatte. »Sie sollten sich jetzt um Ihren Sohn kümmern. Er hat jetzt keine Bleibe mehr. Außerdem ist er vielleicht in einen Mordfall verwickelt. Ich werde versuchen, ihn morgen in der Schule zu befragen. Wenn er keinen festen Wohnsitz hat, müssen wir ihn vielleicht in Untersuchungshaft stecken.«

»Ich ziehe vorübergehend in ein Hotel. Sagen Sie ihm das bitte. Er kann dann hier in aller Ruhe mit seiner Mutter wohnen, bis wir eine andere Lösung gefunden haben.«

»Ich werde es ihm ausrichten«, versprach Till.

»Stecken Sie ihn ja nicht in den Knast«, schluchzte Monika Batton.

Till nickte. Er wollte keine falschen Versprechungen machen.

Freitag, 6. Juli 2013

Siebels war wie gewöhnlich vor Till im Büro. Um kurz nach sieben saß er an seinem Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Während die Kaffeemaschine ihre Arbeit verrichtete, prüfte Siebels den Posteingang seiner E-Mails. Der Fotograf hatte ihm gestern Abend noch einen Link gesendet, auf dem die Fotos vom Tatort im internen System hinterlegt waren. Siebels klickte sich in das Verzeichnis. 49 Bilder gab es dort. Siebels öffnete eines nach dem anderen. Auf den meisten Bildern war die auf dem Stuhl festgeklebte Leiche von Verena Jürgens zu sehen. Von hinten, von vorne, von der Seite und aus allen möglichen Blickwinkeln. Dazu gab es Nahaufnahmen von den am Stuhl mit Paketklebeband fixierten Armen und Beinen des Opfers sowie von der verstopften Nase. Mehrere Fotos dokumentierten den handgeschriebenen Zettel auf dem Schoß der Toten. Sitzen geblieben. Außerdem gab es noch Fotos von den anderen Zimmern, vom Treppenhaus und von der Außenfassade des Hauses in der Diesterwegstraße. Siebels druckte drei Fotos aus. Zwei Fotos, die Verena Jürgens aus verschiedenen Blickwinkeln auf dem Stuhl zeigten und eine Nahaufnahme von dem Papier auf ihrem Schoß. Während der Drucker druckte, goss sich Siebels den ersten Kaffee des Tages ein. Dann heftete er die ausgedruckten Fotos an die bis dahin leere Pinnwand. Mit der Kaffeetasse in der Hand setzte er sich vor den Fotos auf seinen Stuhl, trank bedächtig seinen Kaffee und ließ die Bilder auf sich einwirken.

»Guten Morgen«, grüßte Till und stellte sich neben Siebels vor die Fotowand. »Und, was sagt dein Bauchgefühl zum neuen Fall?«

»Guten Morgen. Mein Bauchgefühl sagt: Hunger. Sonst nix.«

Till legte seinen Motorradhelm ab und verstaute seine Jacke im Schrank. Anschließend kramte er Handy und Festplatte von Frau Jürgens aus seinem Rucksack. »Ich bringe den Kram erst mal zu Charly und gehe auf dem Rückweg in die Kantine. Wonach verlangt dein Bauch?«

»Frikadellenbrötchen mit Senf. Zwei Stück.«

Nachdem Till sich auf den Weg gemacht hatte, setzte Siebels sich an seinen Schreibtisch und beschrieb ein Blatt Papier mit den ersten Informationen zum Opfer. Verena Jürgens, 32 Jahre, Lehrerin für Deutsch und Geschichte in der Oberstufe am Sigmund-Freud-Gymnasium. Wohnhaft in der Diesterwegstraße in Sachsenhausen. Ledig. Aktuell zwei Schüler, die sitzen geblieben sind: Daniel Bach, 17 Jahre, Alibi: Befand sich zur Tatzeit in elterlicher Wohnung in Anwesenheit der Eltern. Lukas Batton, 17 Jahre. Alibi:?

Siebels nahm den Zettel, heftete ihn zu den Fotos an der Pinnwand und war gespannt, was Till von seinem Besuch bei Familie Batton berichten würde.

Charly Hofmeier war der IT-Experte im Frankfurter Polizeipräsidium und unterstützte Siebels und Till bei deren Arbeit mit seinen Fachkenntnissen. Als Till sein Büro betrat, warf Charly gerade einen Pfeil auf seine Dartscheibe.

»Hi, Charly.«

»Ach, der Till. Hab gehört, ihr habt eine tote Lehrerin und macht jetzt Jagd auf fiese Schüler.«

»Du bist ja bestens informiert. Wer ist der Maulwurf?«

»Deine Herzallerliebste. Ich habe Anna gestern in der Gerichtsmedizin getroffen.«

Till setzte sich auf den Stuhl von Charly und beobachtete ihn bei seinen Pfeilwürfen auf die Dartscheibe. »Was treibt dich denn in die Gerichtsmedizin?«

»Die Leichenfledderer hatten einen Systemabsturz. Annas Computer hatte schon Verwesungserscheinungen. Ich konnte Anna gerade noch daran hindern, den Rechner mit einem Y-Schnitt zu öffnen und die Innereien herauszuholen. Sie war schon ganz gierig auf eine blutige Grafikkarte.« Charly lachte über seinen Witz und warf den nächsten Pfeil.

»Ich habe dir die Innereien vom Computer der Lehrerin mitgebracht. Und ihr Handy. Wir sind besonders an Informationen über fiese Schüler interessiert.« Till zeigte Charly das Foto auf dem Handy. »Das ist einer der Schüler. Kannst du mir das Bild noch schnell ausdrucken?«

Charly nickte und betrachtete sich das Foto. »Schaut aber gar nicht fies aus, der Knabe. Eher unschuldig.«

»Liegt aber im Bett seiner Lehrerin, der unschuldige Knabe.«

»Ts, ts, ts. Davon habe ich früher auch immer geträumt.«

»Sie hat Informatik unterrichtet, stimmt’s?«

»Quatsch. Das gab es zu meiner Schulzeit doch noch gar nicht. Es war die Kunstlehrerin.« Charly seufzte theatralisch, setzte sich mit dem Handy an seinen Computer, lud das Bild herunter und druckte es aus.

»Tut mir leid, wenn ich jetzt alte Wunden aufgerissen habe«, sagte Till mitfühlend und tätschelte Charly an der Schulter.

»Alle Jungs haben von ihr geträumt«, sinnierte Charly.

»Was für eine Note hattest du denn in Kunst?«

»Eine fünf. Aber die habe ich gerne von ihr genommen. Und jetzt nimm deinen Ausdruck und hau ab. Ich muss was arbeiten.«

»Darf ich noch einen Pfeil auf die Scheibe werfen?«

»Nein!«

»Dann halt nicht. So winzige Einwurflöcher sind eh nur was für Weicheier.«

Charly nahm einen Pfeil und zielte damit auf Till. »Man würde es kaum sehen, so ein winziges Einwurfloch in deiner Stirn.«

Till schnappte sich den Fotoausdruck und verließ ohne weitere Widerworte Charlys Büro. Nachdem er vor einiger Zeit sämtliche Pfeile an der Scheibe vorbei gegen die Wand geworfen hatte, hatte Charly dermaßen über ihn gelästert, dass er mit seiner Dienstwaffe auf die Scheibe gezielt hatte. Sein ernster Gesichtsausdruck bei dieser Aktion hatte Charly tatsächlich eingeschüchtert. Seitdem war die Dartscheibe ein Tabu für Till. Anstatt Pfeile auf Charlys Scheibe zu werfen, angelte er Frikadellenbrötchen aus der Frühstückstheke der Kantine und machte sich damit auf den Weg zurück ins Büro.

Auf dem Stuhl vor der Pinnwand saß jetzt Staatsanwalt Jensen. Er beugte sich ganz nah an die Fotos und rieb sich mit der Fingerspitze über die geschlossenen Lippen.

»Heute ist der letzte Schultag vor den Sommerferien. Dann könnte es schwierig werden mit den Ermittlungen«, erläuterte Siebels von seinem Schreibtisch aus.

»Zweimal Frikadellenbrötchen mit Senf macht vier Euro«, sagte Till und lud die Bestellung auf Siebels‹ Schreibtisch ab.

»Pattexkleber in die Nasenlöcher«, murmelte der Staatsanwalt. »Ob er ihr die Nase zuhalten musste, damit das Zeug drinnen blieb?«

Till holte eine Tube Uhu aus seinem Schreibtisch. »Möchten Sie es ausprobieren, Herr Staatsanwalt?«

Jensen blickte auf die Uhutube in der Hand von Till. »Laut Gerichtsmedizin handelt es sich um Pattexkleber, nicht um Uhu. Pattex Sekunden-Alleskleber Ultra Gel von Henkel, um genau zu sein. Besorgen Sie sich mal eine Tube von dem Zeug und machen Sie einen Selbstversuch. Das könnte hilfreich für die Ermittlungen sein. Aber kleben Sie sich dabei kein Paketband über den Mund.«

Till blickte ungläubig von Staatsanwalt Jensen zu Siebels. Der kaute gerade auf seinem Frikadellenbrötchen herum. »Anna weiß ja jetzt bestimmt, wie man das Zeug wieder aus der Nase rausbekommt«, sagte er etwas undeutlich mit vollem Mund.

»Für Selbstversuche stehe ich leider nicht zur Verfügung. Überlegen wir uns lieber, ob es für den Klebertod einen bestimmten Grund geben könnte.«

»Das ist eine unblutige Sache«, überlegte Siebels laut.

Jensen hing noch konzentriert vor den Fotos. »Er musste ihr die Nase bestimmt zuhalten. Mit dem verschlossenen Mund musste sie ja mit vollem Druck über die Nase ausatmen. Da wäre das Zeug wieder rausgekommen.«

»Sie musste aber auch über die Nase einatmen und hat sich das Zeug dabei vielleicht immer tiefer in die Nasenhöhle gezogen«, gab Siebels zu bedenken.

Jensen sprang von dem Stuhl auf. »Wie auch immer, passen Sie bloß auf, dass jetzt nicht alle Verdächtigen für sechs Wochen in den Sommerurlaub verschwinden. Der Fall muss schnellstens gelöst werden, sonst spekuliert uns die Presse im Sommerloch die abenteuerlichsten Dinge zusammen.«

Till ging zur Pinnwand und heftete das Foto vom schlafenden Lukas Batton dazu.

»Was ist das?«, erkundigte sich Jensen, der schon auf der Türschwelle stand.

Till erklärte es ihm.

»Er hat bei ihr gewohnt?«, fragte Jensen dann argwöhnisch nach.

»Vorübergehend«, bestätigte Till.

»Und die hatten was miteinander?«

Till zuckte mit den Schultern. »Das ist noch unklar. Vielleicht hat sie auch auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen?«

»Aber warum hat sie ihn dann im Bett fotografiert?«, überlegte Siebels.

Till zuckte mit den Schultern. »Vielleicht als Andenken. Weil er so süß ist? Komm, fahren wir in die Schule und fragen ihn selbst.«

»Ich erwarte umgehend einen ersten Bericht«, verlangte Jensen und verließ das Büro.

Die tödlichen Gedanken

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