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Mein Lehrerinnenbuch

Meine Lehrerin hatte sich nicht ausgezogen. Stattdessen war meine Mutter ins Zimmer gekommen. Sie kommt sonst nur morgens in mein Zimmer, um mich zu wecken. Ich schlafe immer so fest. Sie kam in ihrer Küchenschürze in mein Zimmer und hatte Apfelstrudel dabei. Den hatte sie selbst gebacken. Meine Lehrerin wollte aber keinen Apfelstrudel und ich hatte auch keinen Appetit. Mutter ist trotzdem im Zimmer geblieben und hat meiner Lehrerin dummes Zeug erzählt. Dass ich als Dreijähriger im hohen Bogen von der Schaukel gefallen und mit dem Kopf an einem Baumstamm gelandet sei. Seitdem wäre ich etwas phlegmatisch. Meine Lehrerin wollte wissen, ob mich denn jemand angeschubst hätte, auf der Schaukel. Ich schüttelte mit dem Kopf. Aber Mutter plauderte eifrig weiter. Mein Vater, der Taugenichts, hätte mich viel zu kräftig angeschubst. Schließlich war ich ja erst drei. Ob mein Vater nun auf der Arbeit sei, erkundigte sich meine Lehrerin. Nein, der liege in seinem Grab, Gott habe ihn selig, ließ Mutter sie wissen. Meine Lehrerin sah mich traurig an. Wie alt ich da wohl gewesen sei? Sechs war er, beeilte sich meine Mutter mit der Antwort. Und berichtete auch gleich, dass Vater sich vor den Zug geworfen hatte. Sie hätte ihn identifizieren müssen. Jedenfalls die Einzelteile von ihm, die man auf dem Gleisbett zusammengetragen hatte. Ob es wohl einen Grund für diesen schrecklichen Freitod gab, erkundigte sich meine Lehrerin mit viel Mitgefühl. So ganz ohne Grund springt ja keiner vor den Zug, gab Mutter zu bedenken und hatte damit wohl ausnahmsweise mal recht. Den genauen Grund kannte sie aber auch nicht. Einen Abschiedsbrief hatte Vater nicht hinterlassen. Vielleicht kam ihm die Idee ja ganz spontan? Mutter war da aber anderer Ansicht. Vater wurde verfolgt. Er wollte uns beschützen, deswegen hat er darüber nicht gesprochen. Und auch nicht geschrieben. Aber er hatte Angst gehabt. Ganz große Angst sogar, versicherte meine Mutter der Lehrerin. Aber das spiele ja nun auch alles gar keine Rolle mehr. Der Zug hatte ihn frontal erwischt und seither erzog Mutter mich alleine. Jedenfalls war ich seitdem nicht mehr von der Schaukel gefallen.

Glücklicherweise verließ Mutter dann doch wieder mein Zimmer. Im Fernsehen begann eine der Serien, die sie so gerne verfolgte.

»Hast du auch manchmal so Gedanken?«, fragte meine Lehrerin sorgenvoll.

»Was für Gedanken?«

»Vor den Zug zu springen.« Sie sprach ganz leise.

Ich schüttelte den Kopf. »Wollen Sie sich wirklich nicht ausziehen?«, fragte ich sicherheitshalber noch mal nach.

Sie lächelte mich an und strich mir zärtlich übers Haar. Aber ausziehen wollte sie sich nicht.

»Ich muss wieder los«, sagte sie wehmutsvoll. »Wenn wir uns wiedersehen, erzählst du mir ein wenig von deinem Vater, ja?«

Ich nickte. Obwohl ich wusste, dass das kein gutes Licht auf mich werfen würde.

Als Siebels und Till über den Schulhof liefen, trafen sie auf Sybille Jäger. Die Biologielehrerin stand mit zwei Schülerinnen vor dem Haupteingang zur Schule. An den betroffenen Gesichtern war unschwer abzulesen, worüber gerade gesprochen wurde.

»Geht es Ihnen wieder etwas besser?«, erkundigte sich Siebels bei der Lehrerin. Frau Jäger nickte schwermütig.

»Bei den Schülerinnen und Schülern hat es sich schon herumgesprochen. Alle sind fassungslos. Wir versammeln uns in einer Stunde in der Aula.«

»Haben Sie Lukas Batton heute schon gesehen?«, fragte Till.

Frau Jäger überlegte einen Moment, schüttelte dabei aber den Kopf. »Nein, noch nicht.«

»Wir gehen jetzt ins Büro der Oberstufenleitung. Falls Ihnen Lukas über den Weg läuft, schicken Sie ihn doch bitte dorthin«, bat Siebels.

Sie ließen die Lehrerin wieder mit ihren Schülerinnen allein und betraten das Schulgebäude. Vereinzelt saßen Schüler gelangweilt in den Gängen herum. Unterricht fand anscheinend keiner mehr statt, am letzten Tag vor den großen Ferien.

Die Oberstufenleiterin trug ein schwarzes Kleid. »Die Schüler sind alle in Ferienstimmung. Wie soll ich aus dem letzten Schultag einen Trauertag machen?«, fragte sie.

»Es gibt gleich eine Versammlung, habe ich gehört.« Siebels spürte, dass damit eine große Last auf den Schultern der Oberstufenleiterin lag.

»Ja. Es wäre gut, wenn Sie auch da sein könnten. Vielleicht kann Ihnen von den Schülern oder den Lehrern noch jemand etwas Wichtiges mitteilen.«

»Ja, wir werden da sein und anschließend zur Verfügung stehen, falls jemand etwas zu sagen hat.«

Die Oberstufenleiterin reichte Siebels eine ausgedruckte Textdatei. »Das sind die Informationen zu den Problemschülern, die in den letzten Jahren eine Klasse wiederholen mussten. Ich habe mich auf die Schüler beschränkt, bei denen die Benotung von Frau Jürgens Anteil an der Nichtversetzung hatte.«

Siebels nahm das Blatt Papier entgegen und las:

Norbert Stoll, nicht versetzt im Sommer 2011. Hat anschließend die Schulausbildung abgebrochen. Probleme im Elternhaus.

Jessica Gruber, nicht versetzt im Sommer 2010. Im Sommer 2011 die Oberstufe ohne Abschluss verlassen. Drogenprobleme, Probleme im Elternhaus. Jessica Gruber hat eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen.

Abdul Ökuz, nicht versetzt im Sommer 2010. Hat anschließend die Schulausbildung abgebrochen. Mehrere Vorstrafen wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung.

Tina Maurer, nicht versetzt im Sommer 2009. Hat die Klasse wiederholt und 2011 erfolgreich das Abitur bestanden.

Jens Gärtner, nicht versetzt im Sommer 2010. Erhebliche Probleme im schulischen Umfeld (Prügeleien mit Mitschülern, Drogenmissbrauch, etc.) Hat im Schuljahr 2011 kurz vor den Abiturprüfungen die Schule ohne Abschluss verlassen. Probleme im Elternhaus.

Jana Kunz, nicht versetzt im Sommer 2008. Hat anschließend das Gymnasium gewechselt. Übergang zur Max-Beckmann-Schule. Beide Elternteile 2005 bei Autounfall tödlich verunglückt. Jana Kunz wurde von ihrer Großmutter aufgenommen.

»Schicksale«, murmelte Siebels vor sich hin und reichte Till die Liste. »Tina Maurer können wir wohl streichen, wenn sie ihr Abitur schlussendlich doch in der Tasche hatte. Oder spricht etwas dagegen?«

»Ich habe sie nur der Vollständigkeit halber auf die Liste gesetzt. Soweit ich weiß, studiert sie jetzt auch. Die anderen beiden Damen erscheinen mir auch keine geeigneten Kandidaten zu sein. Jana Kunz hatte nach dem Verlust ihrer Eltern verständlicherweise erhebliche Probleme mit ihrer Schulausbildung. Wie es mit ihr in der Max-Beckmann-Schule weitergegangen ist, weiß ich leider nicht. Jessica Gruber hatte auch ein problematisches Elternhaus. Ihre schulischen Probleme begannen nicht erst in der Oberstufe, sie hat sich seit der fünften Klasse mehr schlecht als recht durchgewurschtelt. Dass sie abgebrochen und eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen hat, war für sie eher von Vorteil. Sie ist in der Schule durch Drogenkonsum aufgefallen. Wahrscheinlich war sie dem Leistungsdruck nicht gewachsen.«

Till hatte sich jetzt auch mit der Liste vertraut gemacht. »Die männlichen Kandidaten scheinen mit einem gewissen Aggressionspotential ausgestattet zu sein. Allerdings habe ich ein Problem mit der Art und Weise, wie Frau Jürgens umgebracht wurde.« Siebels setzte die Oberstufenleiterin über die genaueren Todesumstände ihrer Kollegin ins Bild.

»Einem Abdul Ökuz oder Jens Gärtner würde ich eher ein Messer als Tatwaffe zutrauen«, spekulierte Till. »Klebstoff als Mordwaffe, das klingt in meinen Ohren nach einer Täterin.«

»Norbert Stoll war eher ein verbaler Draufgänger«, erinnerte sich die Oberstufenleiterin. »Zu Gewalt neigte er nicht. Aber er war hinterlistig und unberechenbar. Also bei ihm würde ich eher auf Klebstoff als auf ein Messer tippen. Ehrlich gesagt, war ich sehr froh, als er die Schule verlassen hat. Aber ich möchte um Himmels willen keine falschen Anschuldigungen erheben.«

»Wir sind Ihnen für Ihre Hinweise sehr dankbar. Alles andere können Sie uns überlassen. Es kommt niemand zu Schaden, der mit der Sache nichts zu tun hat, darauf können Sie sich verlassen«, beruhigte Siebels seine Gesprächspartnerin.

»Würden Sie mich bitte noch einen Moment allein lassen, bevor ich die Versammlung eröffne. Ich muss noch mal in mich gehen und mir die richtigen Worte zurechtlegen.«

Siebels und Till verließen das Schulgelände. Siebels zündete sich am Straßenrand eine Zigarette an. Till beobachtete die Schüler, die nun in größeren Grüppchen von allen Richtungen zur Schule trotteten. Aus dem Schultor heraus kam Frau Jäger in Begleitung eines Schülers. Till erkannte in dem dunkelhaarigen Jungen den Schläfer aus dem Bett der Lehrerin. Lukas Batton. Er machte Siebels auf die beiden aufmerksam. Lukas schaute betreten zu Boden, als er mit Frau Jäger vor den Beamten stand.

»Das ist Lukas Batton«, stellte Frau Jäger ihn vor.

»Hallo, Lukas«, begrüßte Siebels ihn betont freundlich.

»Hallo«, sagte Lukas schüchtern und schaute hilfesuchend zu seiner Biologielehrerin.

»Hallo«, begrüßte ihn auch Till. »Ich war gestern Abend bei deinen Eltern.«

Lukas bedachte Till mit einem skeptischen Blick.

»Würden Sie uns einen Moment allein mit Lukas sprechen lassen«, bat Siebels Frau Jäger.

Nachdem Frau Jäger sich zurück auf den Schulhof begeben hatte, und von dort aus das Geschehen um Lukas beobachtete, kam Siebels gleich zur Sache.

»Du weißt ja bestimmt schon, was gestern Nacht passiert ist.«

»Ja. Daniel hat mich angerufen, nachdem Sie bei ihm waren. Und Frau Jäger hat es mir vorhin auch erzählt.«

»Weiß Frau Jäger auch, dass du seit einigen Wochen bei Frau Jürgens gewohnt hast?«

Lukas schüttelte den Kopf. »Nein, außer Daniel wusste das niemand.«

»Hast du sie umgebracht?«, fragte Till geradeheraus.

Lukas bekam einen verängstigten Gesichtsausdruck. »Nein. Natürlich nicht.«

»Wo bist du denn gewesen, als es passiert ist?«, wollte Siebels wissen.

»Muss ich das sagen?« Lukas klang verzweifelt.

»Besser wäre das«, erklärte ihm Till. »Sonst müssen wir davon ausgehen, dass du sie umgebracht hast. Du hast bei ihr gewohnt, es gibt keine Einbruchspuren, sie wurde in ihrer Wohnung getötet. Was würdest du an unserer Stelle wohl darüber denken?«

»Sie war eine tolle Lehrerin. Sie hat versucht mir zu helfen, weil ich zuhause so viel Stress mit meinen Eltern habe«, holte Lukas zu einer Erklärung aus.

»Das ist aber nicht die Antwort auf die Frage«, erwiderte Till.

Lukas blickte starr auf seine Füße, als er antwortete. »Ich habe die letzte Nacht bei Frau Kremer verbracht. Das ist unsere Kunstlehrerin.«

Siebels pfiff leise durch die Zähne und Till freute sich schon darauf, diese Neuigkeiten an Charly weiterzugeben.

»Hast du gleich mit zwei Lehrerinnen was laufen?«, fragte Siebels erstaunt.

»Nein, so ist das nicht«, wehrte Lukas ab. »Dagmar, also Frau Kremer, und Frau Jürgens sind ganz gut befreundet. Frau Jürgens hatte mich ja ursprünglich nur mal für eine Nacht bei sich wohnen lassen. Das war, als ich von zuhause abgehauen bin. Daraus sind dann ein paar Wochen geworden. Frau Jürgens hat das irgendwann Frau Kremer erzählt. Sie hat Angst bekommen, dass das rauskommt. Frau Kremer hat dann angeboten, mich auch für einige Nächte aufzunehmen, damit das nicht so auffällt bei Frau Jürgens.«

»Ist Frau Kremer heute hier?«, hakte Siebels nach.

Lukas nickte. »Sie wollte kurz nach mir aus dem Haus gehen und müsste jetzt bald kommen.«

»Jetzt mal unter uns«, stieß Till ihn kumpelhaft an. »Da ist nix gelaufen zwischen dir und deinen Lehrerinnen? Oder doch?«

»Das geht Sie doch gar nichts an«, schimpfte Lukas und wollte wieder zurück auf das Schulgelände.

»Einen Moment noch«, hielt Till ihn zurück. »Einen schönen Gruß von deinem Vater soll ich ausrichten. Er wohnt ab heute im Hotel und möchte dich bei deiner Mutter zuhause wissen. Und ich würde dir raten, seinen Wunsch zu erfüllen. Jedenfalls solange wir am Ermitteln sind. Wäre nicht so gut, wenn das jetzt rauskommst, was du so treibst. Verstehst du mich?«

»Ist jetzt eh egal. Das Schuljahr ist rum und ich bin sitzen geblieben. Da kann ich mir in den Sommerferien auch den Streit meiner Eltern antun.«

»Nach der Versammlung müssen wir uns noch mal unterhalten«, sagte Siebels. »Und dann bringen wir dich nach Hause.«

»Vielleicht hat er ja mit seiner Kunstlehrerin gemeinsame Sache gemacht«, schlug Till vor, nachdem Lukas wieder außer Hörweite war.

»Böses Beziehungsdrama zwischen Schüler und zwei Lehrerinnen«, konstatierte Siebels zweifelnd.

»Ein Nasenloch hat die Kunstlehrerin zugeklebt, das andere Lukas«, baute Till seine nicht ganz ernst gemeinte Theorie weiter aus.

»Ist vielleicht gar nicht so abwegig, der Gedanke«, überlegte Siebels jetzt nachdenklich.

»Meinst du?« Jetzt wurde auch Till nachdenklich.

»Lass uns hoch in die Aula gehen. Es geht gleich los.«

Siebels und Till folgten den Schülerströmen über den Schulhof und das Treppenhaus hinauf in die Aula. Der Saal füllte sich schnell. Die Lehrerschaft hatte sich links und rechts vom Pult verteilt, an dem der Schulleiter mit der Oberstufenleiterin noch beratschlagte. Siebels und Till begaben sich hinter die letzte Stuhlreihe. Sie wollten alles im Überblick haben.

Der Schulleiter eröffnete die Veranstaltung mit einigen wenigen Sätzen und übergab das Wort dann an die Oberstufenleiterin. Diese hielt einen bewegenden Nachruf auf Verena Jürgens und brachte mit ihrer emotionalen Ansprache nicht wenige Schüler und Lehrer zum Weinen. Verena Jürgens schien bei Kollegen wie Schülern sehr beliebt gewesen zu sein. Nachdem sie ihre Abschiedsrede beendet hatte, verwies sie auf die Herren Steffen Siebels und Till Krüger von der Frankfurter Mordkommission, die für Hinweise nun zur Verfügung stehen würden. Siebels ging nach vorne und stellte sich auch noch persönlich vor.

»Falls Frau Jürgens irgendjemandem von Ihnen Andeutungen gemacht hat, dass sie sich bedroht oder auch nur beobachtet fühlte, sprechen Sie mich oder meinen Kollegen bitte an. Heute ist der letzte Schultag und viele von Ihnen werden nun in den Urlaub fahren. Daher zögern Sie bitte nicht, uns anzusprechen, wenn Sie es auch nur für etwas Belangloses halten. Manchmal führen auch viele kleine Hinweise zu neuen Erkenntnissen. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.« Siebels ging an die große Tafel hinter dem Rednerpult und schrieb Namen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen von sich und Till mit weißer Kreide darauf. Siebels blieb vor der Tafel stehen, als die Versammlung sich auflöste. Es ging zu wie auf einem Ameisenhaufen. Zusehends wurde es leerer in der Aula. Sybille Jäger gesellte sich zu ihm.

»Konnte Lukas Ihnen behilflich sein?«, erkundigte sich die Biologielehrerin.

»Das konnte er in der Tat. Wir bringen ihn nachher zu seiner Mutter. Sagen Sie, können Sie mich Frau Kremer vorstellen. Der Kunstlehrerin?«

»Dagmar? Ja, natürlich. Sie steht dort drüben.« Sybille Jäger zeigte auf eine schlanke Kollegin mit dunklem, langem Haar.

Siebels ging zu der Frau, die sich mit einem Kollegen unterhielt. Ihre blauen Augen funkelten temperamentvoll. Als Siebels sich zu ihnen gesellte, streckte der Gesprächspartner von Frau Kremer ihm die Hand entgegen.

»Ich unterrichte Englisch und Französisch. Mein Name ist Hans-Joachim Gerster. Ich wäre jetzt auch gleich zu Ihnen gekommen. Es ist wegen einem ehemaligen Schüler. Ich habe da so ein ungutes Gefühl.«

»Wie heißt er denn?«

»Norbert. Norbert Stoll. Er war ein sehr merkwürdiger Schüler. Sehr verschlossen. Aber auch hinterlistig. Er hat mir mal vor Unterrichtbeginn den Lehrerstuhl mit Alleskleber bestrichen. Ich habe eine Zeitlang gesessen, bevor ich es bemerkte. Ich musste meine Hose zerreißen, um von dem Stuhl runterzukommen.«

»Klingt nach einem Schülerstreich, wie er häufiger vorkommt«, wiegelte Siebels zunächst ab. Der Englischlehrer kam ihm sehr wichtigtuerisch vor.

»Die ganze Klasse hat sich kaputtgelacht. Nur der Norbert nicht. Der saß regungslos auf seinem Platz. Hat keine Miene verzogen. Er war mir unheimlich.«

»Woher wissen Sie, dass er den Klebstoff auf Ihrem Stuhl angebracht hat?«

»Das haben mir später andere Schüler erzählt. Norbert war trotz solcher Streiche bei seinen Mitschülern nicht sehr beliebt, müssen Sie wissen.«

»Wir haben schon von ihm gehört und werden ihn umgehend aufsuchen und befragen. Vielen Dank für Ihre Mithilfe.« Siebels schaute nach Till. Der stand immer noch am hinteren Ende des Raumes und unterhielt sich mit einer Schülerin. Siebels wendete sich an die Kunstlehrerin. »Sie sind Frau Kremer?«

»Ja, das bin ich. Ich unterrichte Kunst und Ethik.«

»Können wir uns irgendwo ungestört unter vier Augen unterhalten?«

Der Englischlehrer schaute seine Kollegin neugierig an. Doch die ignorierte ihn und ging mit Siebels nach draußen, runter auf den Schulhof, wo sie sich eine stille Ecke suchten.

Till hatte etwas unschlüssig an seinem Platz verharrt und zugeschaut, wie die Schülerinnen und Schüler nach und nach den Raum verließen. Bald stand er fast alleine da, als eine Schülerin auf ihn zukam. Sie hatte lange kastanienbraune Haare, war schlank und groß und trug ein unauffälliges Piercing in der Nasenwand.

»Hallo, ich heiße Nora«, stellte sie sich vor. »Ich bin im Deutschkurs von Frau Jürgens.«

»Ich bin der Till«, stellte Till sich kumpelhaft vor und das schien bei Nora gut anzukommen.

»Till der Hauptkommissar«, lächelte Nora ihn verlegen an.

»Nein, nur der Oberkriminalkommissar«, korrigierte sie Till. »Der Hauptkommissar ist mein Kollege da vorne.« Till deutete auf Siebels.

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, befand Nora. »Es gibt da etwas, was ich Ihnen sagen wollte.«

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Till, der sich geschmeichelt fühlte.

»Vor ein paar Tagen war ich im Lehrerzimmer. Da habe ich zufällig einen Streit mit angehört. Zwischen Frau Jürgens und Herrn Gerster. Der unterrichtet hier Englisch und Französisch. Er ist schon seit längerer Zeit scharf auf Frau Jürgens gewesen, aber die hat ihn immer abblitzen lassen. Ist auch ein ekliger Typ.«

»Und worum ging es bei dem Streit?«

»Er hat ihr vorgeworfen, etwas mit einem Schüler zu haben. Mit Lukas, um genau zu sein. Mehr habe ich leider nicht mitbekommen. Frau Jürgens hat ihn jedenfalls zur Schnecke gemacht und er ist mit eingezogenem Schwanz abgedampft. Er steht übrigens gerade da drüben und spricht mit dem Kriminalhauptkommissar.«

»Du magst ihn nicht, oder?«

»Den mag niemand wirklich. Ich muss jetzt auch los. Tschüss.«

»Gibst du mir deine Telefonnummer? Falls ich noch Fragen habe?«

Nora gab Till ihre Handynummer und schaute dabei zu ihrem Englischlehrer, der sein Gespräch mit Siebels gerade beendet hatte.

»Lukas hat die letzten Nächte bei Ihnen verbracht?«, kam Siebels direkt zum Thema. Die sommersprossige Kunstlehrerin nickte.

»Ja, aber es wäre gut, wenn sich das in der Schule nicht herumspricht.«

»Das kann ich mir denken. Vorletzte Nacht war er also definitiv bei Ihnen zuhause, zwischen 23.00 und 1.00 Uhr?«

»Ganz sicher. Gegen 22.00 Uhr habe ich ihm noch ein paar Brote geschmiert, da hat er sich mit einem Videospiel beschäftigt. Er hat meine Wohnung nicht verlassen.«

»Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Frau Jürgens?«

»Wir hatten ein sehr inniges und freundschaftliches Verhältnis. Deswegen habe ich ihr Engagement bei Lukas auch unterstützt und sie entlastet, indem ich Lukas zur Abwechslung auch bei mir aufgenommen habe. Es sollte ja auch nur bis zum Beginn der Sommerferien sein. Dass das keine dauerhafte Lösung ist, war uns beiden klar. Und Lukas auch.«

Siebels zeigte Frau Kremer das Foto vom schlafenden Lukas. »Das hat Frau Jürgens aufgenommen, als Lukas in ihrem Bett geschlafen hat. Das hat schon einen etwas intimeren Charakter, finden Sie nicht?«

Dagmar Kremer betrachtete sich nachdenklich das Foto. »Er ist ein sehr sensibler Junge. Das kommt auf dem Foto auch sehr schön zum Ausdruck. Da hat Verena wohl nicht widerstehen können, ihn in so schöner Pose zu verewigen.«

»Hat sie in anderer Hinsicht auch nicht widerstehen können?« Siebels schaute Frau Kremer direkt in die Augen.

»Was denken Sie eigentlich? Dass wir zwei uns einen Schüler als Liebhaber geteilt haben? Das ist doch lächerlich. Er ist 17.«

»Lukas ist sitzen geblieben. Nicht zuletzt wegen seiner schlechten Note in Deutsch bei Frau Jürgens. Wie passt das zusammen?«

»Sie war eine gute Lehrerin. Deswegen hat sie auch erkannt, dass der Leistungsabfall von Lukas einen Grund haben muss. Der Grund lag bei dem Dauerstreit, der bei ihm zuhause zwischen seinen Eltern herrschte. Deswegen hat sie ihm Unterschlupf gewährt. Damit er nicht völlig aus der Bahn gerät und den Anschluss komplett verpasst. Mit der Versetzung hat es nicht mehr geklappt. Aber es ging doch wieder aufwärts mit ihm. Seine Leistungen wurden wieder besser.«

»Wir bringen ihn jetzt zu seiner Mutter. Sein Vater will sich zunächst in einem Hotel einquartieren.«

Dagmar Kremer atmete geräuschvoll aus. »Hoffentlich findet die Familie eine dauerhafte Lösung. Im nächsten Schuljahr wird es ernst für ihn.«

Siebels berichtete Dagmar Kremer von den näheren Umständen, unter denen ihre Kollegin und Freundin zu Tode kam. »Sitzen geblieben, das deutet doch auf einen Schüler hin. Gab es denn gar keine Anzeichen, dass Frau Jürgens in Gefahr war?«

Dagmar Kremer schaute Siebels mit großen Augen an. »Deswegen sind Sie auf Lukas fixiert. Er hegte keinen Groll auf Verena, das habe ich Ihnen ja gerade erklärt. Und Daniel übrigens auch nicht. Das ist der zweite Kandidat, der es dieses Jahr nicht geschafft hat. Ich kann mir das überhaupt nicht erklären.«

»Denken Sie noch mal drüber nach. Und wenn Ihnen was einfällt, rufen Sie mich an.« Siebels gab der Lehrerin seine Karte.

Die tödlichen Gedanken

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