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Mein Lehrerinnenbuch

Ich hatte es nicht geschafft. Es ging einfach nicht. Es war unmöglich, meine Badehose einfach hinzuschmeißen. Aber meine Lehrerin bestand darauf. Warum war sie so streng mit mir? Warum war ich so wütend geworden? Voller Wut hatte ich mir meine Badehose wieder angezogen. Meine anderen Sachen auch. Hastig habe ich meinen Kram zusammengepackt und den Badesee verlassen. Ich war in Panik. Habe nicht mehr zurückgeschaut. Ich wollte nur weg. Weg von meiner Lehrerin. Weg von dem Badesee. Weg von allem. Weinend saß ich im Bus. Die anderen Leute im Bus sahen mich verstohlen an. Ich hielt ihre Blicke nicht mehr aus. Ich stieg einige Haltestellen zu früh aus und irrte durch die Straßen. Als ich endlich zuhause ankam, wollte ich nur noch in mein Bett. Aber als ich die Wohnungstür öffnete, hörte ich Stimmen. Sie kamen aus der Küche. Meine Lehrerin saß bei meiner Mutter in der Küche. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Küchentür und lauschte.

»Mein Junge soll bei Ihnen wohnen?«, fragte Mutter irritiert.

»Nur eine Zeitlang. Er muss noch einiges lernen.«

»Er könnte Ihnen Kuchen backen. Das hat er schon von mir gelernt.«

»Es gibt auch noch andere Dinge, die er lernen muss.«

»Was denn noch?«, fragte Mutter nachdenklich.

»Unbekümmertheit. Er muss lernen, unbekümmert zu sein.«

»Er macht mir ja eigentlich keinen Kummer«, widersprach Mutter zaghaft.

»Aber mir. Vorhin wären wir fast zusammen nackt schwimmen gegangen. Aber seine Badehose war ihm wichtiger als ich. Da muss er doch noch einiges lernen, finden Sie nicht?«

»Nackt? Soll er bei Ihnen zuhause auch nackt rumlaufen?«

»Warum nicht?« Meine Lehrerin lachte leise. »Er ist doch schon ein großer Junge.«

»Ja, das ist er. Dann braucht er ja nicht viel mitnehmen, wenn er bei Ihnen nichts zum Anziehen braucht.«

»Je weniger, desto besser. Es ist ja Sommer.«

»Kommen da auch noch andere Lehrerinnen, die ihm noch was beibringen wollen?«

»Je mehr er lernt, desto besser. Ich werde bestimmt noch die eine oder andere Kollegin dazuholen können.«

»Da hat mein Junge es ja richtig gut getroffen. Wann holen Sie ihn zu sich?«

»Am besten gleich morgen Früh.«

»Dann backe ich heute Abend noch einen Kuchen.«

Mir stockte der Atem. Was kam da auf mich zu? Meine Lehrerin stand auf und verabschiedete sich von Mutter. Ich schlich mich in mein Zimmer und schloss leise die Tür.

Jens Gärtner wohnte im Erdgeschoss. Erst nach dem dritten Klingeln öffnete er das Wohnzimmerfenster und schaute missmutig nach draußen. »Was gibt es denn?«, blaffte er unhöflich.

»Kriminalpolizei. Können wir uns kurz unterhalten?« Siebels und Till zückten simultan ihre Ausweise und hielten sie vor das Fenster.

Jens Gärtner zog eine Grimasse. »Das geht jetzt gar nicht. Kommen Sie heute Abend wieder.«

»Das geht jetzt gar nicht«, echote Till. »Entweder Sie lassen uns jetzt rein oder Sie begleiten uns auf das Präsidium.«

Jens Gärtner schnaubte. Er schien zu überlegen, was er tun sollte. Dann nickte er. »Okay, ich mache Ihnen auf. Aber nur kurz.« Dann verschwand er vom Fenster.

Siebels und Till blickten sich an und hatten denselben Gedanken. Ohne ein Wort zu verlieren, stellte sich Siebels mit dem Rücken zur Hauswand und steckte seine Handflächen zur Baumleiter zusammen. Im nächsten Moment stieg Till auch schon durch das Fenster. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Wohnzimmer und sah im gegenüberliegenden Schlafzimmer, wie sich Gärtner dort gerade aus dem Fenster hangelte. Mit zwei Sätzen sprang Till zu dem Fenster und erwischte Gärtner gerade noch am Handgelenk. Er zog den fluchenden jungen Mann wieder in die Wohnung zurück und schubste ihn ins Wohnzimmer. Dort drehte er ihm den Arm auf den Rücken und ging mit ihm zum Fenster. Draußen stand Siebels und rauchte gemütlich eine Zigarette.

»Ich habe ihn«, keuchte Till. »Er wollte auf der anderen Seite durchs Fenster abhauen.«

»Dachte mir schon, dass du ihn kriegst«, erwiderte Siebels gelassen.

»Sie brechen mir den Arm«, jammerte Gärtner.

Till ignorierte ihn. »Kommst du jetzt rein, oder was?«

»Wenn du mir die Tür aufmachst. Durchs Fenster krabbele ich jetzt nicht.«

Till verdrehte die Augen, schleppte den jammernden Gärtner im Polizeigriff zur Wohnungstür und öffnete Siebels die Haustür.

Kurz darauf saßen sie zu dritt in Gärtners spartanisch eingerichtetem Wohnzimmer. Siebels betrachtete den jungen Mann. Er war unrasiert und roch nach Schweiß. Auf dem Tisch standen drei Bierdosen. Der Fernseher lief, ein Musikkanal war angeschaltet. Till ging zu dem Gerät und schaltete es aus. Gärtner saß trotzig auf einem abgewetzten Sessel und starrte gegen die Wand.

»Warum wollten Sie denn verschwinden?«, fragte Siebels.

»Ihr wollt mir doch wieder was anhängen. Da habe ich echt keinen Bock drauf.«

»Passiert Ihnen das öfter, dass Sie etwas angehängt bekommen?«

»Verarschen kann ich mich allein. Was wollen Sie?«

»Wir sind übrigens von der Mordkommission«, klärte Till den ehemaligen Sitzenbleiber auf.

Gärtner bekam große Augen. »Was soll denn der Scheiß jetzt. Wollt Ihr mir jetzt auch noch einen Mord unterschieben?«

Siebels beobachtete jede Regung seines Gegenübers. »Ein Mord fehlt ja noch in Ihrer Vorstrafenliste. Diebstahl, Hehlerei, Drogenhandel haben Sie bereits erfolgreich abgearbeitet. Oder wurde Ihnen das alles nur angehängt, so ganz grundlos?«

»Ganz genau, so ist das. Alles nur angehängt.«

Siebels griff in die Innentasche seines Sakkos und zog ein Foto vom Tatort heraus. Er schmiss es vor Gärtner auf den Tisch. »Können Sie sich an die Frau erinnern?«

Gärtner warf einen zaghaften Blick auf das Foto. Dann beugte er sich vor und schaute etwas genauer hin. »Nö, kenne ich nicht«, sagte er und lehnte sich wieder zurück.

»Aber Herr Gärtner. Das ist doch noch keine zwei Jahre her, seitdem Sie das Sigmund-Freud-Gymnasium verlassen haben. Da können Sie sich nicht mehr an Ihre Deutschlehrerin erinnern?«

Gärtner rutschte auf seinem Sessel hin und her, nahm das Foto zögerlich vom Tisch und betrachtete es noch mal. »Soll das die Jürgens sein? Ist sie tot?«

»Zweimal richtig«, bestätigte Till.

»Kann man nicht gut erkennen mit dem Klebeband über dem Mund«, verteidigte Gärtner seine vorherige Aussage.

»Wir glauben, dass es ein Schüler oder ein ehemaliger Schüler war«, erläuterte Siebels. »Einer, der die Versetzung nicht geschafft hat, weil die Deutschnote zu schlecht war.«

»Bei mir waren alle Noten schlecht.«

»Woran hat es gelegen?«

»Interessiert doch jetzt nicht mehr. Ich habe die Bude hier vom Sozialamt und bin von zuhause raus. Mein Alter war böse drauf. Da hatte ich ganz andere Probleme als irgendwelche Noten in Deutsch oder was auch immer.«

»Und wie stellen Sie sich jetzt Ihre Zukunft vor?«, fragte Siebels behutsam.

Gärtner zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Muss mir halt mal einen Job suchen.«

»Was haben Sie denn in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gemacht?«

»Was man nachts halt so macht. Da habe ich geschlafen.«

»Alleine?«

»Mutterseelenallein. Umgebracht habe ich niemanden, schon gar nicht meine alte Deutschlehrerin. Warum sollte ich das denn tun?«

»Weil Sie wegen ihr kein Abi machen konnten und jetzt anstatt Student ein Hartz IV-Empfänger sind und kein Bein auf den Boden kriegen. Da kriegt man schon mal einen Hass auf die Lehrerin, die einem die Zukunft verbaut hat.« Till redete aggressiv auf Gärtner ein.

»Sie wollen mir was anhängen, war mir doch gleich klar«, schrie Gärtner zornig.

Siebels beruhigte ihn. »Ihre Fingerabdrücke und DNS haben wir ja schon vorliegen. Die Spurenauswertung vom Tatort ist noch nicht abgeschlossen. Sie haben keine Familie und keinen Job, ein Motiv und kein Alibi. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Bis auf Weiteres melden Sie sich täglich bis mittags um 13.00 Uhr auf dem Präsidium. Dann wissen wir, dass Sie noch in der Stadt sind und Sie bleiben vorerst auf freiem Fuß. Wenn Sie sich nicht melden, schreibe ich Sie zur Fahndung aus. Einverstanden?«

»Das ist doch Scheiße. Ich habe was Besseres zu tun, als jeden Tag bei euch anzutanzen.«

»Dann dürfen Sie uns jetzt begleiten. In die Untersuchungshaft.«

Gärtner hob abwehrend die Hände. »Okay, ich melde mich brav jeden Tag. Wohin sollte ich auch schon abhauen?«

»Ja, wohin wollten Sie denn vorhin abhauen?«, fragte Till neugierig nach.

»Keine Ahnung. Nur aus dem Haus raus.«

»Und nun?«, fragte Till, nachdem sie die Wohnung von Jens Gärtner verlassen hatten.

Siebels schaute auf die Uhr. Halb fünf war es schon wieder. »Jetzt schauen wir noch mal bei Lukas vorbei und hören uns an, was er zu den Fotos zu sagen hat. Norbert Stoll und Jens Gärtner sind meiner Meinung nach keine Kandidaten für den Mord. Wir behalten sie aber im Auge. Die Konstellation zwischen Lukas und den beiden Lehrerinnen Verena Jürgens und Dagmar Kremer finde ich dagegen sehr interessant. Und der Englischlehrer, Hans-Joachim Gerster, hängt da auch mit drin in dem Geflecht. Wie siehst du die Sache?«

»Im Prinzip bin ich deiner Meinung. Mich stört aber der Zettel auf dem Schoß der Toten. Sitzen geblieben. Wenn der Mörder damit sein Motiv klarstellen will, passt es nicht auf Lukas und schon gar nicht auf Dagmar Kremer. Von Stoll oder Gärtner als Täter bin ich allerdings auch nicht überzeugt. Ich würde mir auf jeden Fall noch gerne die weiblichen Sitzenbleiber auf unserer Liste näher betrachten.«

»Tu das. Dann ist dein Wochenende ja gerettet.«

Siebels entriegelte den Wagen und setzte sich hinters Steuer. Till öffnete die Beifahrertür und schaute in gebückter Haltung von draußen ins Wageninnere. »Ich dachte eher an Montag.«

»Seitdem du mit Anna zusammen bist, bist du ziemlich unflexibel. Du wirst alt, träge und spießbürgerlich, mein Freund.«

Till ließ sich in den Beifahrersitz fallen. »Du kannst mich nicht provozieren, mein Freund. Aber gut, ich erledige das morgen Vormittag. Gut möglich, dass der Fall dann morgen Nachmittag schon gelöst ist. Mord mit Klebstoff, so was machen doch nur Weiber.«

Siebels nahm den Weg über die Emser Brücke, um vom Gallusviertel ins Westend zu kommen. Auf halber Strecke verließ er die Brücke, unter der sich das Messegelände erstreckte, an der Abfahrt zur Theodor-Heuss-Allee, wo hinter spiegelnden Glasfassaden die europäische Hauptzentrale des koreanischen Autobauers KIA angesiedelt war. Siebels fädelte sich im zähfließenden Berufsverkehr ein, der hier zu Messezeiten meist völlig zum Stillstand kam. Wenigstens konnte man beim innerstädtischen Stop-and-go-Verkehr von hier aus den Blick auf die Frankfurter Skyline genießen. Erhaben erhoben sich am Horizont die gläsernen Bankentürme, als hätte es nie eine Bankenkrise gegeben. Rechter Hand lag an der nächsten roten Ampel das Maritim-Hotel, das seine über 550 luxuriösen Zimmer und Suiten ebenfalls hinter spiegelnden Glasfassaden verbarg. Als die Ampel wieder auf Grün schaltete, nahm Siebels den Weg über die Senckenberganlage. Vor dem Eingang zum großen deutschen Naturkundemuseum standen Nachbildungen von Dinosauriern auf dem Grünstreifen herum und zeugten von einer prä-spiegelglänzenden-Glasfassadenzeit. Eine Kreuzung weiter bog Siebels rechts in die Bockenheimer Landstraße ab. Links davon erstreckte sich der Palmengarten, der mit einer Fläche von 22 Hektar zu den größten botanischen Gärten Deutschlands zählt. Siebels ließ ihn aber links liegen, fuhr noch ein paar Meter geradeaus in Richtung Alter Oper, bevor er nach rechts in die Feuerbachstraße abbog, wo ein junger Mann zuhause war, der in einen Mordfall verwickelt war, weil er unsittlichen Umgang mit seiner mit Klebstoff dahingerafften Deutschlehrerin gepflegt hatte.

Lukas öffnete die Wohnungstür und verdrehte die Augen, als er seine Besucher vor der Tür erkannte. »Was wollen Sie denn schon wieder?«, fragte er genervt.

»Gucken, ob du auch brav zuhause bist und dich nicht wieder bei einer Lehrerin verkrochen hast«, sagte Till augenzwinkernd und bekam umgehend den Ellbogen von Siebels in die Seite gerammt.

»Ihr seid doch nur neidisch. Habt wohl keinen Zug bei Frauen, was?«

»Sind deine Eltern da?«, wollte Siebels wissen.

»Unten in der Praxis. Wenn Sie Zahnschmerzen haben, schiebt Sie mein Vater bestimmt noch dazwischen.«

»Wir haben was gefunden, das bereitet uns eher Kopfschmerzen«, konterte Siebels. »Lässt du uns rein?«

»Wenn es sein muss.« Lukas trug Boxershorts und ein T-Shirt und lotste seine Besucher ins Wohnzimmer, wo er anscheinend gerade mit der Playstation zugange gewesen war.

Siebels fackelte nicht lange, zauberte die neuen Fotos aus seiner Jackentasche hervor und hielt sie Lukas wortlos hin. Lukas verzog die Mundwinkel, nahm die Bilder entgegen und warf einen kurzen Blick darauf. »Und? Haben Sie ein Problem damit?«, fragte er trotzig.

»Wir nicht. Aber vielleicht du?« Siebels streckte die Hand aus und forderte die Fotos wieder zurück.

Lukas zögerte. »Wollen Sie die jetzt etwa rumzeigen? Bei Schülern und Lehrern?«

»Hast du ein Problem damit?« Siebels genoss es ein wenig, den forschen jungen Mann in die Ecke zu treiben.

»Mann, das ist privat. Das geht niemanden was an, klar!«

Till stand mit verschränkten Armen neben Lukas und erhöhte den Druck auf ihn. »Erst fotografiert sie dich in so einer intimen Situation und dann sorgt sie eiskalt dafür, dass du die Versetzung nicht schaffst. Das hat dir doch gewaltig gestunken. Du wolltest es ihr heimzahlen. Deswegen bist du auch zu Frau Kremer umgezogen. Nicht aus Rücksicht vor Verena Jürgens, sondern um sie büßen zu lassen.«

»Blödsinn«, murmelte Lukas vor sich hin.

Siebels wedelte mit den Fotos vor Lukas‹ Augen herum. »Kennt Dagmar Kremer diese Bilder?«

Lukas blinzelte Siebels feindselig an. »Das ist privat, habe ich doch gesagt.«

»Oder dein Englischlehrer? Herr Gerster«, fragte Till und Lukas fühlte sich offensichtlich von Minute zu Minute unwohler in seiner Haut.

»Ich werde mit meinem Vater reden, damit er mir einen Anwalt besorgt«, erwiderte Lukas und hoffte, die unbequeme Fragerei damit beenden zu können.

»Könnte sein, dass du bald einen brauchst«, erhöhte Siebels noch einmal den Druck und beendete damit aber auch das Gespräch.

»Irgendwas ist da im Busch«, überlegte Siebels, als sie wieder im Auto saßen. »Ich setze dich zuhause ab, dann mache ich noch einen Abstecher zu Dagmar Kremer. Morgen Früh um acht hole ich dich ab.«

»Nix da«, widersprach Till. »Zu Dagmar Kremer komme ich mit, das will ich mir nicht entgehen lassen.«

»Du hast aber morgen noch ein paar Termine mit den Sitzenbleiberinnen. Nicht, dass dir das zu viel wird.« Siebels lächelte in sich hinein.

»Was willst du mir damit sagen, alter Mann?«

Siebels war drauf und dran, die Gelegenheit zu nutzen, um Till von seinen Rückzugsplänen aus dem Berufsleben zu berichten. Aber er schluckte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, unausgesprochen herunter. Heute Abend wollte er zunächst mit Sabine darüber sprechen. Nur nicht zu früh die Pferde scheu machen, ermahnte er sich. »Och, nichts«, sagte er also nur. »Ich denke, wir sollten eine Hausdurchsuchung bei Lukas beantragen. Der hat was zu verbergen.«

»Viel in der Hand haben wir nicht, um ihn als Tatverdächtigen beim Staatsanwalt zu präsentieren«, gab Till zu bedenken.

»Das kann sich ja gleich ändern«, mutmaßte Siebels und fuhr schweigend weiter zur Adresse von Dagmar Kremer.

Dagmar Kremer bewohnte eine Eigentumswohnung im Sophienhof, im Stadtteil Bockenheim. Der Sophienhof bestand aus 15 Mehrfamilienhäusern mit 149 Wohneinheiten und wurde 2006 als größtes Passivhaus im Geschosswohnungsbau fertiggestellt. An der Kreuzung Sophienstraße und Ginnheimer Landstraße gebaut, war der innenliegende Hof von der Straße aus nicht sichtbar. Erst, als Siebels und Till auf dem Balkon von Dagmar Kremer standen, offenbarte sich der Blick auf den mit spielenden Kindern übersäten großräumigen und mit viel Grün bepflanzten Innenhof.

»Viele Kinder«, bemerkte Siebels.

Dagmar Kremer nickte und servierte ihrem Besuch Orangensaft auf dem Balkon. »Ja, in einem der Häuser ist auch ein Kindergarten untergebracht. Das ist ein sehr familienfreundliches Objekt hier. Zentral in der Stadt gelegen, nur wenige Meter bis zur U-Bahn-Station. Besser kann man kaum wohnen.«

»Sie leben aber allein, oder?«, erkundigte sich Siebels und studierte die Gesichtszüge der Kunstlehrerin. Sie sah aus wie eine Frau, die wusste, was sie wollte.

»Ja, jetzt wo Lukas weg ist, lebe ich wieder allein. Er hat seine Sachen noch gar nicht abgeholt.«

»Wo hat er denn geschlafen?«, fragte Till.

Dagmar Kremer deutete durch die Balkontür zum Wohnzimmer. »Auf der Couch.« Sie zeigte dabei keinerlei nervöse Reaktionen.

»Wir sind da auf ein paar Fotos gestoßen«, sagte Siebels nachdenklich und legte besagte Fotos auf den kleinen, runden Kunststofftisch, um den herum sie auf dem Balkon saßen.

Dagmar Kremer betrachtete sich schweigend die Fotos und legte sie wieder zurück auf den Tisch. »Woher haben Sie die?«

»Die hatte Ihre Kollegin Frau Jürgens auf ihrer Festplatte gespeichert.«

»Das würde einer Kunstlehrerin eigentlich eher zustehen als der Deutschlehrerin«, bemerkte sie mit etwas spitzem Ton, der Siebels und Till aufhorchen ließ.

»Haben Sie auch so Fotos von ihm gemacht?«, fragte Till geradeheraus.

»Sie sollten diese Bilder nicht falsch interpretieren«, mahnte Dagmar Kremer ihn. »Verena und ich, wir wollten dem Jungen eine Chance geben. Mit seinen schulischen Leistungen ist es rapide bergab gegangen. Er hat es zuhause nicht mehr ausgehalten, weil seine Eltern sich bei jeder Gelegenheit gestritten haben. Dass er erst bei Verena und dann bei mir gewohnt hat, war vielleicht nicht die beste Lösung, aber es war eine Lösung. Jedenfalls vorübergehend. Dass Verena ihn bei sich zuhause nackt fotografiert hat, war sicher nicht sehr schlau. Wahrscheinlich hat sie es aus einer Laune herausgetan. Es sind ja ästhetisch gesehen sehr schöne Bilder. Und vor allem zeigen sie doch, dass Lukas wohl kaum ihr Mörder sein wird.«

»Wenn die beiden so ein aufgeschlossenes und harmonisches Miteinander pflegten, ohne dabei ein sexuelles Verhältnis zu haben, wie kam es denn dann genau dazu, dass Lukas seinen Unterschlupf von Frau Jürgens zu Ihnen verlegte? Erzählen Sie das doch bitte noch mal ganz ausführlich«, bat Siebels. Und weil er auf der Fensterbank einen Aschenbecher stehen sah, fragte er auch gleich, ob er dabei eine rauchen dürfe. Dagmar Kremer stellte den Aschenbecher auf den Tisch, ging in die Wohnung, um sich ebenfalls mit einer Zigarette auszustatten und paffte dann zusammen mit Siebels, während sie erzählte.

»Sie hat mich eines Tages im Lehrerzimmer angesprochen. Ich kam gerade herein und Hans-Joachim Gerster, unser Lehrer für Englisch und Französisch, kam heraus. Es war offensichtlich, dass die beiden miteinander gestritten hatten. Sonst war niemand anwesend. Gerster war mit hochrotem Kopf an mir vorbeigerauscht und Verena stand zitternd vor Wut im Raum. Mir war die Situation etwas unangenehm und ich habe Verena gefragt, ob sie lieber allein sein möchte. Aber sie hat mich gefragt, ob sie mir etwas anvertrauen könne. Dann hat sie mir zuerst erzählt, dass Gerster ihr schon seit über einem halben Jahr nachstellen würde. Das grenzte wohl schon an Stalking, was er da so mit Verena trieb. Und dann beichtete sie mir die Sache mit Lukas. Dass sie ihn bei sich aufgenommen hatte, weil sie befürchtete, dass er sonst die Schule schmiss. Sie hielt ihn für sehr begabt und wollte auf jeden Fall verhindern, dass er seine Zukunft aufs Spiel setzte, nur weil seine Eltern ihr Leben nicht auf die Reihe kriegten. Lukas ist sehr sensibel, daher baute er in der Schule auch innerhalb kurzer Zeit extrem stark ab. Ihm gefiel es anscheinend bei Verena, er hat sich dort regelrecht eingenistet. Aber das hat Gerster spitzgekriegt, weil er abends oft vor Verenas Haustür rumlungerte. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für ihn. Er drohte Verena damit, sie bei der Schulleitung wegen sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen anzuzeigen. So, wie sich die Sache nach außen hin darstellte, hätte Verena große Probleme bekommen. Sie wollte Lukas aber auch nicht einfach vor die Tür setzen. Ich habe ihr daraufhin angeboten, dass er bei mir unterkommen könne, allerdings nur für ein paar Tage. Ich habe mich damit ja in die gleiche konfrontierende Lage gebracht. Allerdings hatte ich Gerster nicht auf den Fersen. Ich hielt das Risiko für überschaubar, zumal die Sommerferien vor der Tür standen. Verena sprach am gleichen Tag noch mit Lukas und schon am nächsten Tag packte er seine Siebensachen zusammen und bekam bei mir Asyl.«

Till deutete auf die Fotos, die noch auf dem Tisch lagen. »Unter diesen Umständen war es ja noch viel leichtsinniger, ihn auch noch so intim zu fotografieren. Das ist doch nur blöd. Ist eine Oberstufenlehrerin wirklich so blöd?«

»Klug war es bestimmt nicht. Aber nun geht es doch darum, ihren Mörder zu finden und nicht über ihre Dummheiten zu philosophieren, oder?«

»Falls das eine nicht mit dem anderen zusammenhängt«, überlegte Siebels und erhob sich von seinem Stuhl. »Sollten sich neue Fragen ergeben, melden wir uns wieder. Auf Wiedersehen.«

Die tödlichen Gedanken

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