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1. Erste Einsichten
ОглавлениеEs ist für Hochschullehrende schwierig, diesen Kreislauf stillschweigend weitergegebener Frustration und Resignation aufzubrechen. Und dennoch liegt genau hier unsere Aufgabe und unsere Verantwortung als Hochschullehrer. Wie groß die Reichweite unserer Arbeit ist, hat Torsten Meyer unlängst eindrücklich beschrieben. Die 1990 geborenen Lehramtsstudierenden, die uns heute in den Lehrveranstaltungen gegenübersitzen, werden bis 2125 eine Wirkung als Lehrer haben – denn erst dann sind die letzten Schüler, die sie unterrichtet haben, aus dem Berufsleben geschieden.1 Auf eine im Alter von 40 Jahren berufene Professorin übertragen, die noch wenigstens fünfundzwanzig Jahre in der Hochschullehre tätig sein wird, ergibt das eine Reichweite bis etwa 2150 – rund 150 Jahre. Selbst wenn die Zahlen ein wenig geschönt sind, um das Bild eingängiger zu machen, lässt sich erahnen, welchen Einfluss Hochschullehrende besitzen. Um es drastisch auszudrücken: Wenn ich es in meiner Lehre nicht schaffe, den beschriebenen Kreislauf aufzubrechen und bei den Studierenden Begeisterung für die Bibel und ihre Auslegung zurückzugewinnen, ist die Generation ihrer Schülerinnen und Schüler mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls verloren.
Diese Erkenntnis kann ebenso erdrückend wie befreiend sein, in jedem Falle aber zeigt sie, welche hohe Verantwortung wir als Lehrende haben. Wenn man die Vermutung hinzunimmt, dass es zumeist Methodik und Hermeneutik – und zwar exegetische wie didaktische – sind, die zu »Bibelfrust« führen,2 ist das Grund genug, sich intensiver mit der Frage nach den eigenen methodischen und hermeneutischen Grundüberzeugungen und der Frage der eigenen Lehre auseinanderzusetzen.
Dabei können kleine Veränderungen große Wirkung haben, zum Beispiel wenn man biblische, insbesondere neutestamentliche Texte nicht mehr in Perikopen einteilt und dadurch wichtiger Bedeutungsebenen beraubt, sondern wieder ganze Bücher liest. Was für Ruth und Jona im Alten Testament schon in meiner eigenen Oberstufenzeit vor zwanzig Jahren der Fall war, setzt sich nun langsam auch für das Markusevangelium durch3 und gilt, wie neueste Versuche im Hörsaal zeigen, auch für die übrigen neutestamentlichen Erzähltexte. Es wäre durchaus einen Versuch wert, frühchristliche Identitätssuche auch anhand der Briefliteratur – der echten Paulusbriefe wie der Deuteropaulinen oder der Katholischen Briefe – zu betrachten. Man muss ja nicht gleich den Römerbrief lesen; auch die Briefe an Philemon und Titus oder die Briefe des Jakobus und Judas können Augenöffner sein, wenn man sie jenseits der Frage von Gemeinde- und Ämterstruktur, Gegnersuche und Authentizitätsfragen betrachtet.
Dem Zauber einer guten Exegese kann man sich in der Tat nur schwer entziehen. Wobei »gut« ausdrücklich auch »handwerklich gut« mit einschließt. Schlussendlich ist es das, wozu wir Studierende – in den Zeiten von Bologna ebenso wie schon davor – befähigen wollen: zu richtig guter Exegese. Über die Frage, was genau eine gute Exegese ausmacht, lässt sich trefflich streiten und vermutlich handelt es sich dabei um eine der Fragen, die jede Generation neu beantworten muss. Unstrittig ist hingegen, dass es die Verantwortung und Aufgabe der universitären Ausbildung ist, die Grundlage dafür zu legen, dass aus den Studierenden gute Exegeten werden; dass sie während des Studiums das Handwerkszeug für gutes exegetisches Arbeiten erwerben und ihren exegetischen Werkzeugkoffer nicht achtlos mit allem füllen, was ihnen so über den Weg läuft, sondern bei den einzelnen Werkzeugen wissen, wozu sie nütze sind und warum sie sich in ihrem Werkzeugkoffer befinden. Diese Basisausstattung wird die Studierenden lange begleiten und sie werden ebenso wie wissenschaftlich arbeitende Exegeten die Werkzeugtasche, die sie mit sich herumtragen, nicht ohne Not mit neuem Gerät und damit auch zusätzlichem Gewicht anfüllen.4 Es ist nicht selten der Fall, dass angesichts der Anforderungen der Praxis über viele Jahre keine Revision der Erstausstattung erfolgt und kaputtes Gerät nicht ersetzt, sondern notdürftig geflickt oder einfach weggeworfen wird. Daher muss das, was Studierende zum Abschluss ihrer universitären exegetischen Ausbildung »im Kasten« haben, solides exegetisches Arbeiten ermöglichen.