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III.

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Auf der Gegenseite, der »Partei der Revolution«, wie Stahl sie nannte, war man davon überzeugt. Altliberale wie Rudolf Gneist und Johann Caspar Bluntschli sahen Stahl »an der Spitze der Partei, welche sich als Träger ritterlicher Lebenssitte, als preußische Aristokratie, als geschaffen für die unproduktive Arbeit des Vornehmseins« dargestellt und den Anspruch erhoben habe, »Vertreter des göttlichen Rechts und des christlichen Prinzips im Staat« zu sein.77 Liberale im Kaiserreich charakterisierten ihn als den »Staatsrechtslehrer der Reaktion« und als »Schutzredner des Junkertums« (Theobald Ziegler ) oder warfen ihm vor, »den uralten theokratischen Gedanken im Interesse der preußischen Konservativen zu modernisieren« (Georg Jellinek).78 Noch Marxisten folgten dieser Linie, wenn sie, wie Georg Lukács, in Stahl nur den Apologeten des »feudal-absolutistischen Konservativismus« zu fassen vermochten, oder, wie Herbert Marcuse, seine Philosophie als Verrat an den progressiven Inhalten von Hegels System präsentierten.79

Was den »Feudalismus« angeht, so sprach sich Stahl zwar deutlich für eine Aristokratie aus80, doch erkannte er damit lediglich eine notwendige Prämisse desselben an, nicht aber die von Haller und anderen daraus abgeleiteten Konklusionen. Aus seiner Sicht war die neuere Entwicklung dadurch gekennzeichnet, daß der historische Adel nach und nach die von ihm ursprünglich monopolisierten Rechte und Funktionen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu teilen genötigt worden sei: die Herrschaftsausübung mit der Krone und der von ihr installierten Bürokratie; die Bildung mit der Geistlichkeit und der städtischen Intelligenz; die Reichtumserzeugung mit dem Wirtschaftsbürgertum.81 Stahl beschrieb diese sukzessive Depotenzierung des Feudalismus, die in mancher Hinsicht das später von Otto Hintze entworfene Schema vorwegnimmt82, nüchtern und ohne jeglichen Anflug von Nostalgie. Wohl galten ihm die Reste des alten, »romantischen« Adels, worunter er den Geblütsadel verstand, als eine Erbschaft, die auszuschlagen nicht ratsam war, verbürgte sie doch das unersetzliche Maß an Kontinuität und ›conservativer Gesinnung‹.83 Im Unterschied jedoch zu Gerlach, der die Stein-Hardenbergschen Reformen ablehnte, weil sie nur die negative Freiheit an die Stelle der positiven gesetzt hätten84, akzeptierte er, wenn auch mit gewissen Vorbehalten, die daraus hervorgegangene Befreiung »von Feudalität und Patrimonialität und Hintersässigkeit und den kastenartigen Ständen«.85 Wenn es weiterhin Aristokratie geben sollte (wovon Stahl überzeugt war), so nur in einem neuen Sinne, der einem Ausgleich der gesellschaftlichen Stellung der Stände nicht entgegenstand, ja das allgemeine Staatsbürgertum voraussetzte und damit näher an »Elite« lag.86 Anstatt lediglich die »alte Familienaristokratie, diese angeborene Superiorität«, zu konservieren oder wiederherzustellen, wie dies die Schriftsteller der Restauration erstrebten, empfahl Stahl vielmehr, dem »Streben der Zeit zur Hülfe zu kommen, […] den socialen Verband, der in älterer Zeit auf dem Lande rein monarchisch-patrimonial, in den Städten geburtsaristokratisch war, in gewissem Sinne zu republikanisiren (zu gemeindlichen), aber doch dort an den großen Grundbesitzern, hier sowohl an den städtischen Magistraten als an den Begüterten und den Hervorragenden in jedem Gewerbe, einen Schwerpunkt zu erhalten«, kurzum eben jene composite elite zu schaffen, wie Stahl sie an England bewunderte.87 Namentlich die Entwicklung der »Ritterschaft«, die sich in Preußen bereits zu mehr als zwei Fünfteln aus nichtadligen Gutsbesitzern rekrutierte, schien ihm die Gewähr dafür zu bieten, daß der Adel bereits auf dem besten Weg sei, sich in eine Gentry zu verwandeln.88

Hierzu paßt die Kritik, die Stahl an den »feudalistischen Legitimisten«, den »Anhänger[n] der altständischen Monarchie« übte.89 Da er in ihnen eine Fraktion der »konservativen Partei«, der »Partei der Legitimität« sah90, vermied er es, diese Kritik zu scharf zu formulieren. Die von Haller, Gentz oder Jarcke befürwortete Politik galt ihm insofern als Bündnispartner, als sie »einen energischen Widerstand gegen die liberalbüreaukratische Entgliederung der Gesellschaft« bildete und damit Positionen hielt, die auch in der künftigen Ordnung unverzichtbar seien. Es gelte deshalb, »die Lehren und Forderungen derselben nicht geradezu abzuweisen, sondern sie zu läutern, sie in eine bessere, der gegenwärtigen Stufe entsprechendere Auffassung aufzunehmen.«91 Was nach dieser Läuterung übrig blieb, war freilich nicht allzuviel. Hallers Lehre, wonach das ganze Staatsgefüge »eine Stufenfolge eigenberechtigter Obrigkeiten zwischen dem obersten Herrn und der Bevölkerung« sei und alle gesetzlichen Einrichtungen privatrechtlichen Charakter hätten, sei anachronistisch, ein Relikt mittelalterlichen Denkens, das den Errungenschaften der neueren Zeit nicht gerecht werde.92 Es fehle der Gedanke des allgemeinen Staatsbürgertums, da die große Masse der Untertanen mediatisiert, selbständigen Hoheitsträgern untergeordnet sei; wie es auch an einer repraesentatio in toto fehle, da die Landesvertretung aus gesonderten Ständen in Kurien bestehe, von denen jede ihre jeweiligen Rechte gegenüber dem Fürsten vertrete, ohne eine »Mitwirkung für den Staatshaushalt im Ganzen« zu besitzen.93 Die Überwindung dieses ›ständisch-patrimonialen‹ Systems, wie Stahl es nannte94, durch den Gang der geschichtlichen Entwicklung sei »kein Verlust, sondern ein Fortschritt«:

»Das Zusammenschließen der Nation zur Einheit, die wesentliche Gleichheit des Staatsbürgerthums, die innere Gesetzmäßigkeit des Staats, die Herausbildung der öffentlichen Rücksichten über den blos persönlichen Banden, der Gedanke der Berufung für eine höhere Ordnung – alles das sind wirkliche Vorzüge des neuen Staats, Merkmale eines höheren Typus, sind unstreitige Züge der Weltentwicklung. Eine Rückbildung in jenen früheren Zustand wäre daher nicht heilsam, auch wenn sie möglich wäre. So wäre es namentlich wunderlich, wenn man zur Stütze unserer Monarchie die alten Stände vor dem großen Kurfürsten wiederherstellen wollte, auf deren Ueberwindung gerade diese Macht gegründet ist.«95

Daß Stahl es für ein vergebliches Unternehmen hielt, sich auf den Boden des älteren Ständewesens zu stellen96, bedeutete allerdings keine prinzipielle Absage an ständische Vergemeinschaftung. Neben den sogenannten Privatständen, die sich der »Befriedigung des Lebensbedürfnisses, daher insbesondere der Vermögenserzeugung« widmeten97 (und deshalb im Weberschen Sinne eher als Klassen zu bezeichnen wären), kannte Stahl ›öffentliche Stände‹ (Beamte, Geistliche und Militär) sowie ›politische Stände‹, bei denen »grundsätzlich das Bewußtseyn der nationalen Gemeinschaft über das des Standes und die Principien über die Interessen überwiegen« sollten.98 Die dafür angemessene Form sei die »reichsständische Verfassung«, das berufene Organ der Vertretung die »Versammlung der Auserlesenen (die Elite) aus allen Ständen«, »die wahre und reine Darstellung (Repräsentation) des Volkes«.99 Basierend auf dem freien Mandat, ausgestattet mit dem Recht auf Zustimmung zu allen Gesetzen, insbesondere zum Staatshaushalt100, sollte diese Vertretung ihrer Natur nach »vorherrschend konservativ« sein, sich zu der eigentlichen »konservativen Macht im Staate« entwickeln und sich nötigenfalls auch gegen die Regierung stellen, wo es galt, »das Bestehende zu schirmen«.101

Mit der Behauptung, eine reichsständische Verfassung im geschilderten Sinne gewähre »eine bedeutende Ermäßigung und Berichtigung gegen büreaukratische Richtung der Regierung«102, konnte Stahl sich auf den antiabsolutistischen Konservatismus berufen. Zwar setzte er insofern einen anderen Akzent, als er die absolute Monarchie für die im Vergleich mit der altständischen Verfassung höhere Form hielt, sei doch der »Fortgang in der Geschichte von der früheren Autonomie zur echten Centralisation […] ein Fortgang vom niederen Organismus zum höheren Organismus«.103 Da sie sich jedoch im Unterschied zum Despotismus, wie er außerhalb des christlichen Europa verbreitet sei, stets durch »strenge Beobachtung der erlassenen Gesetze, Unabhängigkeit der Gerichte und gesicherte Rechte der Unterthanen« auszeichne, sei ihr ein hohes Maß an historischer Bewährung nicht abzusprechen, wie ihr auch eine sachliche Angemessenheit für besonders heterogen strukturierte Staaten (Österreich) zuzubilligen sei.104 Als optimale Lösung aber könne sie weder aus historischen noch aus sachlichen Gründen gelten. Aus den ersteren nicht, weil die absoluten Könige auf dem Kontinent eben jene »naturwüchsige Ordnung und die stetige Entwicklung« zerstört hätten, die in England aufgrund der »Eingeschränktheit des Königthums« lange bewahrt geblieben sei.105 Aus den letzteren nicht, weil sich inzwischen gut begründete »Forderungen nach Schutz der individuellen Freiheit, nach verbürgten staatsbürgerlichen Rechten, nach politischen und socialen Vollrechten des höheren Bürgerthums, nach unverbrüchlicher Verfassung und Rechtsordnung« erhoben hätten, über die hinwegzugehen arbiträr wäre, »falsche Reaktion«.106

Die richtige, »gesunde und nothwendige Reaktion«107 konnte nach Stahl nur darin bestehen, die Defizite beider Seiten zu korrigieren, ihre Errungenschaften auf eine neue Stufe zu heben und mit den Anforderungen der Gegenwart zu vermitteln. Die dafür angemessene Regierungsform sei die »ständisch konstitutionelle Monarchie«, die an die alten Stände anknüpfen, sie jedoch in einen »höheren Typus« überführen sollte, »nämlich aus dem bloß privatrechtlichen in den öffentlich-rechtlichen staatlichen Charakter, aus dem blos ständischen in den nationaleinheitlichen Charakter«108; die hierzu passende Verfassungsform die »institutionelle Monarchie«, die durch zwei Merkmale bestimmt sei: die Berücksichtigung ständisch- aristokratischer Elemente bei der Gestaltung der Landesvertretung und die Prävalenz des ›monarchischen Princips‹ gegenüber dem parlamentarischen. Beides zusammen begründe eine im Vergleich zur rein konstitutionellen Monarchie, wie sie von den Liberalen angestrebt werde, höhere Form: »eine wirkliche Monarchie im alten Begriff, selbständig, in voller starker königlicher Gewalt, aber das Königthum umgeben von Institutionen, die es beschränken und ihm ihre eigene Gesetzmäßigkeit und höhere Nothwendigkeit zum Gebote machen.«109

Was das monarchische Prinzip für Stahl alles implizierte, sei hier noch einen Augenblick zurückgestellt. Zuvor sind die beiden Begriffe in den Blick zu nehmen, die den institutionellen Charakter der anvisierten Verfassung illustrieren: das Verständnis des Staates als einer »Anstalt der Beherrschung« und als »Rechtsstaat«.110 Obwohl in »Beherrschung« bzw. »Herrschaft« ein schwer zu leugnendes voluntaristisches Element steckt, tritt es doch in der Verbindung mit »Anstalt« stark zurück hinter Bedeutungen, die zeitlich auf ununterbrochene Kontinuität zielen, sachlich-strukturell auf Einheit, Ordnung und Gesetzmäßigkeit.111 Dabei ist die postulierte Kontinuität das allgemeinere, der Ordnungscharakter das spezifischere Merkmal, das in den frühen (patriarchalischen, patrimonialen, polizeistaatlichen) Formen des Staates nur schwach entwickelt zu sein pflegt, um erst in den Republiken des Altertums und der frühen Neuzeit (z. B. von den Puritanern) institutionalisiert zu werden, von wo aus es dann, Stahl zufolge, auf die großen monarchischen Flächenstaaten übertragen wurde – und zwar nicht bloß auf die konstitutionell verfaßten, sondern auch auf die absolutistischen. Durch die Republik, so der für einen vermeintlichen Apologeten des Absolutismus immerhin überraschende Befund, sei

»eine allgemeine Wahrheit weltgeschichtlich zu Bewußtseyn und Existenz gekommen: der anstaltliche (institutionelle) Charakter des Staates, daß der Staat seinen eigenen Bedingungen und Anforderungen, seinen innewohnenden Gesetzen und nicht der bloßen Persönlichkeit der Obrigkeit, sey es monarchische oder republikanische, zu folgen habe, ja daß diese Persönlichkeit der Obrigkeit selbst nur ein Glied der Institution ist. […] Ja der Gedanke des Staates selbst ist republikanisch in diesem Sinne, und ihn kann die Bildungsstufe Europa’s sich nicht wieder rauben lassen.«112

Die hier angesprochene Errungenschaft zeigte sich empirisch auf doppelte Weise. Zum einen in der Funktionalisierung des Fürsten, dessen Zwangsgewalt nicht länger als »in seiner Person, sondern als im Wesen der Anstalt« begründet zu denken sei (man könnte auch sagen: in seiner Rolle als ›Anstaltsleiter‹)113; zum andern in einer entsprechenden Versachlichung seines Regiments. Der Staat, so Stahls bis zum Aufkommen des staatsrechtlichen Positivismus wirkungsmächtige Definition, solle Rechtsstaat sein, d. h. »die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern«, jedoch die darüber hinausweisenden materialen Postulate »nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d. i. nur bis zur nothwendigsten Umzäunung.«114 Das hat Stahl den Vorwurf eingebracht, den ursprünglich sehr viel weiter gehenden, auf das »menschlich erreichbare Maß an Vernünftigkeit des Gesetzes« zielenden Sinn des Rechtsstaates, wie er vom Frühkonstitutionalismus entwickelt worden sei, auf ein rein formelles Verständnis reduziert zu haben, das als »Ersatz für die demokratische Partizipation der Bürger« fungiert habe.115 Soweit damit gemeint ist, daß Stahl kein Demokrat war, ist dem nicht zu widersprechen. Im Verständnis des Rechtsstaates jedoch als einer Ordnung, die sich durch die Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz und die Einräumung einer freien Individualsphäre auszeichnet, war die Differenz seiner Vorstellungen zu altliberalen Konzeptionen, wie sie etwa Robert von Mohl vertrat, nicht allzu groß.116 Für einen Liberalismus »im ächten Sinn«, der dem Untertan Sicherungen gebot gegen die Obrigkeit, »selbst gegen die Gesetze des Staates, daß sie nicht in die Sphäre, die nur seiner Freiheit gebührt, eingreifen«, hatte Stahl offensichtlich einiges übrig.117 Und so überrascht es denn auch nicht, bei diesem Bannerträger des Konservatismus auf Elogen zu stoßen, die dem Liberalismus ausdrücklich bescheinigen, »den überkommenen Zustand geläutert, ihn in Einrichtungen und Sitten menschlich gemacht« und sich damit eine eine »unleugbare Berechtigung« erworben zu haben:

»Ihm verdankt man die Abschaffung der Tortur, der grausamen Strafen und der Leibeigenschaft, die religiöse Toleranz, die Erhebung und das Selbstgefühl der mittlern und selbst der geringern Klassen, die ungehemmte Entfaltung aller geistigen Kräfte, die volle Würdigung, die den menschlichen Werth unabhängig von Stand und Geburt zu schätzen weiß. Dieser weltgeschichtliche Beruf und dieses Verdienst des Liberalismus soll nicht verkannt werden, und es hat deswegen auch nicht an ausgezeichneten Trägern desselben gefehlt in der Epoche, in welcher solches Geltendmachen des Menschlichen die Hauptaufgabe war.«118

Von hier aus gesehen kann man Stahl zu den Autoren rechnen, die sich für eine Verschmelzung von Konservatismus und Liberalismus in dem von Kondylis bezeichneten Sinn stark gemacht haben.119

Ausgänge des Konservatismus

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