Читать книгу Das geliehene Glück des Samuel Goldman - Stefan G. Rohr - Страница 4

Kapitel 1

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Samuel Goldman war ein eher unauffälliger Mann, den man landläufig wohl als Durchschnittstyp bezeichnen konnte. Das Maß der ihm zuteil gewordenen Aufmerksamkeit lag eher im Mittelfeld, was durchaus auch damit zusammenhing, dass das Kaleidoskop seiner Eigenschaften nicht polychrom ausgelegt war. Dafür stieß er im Gegenzuge aber auch deutlich weniger auf Widerstand in seinem Umfeld, erzeugte kaum Neid und schwamm weitgehend unbekümmert mit der Allgemeinheit mit. Er verfolgte so gut wie keine ehrgeizigen Ziele, strebte nicht nach Prädikatsexamen und Stipendium, nicht nach Pokalen, wollte weder Footballstar der High-School, noch heißester Schwarm aller Cheerleader werden.

Sam erkannte schon früh, dass er über keine herausragenden Talente oder gar Begabungen verfügte. Ihm war zwar ein durchaus über dem Durchschnitt liegender kluger Kopf gegeben, er lernte schnell und einfach, kam überall gut mit und niemand hätte behaupten können, Sam Goldman sei nicht gescheit. Den Drang aber, eine besondere Rolle hierdurch einnehmen zu wollen, war bei ihm schlichtweg nicht vorhanden. So gab es denn auch wenig Anlass für seine Eltern, ihn zu mehr motivieren zu wollen, als er von sich selbst aus leistete, denn es reichte ja allemal für gute Noten, später für einen recht passablen Abschluss an der High-School in Greenville, South Carolina.

Sie waren dennoch durchaus stolz auf ihren Sprössling, so zum Beispiel, als er dann doch einmal für die Football-Mannschaft nominiert wurde. Es tat nicht viel zur Sache, dass er nur als Ersatzspieler aufgestellt war, auch nie zum Einsatz kam, es zählte allein die Tatsache, der olympische Gedanke, und für den Rest sein durchaus geschmeidiger Durchmarsch auf dem Weg zur Universität. Der Besuch der Furman, natürlich auch in Greenville, verlief in der Regelstudienzeit und er erhielt, wie zu erwarten, problemlos sowie ohne Aufsehen seinen Abschluss als Master in der Fakultät der Wirtschaftswissenschaften. Seine Examensnote lag präzise am unteren Rand des oberen Drittels, und so begann er – man könnte fast meinen automatisch – seine Tätigkeit in der örtlichen Bank von Greenville. Denn was anderes, als in seiner Geburtsstadt zu bleiben, war ihm niemals in den Sinn gekommen.

Man könnte jetzt meinen, Sam wäre ein leicht unförmiger und zur Akne leidender junger Mann, spießig, etwas fahlhäutig, eher antriebsarm, und verfüge nur über mäßig ausgeprägte Phantasie. Mitnichten war dem so. Auch versteckte er keine schmutzigen Bildchen unter seiner Matratze, jedenfalls nicht für besorgniserregend lange Zeit. Er war auch auf keine andere Weise sonderbar oder skurril. Genau betrachtet war er sogar das ganze Gegenteil. Mit seinen fast 1,90 Metern, und einer von der Natur ihm mitgegebenen athletischen Figur, hätte er nicht nur einen idealen Sportler abgeben können, er wirkte so auch äußerst dynamisch.

Er war mehr als nur nett anzuschauen, hatte schöne, leicht gewellte braune Haare und erfreute sich des Gesichtes eines altgriechischen Kriegers. Seine Nase war schmal und gerade, vielleicht nur ein ganz klein wenig zu lang. Doch sie passte zu ihm, und war wahrscheinlich einer der entscheidenden Faktoren, dass ihn sowohl Männer als auch Frauen spontan als sympathisch empfanden. Seine Ruhe und vollkommene Eitellosigkeit ließen es für Fremde so erscheinen, als stünde er besonnen über den Dingen, stets mit einer gewissen Anmutung von angenehmer Ausgeglichenheit und wohltuender Souveränität. Aber er war sich seiner Wirkung lange Zeit alles andere als bewusst, und das Spielen mit Eigenschaften war in seinem Wesen einfach nicht verankert. Überhaupt nahm er sich ohnehin nicht besonders wichtig, es mangelte ihm einfach vollkommen an überzogener Selbstdarstellung oder gar narzisstischen Attitüden. Und er empfand es eher belustigend, derlei Verhalten bei anderen zu beobachten. Bei solchen zum Beispiel, die sich bereits mit Eintritt in die Grundschule für den Beruf des Nobelpreisträgers entschieden hatten, und deren Eltern deshalb vorsorglich schon einmal die Visitenkarten drucken ließen.

Sam war einfach mit seinem Leben, so wie es für ihn lief, völlig zufrieden. Er verspürte nie den Drang Änderungen erzwingen zu müssen, hatte keine ausufernden Karriereziele und dachte bisher nicht im Traum daran, eine Familie zu gründen. Seine Beziehungen verliefen deshalb auch nicht so, wie es den jeweiligen Damen vorschwebte. Immer, wenn eine bestimmte Zeit des Zusammenseins vergangen war, wurde er mit ihren Zukunftsplänen konfrontiert, die ihm nicht recht geeignet schienen, seine aktuell empfundene Komfortzone im Tausch für diese aufzugeben. Zudem war seiner Ansicht nach das Artenspektrum und die Population potenziell geeigneter Aspirantinnen von ihm noch lange nicht ausreichend genug erforscht. In einem Land mit immerhin über 325 Millionen Einwohnern, von denen die Hälfte das passende Geschlecht aufwies, wollte er sich nicht voreilig festlegen. Seinen weiblichen Pendants gingen dann irgendwann die Lichter auf, und sie erkannten, dass Samuel Goldman wohl nicht der Richtige sein würde. Sie entschieden sich deshalb mehrheitlich, sich nach einem geeigneteren Anwärter für Familiengründung und Lebensgestaltung umzusehen, was in der Regel auch von Erfolg gekrönt war. Sam hatte nichts dagegen einzuwenden. So richtig verliebt war er zuletzt in der achten Klasse seiner High-School, was im Übrigen für ihn ohne nachhaltige Schäden blieb.

Auch beruflich hielt es Sam eher mit einer ausgeglichenen Gelassenheit. Eine Bank sei schließlich keine Gladiatoren-Arena, auch wenn es Kunden gab, die das anders sahen. Er war der Auffassung, nichts überstürzen zu müssen, denn mit der Zeit richtet sich alles in gewünschter Weise und Dimension. Und so kam es dann auch – wieder fast automatisch bei ihm – dass er Leiter einer kleinen Filiale der Public Bank of South Carolina wurde, mit einem hübschen, gläsernen Zwanzig-Quadratmeter-Eck-Büro, bei dem er im Bedarfsfall die Jalousien herunter lassen konnte, wenn er mit Kunden über das Hausdarlehen, ein Fondssparpaket oder die Kündigung ihrer Kreditlinie sprach.

Nun könnte noch einmal der Eindruck aufflammen, bei Samuel Goldman handelte es sich um einen eher trivialen Menschen, temperamentreduziert und mit dem Hang dazu, Lebenshürden zu umgehen, statt über diese risikofreudig und beherzt zu springen. Und auch das mitnichten. Sein attraktives Äußeres war schon das eine, und ließ es nicht zu, ihn der Gruppe von antriebsschwachen Menschen zuzuordnen. Er war auch kein mehläugiger Schlafwandler mit Wanderdünen-Charisma. Er war durchaus lebenslustig, humorvoll und eloquent. Er bediente sich zudem einer ausgefeilten und wohlklingenden Sprache und hatte einen Sinn dafür, diese mit intellektuellen Häppchen und Kostproben seiner Allgemeinbildung anzureichern. Das geschah aber nie aufgesetzt, nie mit künstlichem Bemühen, nie mit dem Ziel, sich mittels einer überzogenen Selbstdarbietung zu erhöhen. Vielmehr war es ein ganz einfacher Teil seines Wesens, wenig kapriziös und frei von dem Verdacht der Beifallhascherei. Weder Arroganz noch Überschläue wurde jemals von seinem Gegenüber empfunden, vielmehr die angenehme Erkenntnis, dass es sich bei ihrem Gesprächspartner um einen gebildeten Mann handelte, frei von Eitelkeit, offen, ohne Niedertracht und Hintergedanken. Kurzum: Man konnte ihm spontan vertrauen. Direkt und zielsicher, mitunter leicht süffisant, nie aber beleidigend oder gar anmaßend, schaffte er es in der Gesellschaft anderer spielend als unterhaltsam und schlagfertig zu gelten. Alles zusammen genommen – Geist, Bildung, Körpermaße, Attraktivität, Humor und Eloquenz – war Samuel Goldman alles andere als vielleicht zuvor vermutet.

*

Als die Götter aus ihren Füllhörnern das Glück über der Menschheit verteilt haben, stand Samuel Goldman durchaus auf einem der bevorzugten Plätze. Es fehlte allerdings auf den ersten Blick ein wenig an publikumswirksamer Spektakularität, welches das bittersüße Drücken in der Magengegend verursacht, wenn vom Glück anderer Menschen Kenntnis erlangt wird. Nicht jeder Klumpen Mist, den Sam in die Hand nahm, wurde unversehens zu Gold. Nein, es war viel profaner, ja geradezu trivial. Das normale Pech, welches jedem Menschen immer wieder und in unzähligen Lebenssituationen widerfährt, welches mal größer, meist aber auf der Skala von eins bis zehn die 2,5 nicht übersteigt, dieses Pech war ihm nahezu unbekannt. Es wäre nun falsch anzunehmen, dass es Sam nicht auch passiert war, einmal eine unschöne Schicksalsfügung zu erleben. Doch derlei erfolgt bei ihm in homöopathischen Dimensionen, die vom Leben so gering verabreicht wurden, dass deren Messung nicht gelang. Zudem empfand Sam solche Momente auch nie als beklagenswert oder gar dramatisch. Er nahm sie einfach nicht als solche wahr, sie gehörten dazu und würden schon für irgendetwas gut sein. Schließlich lief bei ihm nahezu alles schlichtweg positiv und in gewohnter Eintracht mit dem auf dem Fuße folgenden Eintreten glücklicher Fügungen. So, als fiele es ihm zu, das ständige Glück.

So begab es sich vor vielen Jahren, Sam war gerade sechs Jahre alt, als er mit anderen Jungs im nahegelegenen Park wieder einmal auf die Bäume kletterte. Und es standen dort ausgewachsene Platanen, deren Ausmaße deutlich über die dreißig Meter hinausgingen. Obwohl Sam auch beim Klettern stets bedacht vorging, geschah es, dass er für einen kurzen Augenblick unaufmerksam war. Er verlor den Halt unter seinen Füßen und stürzte, zuerst kopfüber, in die Tiefe. Dem sicheren Tod allerdings war er dennoch entgangen. Am Fuße des Baumes, direkt unter seiner Fallrichtung, wuchs ein dichter Haselnussbusch. Satte grüne Blätter rankten sich dicht an dicht um die dünnen, flexiblen Äste des Strauches. Sam krachte zwar in den Busch, doch dieser, von einer guten Vorsehung dort gepflanzte Strauch, federte Sam ab und er plumpste wie ein Waschbär auf den Sand, schaute kurz, stand auf, klopfte sich seine Hosen ab und strahlte. Nichts war passiert, alles war gut. Die Fallhöhe betrug stolze zwanzig Meter, was einem Sprung aus der sechsten Etage eines Appartementhauses entsprach. Die aufmerksam gewordenen Spaziergänger, auch der in Amerika stets zur richtigen Zeit anwesende Cop, und natürlich seine Spielkameraden staunten nicht schlecht. Das Kind musste einen sehr aufmerksamen Schutzengel haben. Oder war einfach ein riesiger Glückpilz.

Bei weitem erstaunlicher allerdings war ein Ereignis, welches sich ereignete, als Samuel Goldman Teenager war. Diese Geschichte erzählte man sich noch lange, denn sie war nicht nur wahrhaftig eindrücklich, sondern zugleich äußerst seltsam. Sam kürzte seinen Schulweg gern dadurch ab, in dem er die bequeme Fahrradstrecke verlies und die Schienen der Greenville & Western Railway Company überquerte. Das schien ihm keine Spur riskant. Trotz mehrerer parallel verlaufender Schienenstränge, war die Strecke an dieser Stelle gut zu übersehen und er brauchte nur von seinem Fahrrad abzusteigen und dieses kurzerhand über die Schienen zu tragen. Sodann konnte er seine Fahrt fortsetzen und war gute zehn Minuten schneller am Ziel.

Der Krug geht bekanntlich so lange zu Brunnen, bis er bricht. Und bis das so weit ist, kann es sein, dass der Teufel sich als Eichhörnchen verkleidet und uns Menschen mit Minimalismen quält. Die Crux steckte auch hier mal wieder im Detail. Sam überquerte wie immer die Schienen, sein Fahrrad behände geschultert. Doch plötzlich rutschte er inmitten eines Gleises seitlich weg und sein Fahrrad, das nun quer über ihm lag, verkantete sich unglücklich zwischen den beiden Gleisschienen. Sam wollte sich erheben, merkte aber sofort, dass sein Fahrrad störrisch blieb und ihn in seiner Position nicht freigeben wollte. Er rüttelte und versucht mit allen Kräften sich aus dieser Lage zu befreien. Sein Rad aber verharrte mit magischer Kraft und ließ sich nicht um einen einzigen Millimeter lockern. Da hörte Sam auch schon den herannahenden Zug. Er wusste, dass die Geschwindigkeit von diesem auf diesem Teil der Strecke hoch war. Er begann noch stärker am Rad zu rütteln, Verzweiflung machte sich breit, und er realisierte, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis ihn der rasende Zug, voran die schwere Diesellok, überrollen würde.

Sam hörte Rufe aus der Ferne. Zwei Arbeiter, die vielleicht dreihundert Meter entfernt an einer Zaunanlage tätig waren, hatten gerade die Situation bemerkt und das herannahende Unglück erfasst. Es war zu spät für sie, Sam zur Hilfe zu eilen. Sie riefen laut, wedelten mit den Armen und versuchten Sam klar zu machen, dass er doch schnellstens von den Gleisen sollte. Es schien aber so, als sei Sams Schicksal besiegelt. Der Lokführer gab verzweifelt Signal und hatte bereits die Notbremsung eingeleitet. Es war aber klar, dass ein Halt vor der Unglücksstelle unmöglich war, und damit der Zug unausweichlich über den Jungen und sein Fahrrad rollen würde.

Zwischen dem Zug und Sam lagen vielleicht gerade noch 50 Meter, da schlug das unter lautem Quietschen herandonnernde Ungetüm förmlich einen Haken, und rauschte mit tosendem Rattern auf dem seitlich neben Sam verlaufenden Gleis an ihm vorbei. Sams Haare und seine Kleidung flatterten durch den aufwühlenden Luftzug der Lok und der schweren Waggons. Etliche hundert Meter weiter, hinter Sam, kam der Zug zum Stehen. Die beiden Arbeiter hatten nun den Jungen erreicht, und gemeinsam konnten Sie ihn aus seiner unfreiwilligen Gefangenschaft von Rad und Gleis befreien, nicht ohne dabei kräftig zu fluchen und Sam mit Vorwürfen zu überhäufen.

Das Besondere an diesem Vorfall erklärt sich aber nicht allein aus der Tatsache, dass Sam, gottlob, auf dem falschen Gleis eingeklemmt war. Es war nämlich das richtige. Es war das reguläre Gleis, welches der Zug nach Stellplan der Greenville & Western Railway Company befahren sollte. Doch genau dieser Stellplan war an diesem Tag, vielleicht auch nur in dieser Minute, fehlerhaft. Ein Mitarbeiter hatte die Route und Gleiszuteilung eines anderen Zuges verwendet und damit die Weiche, die sich in nur wenigen Meter vor Sams Position befand, nicht geradeaus auf Sam zu, sondern zum anderen Gleis in Richtung der Industrieanlagen gestellt. Dieser Fehler rettete Sam das Leben.

Obendrauf brachte es ihm einen fast mystischen Ruf ein. Denn bei der Aufnahme der Fahrtunterbrechung und der sofort routinemäßig eingeleiteten Untersuchung stellten die Techniker der Greenville & Western fest, dass circa zwei Kilometer nach Sams Position ein Gleisbruch vorhanden war. Der Zugführer, der Sam fast überrollt hatte, bemerkte den Schaden ebenfalls, denn als er sich den Schweiß von der Stirn wischte und beim Verschnaufen nach links aus dem geöffneten Fenster schaute, hatte er freien Blick auf das Werk der Göttin Ate. Und seine Stirn wurde unmittelbar wieder nass. Er begriff sofort, dass die Fahrt auf dem vorgesehenen Gleis nicht nur das Leben dieses Jungen gekostet hätte, der donnernde Zug wäre zudem direkt auf den Gleisbruch zugerast, und es wäre zu einer fürchterlichen Katastrophe gekommen. Neben diesem unverschämten Glück des Bürschchens, war das eigentliche Glück bei weitem größer. Sam, dem nun unbestreitbar der Ruf als Liebling der Götter, zumindest der freundlich gesonnenen, und als Magier des Glücks anhaftete, wurde für eine kurze Zeit eine echte Berühmtheit in Greenville und Umgebung. Zudem Ehrenlokführer der Western Railway, was ihm ein paar Jahre kostenlose Fahrkarten sicherte.

Wäre er auf regulärer Strecke zur Schule gefahren, wäre er andernfalls vielleicht einfach nicht auf den Gleisen ausgerutscht, hätte er nur sein Fahrrad anders getragen, hätte sich das Rad nicht derart verklemmt, dann wären viele Menschen in den Tod gerast. Ja, natürlich, der Stellwärter hatte das mit seinem Fehler bereits verhindert. Der Zug wäre dann aber ungebremst mit Höchstgeschwindigkeit in die Industrieanlage gerauscht, was sicher ein noch größeres Destaster angerichtet hätte. Und eines Gedankens konnte man sich nicht erwehren: Hingen alle diese Zufälle nicht am Ende zusammen? Schicksalsfügung? Das Glück von Sam zugleich die Abwendung einer Katastrophe? Man mag als Realist und Pragmatiker nach kurzer Überlegung zu einfachen, sich selbst erklärenden und logischen Lösungen in dieser Sache gekommen sein. Der Nimbus Sams aber fand in jenen Tagen seine Grundsteinlegung. Gottlob, so empfand es vor allem auch die Familie Goldman, verblasste der Ansatz eines Mythos wieder schnell. Es wuchs reichlich Gras über der Angelegenheit, und Sam konnte sich für eine längere Zeit wieder ungestört seinem Heranwachsen widmen.

Wie an einer Perlenkette aufgeknüpft erlebte Sam fast schon regelmäßiger Weise Dinge, für deren glücklichen Ausgang man im Nachgang keine logische Erklärung fand. Man bemühte sich dann gerne der Physik und eher technischen Faktoren, die Ursachen der Fügung, Zusammenhänge und begünstigende Zufälle, anzuführen. Eine Korrelation der einzelnen Perlen miteinander, die auf Sams Glückfallkette nach und nach aufzuziehen waren, wurde nie in Erwägung gezogen. Nie wurde ein Gedanke daran verschwendet, dass nur in der Betrachtung des Ganzen die Sinnhaftigkeit erkennbar wird.

Und von diesen Perlen gab es viele. Ein weiteres Beispiel für eine solche lieferte Sam bei einer winterlichen Klassenreise zu den Rocky Mountains. Gemeinsam lernten sie das Skifahren, und am Tag vor der Abreise konnten alle in seiner Klasse, somit auch Sam, bereits ganz passabel fahren. Sam geriet auf der letzten Abfahrt, ganz ohne eigenes Zutun, leicht von der Piste ab und ehe er sich versah, verlor er die Kontrolle. Immer weiter entfernte er sich von seiner Gruppe, die bereits schon einige hundert Meter weiter abgefahren war. Der Schnee unter seinen Brettern wurde tief und das Manövrieren ihm unmöglich. Das Gelände wurde steiler. Die Geschwindigkeit erhöhte sich. Und mit einem Mal löste sich der Schnee unter ihm vom Hang, und Sam ritt für einen kurzen Moment auf einer abgehenden Lawine in einen Talkessel. Die Lawine war nicht allzu groß – gottlob – doch sie reichte, um Sam, der schnell sein Gleichgewicht verloren hatte, an die fünfzig Meter mitzuschleifen und unter einer Schneedecke zu begraben.

Bis Sams Fehlen bemerkt, die Suche eingeleitet und der Unglücksort gefunden wurde, vergingen über drei Stunden. Und es bedurfte nochmals dreißig Minuten, bis die Retter ihn unter dem Schnee entdeckten. Die Bergwacht und der anwesende Notarzt hatten jeder Hoffnung auf Sams Überleben eine Absage erteilt. Eine Chance, unter einer zentnerschweren Schneelast, ohne lange Sauerstoffzufuhr, in Eiseskälte, lebend zu überstehen, gab es ihrer Ansicht nicht. Doch Sam wurde nach fast vier Stunden nahezu unbeschadet, von einer leichten Unterkühlung abgesehen, quicklebendig aus der Lawine geborgen.

Dass das ein unverschämtes Glück war, bestritt natürlich niemand. Man suchte aber vielmehr nach der Logik, nach physikalischen Zusammenhängen, der zufälligen Konstellation von Faktoren und Einwirkungen, die das Überleben Sams erklären würden. Man kam zu dem Schluss, dass der Schnee ungewöhnlich locker war, und dadurch die Sauerstoffzufuhr möglich machte. Man ging zudem davon aus, dass Sam nicht ganz vom Schnee umgeben war, und sie konstatierten einen noch ausreichend vorhandenen Raum für Bewegung, der die Körperwärme des Verunglückten auffing und Sam vor dem Erfrieren bewahrte. Und schließlich war die abgegangene Lawine eine eher kleine, so dass in diesem Fall nicht alle, sonst stets tödlichen Größenordnungen zu verzeichnen waren. Alles glückliche Umstände? Sicher, aber ein Wunder mitnichten. Denn Physik galt ja auch für die, die sie nicht verstehen. Die Freude über das gute Ende dieses Vorfalls war dennoch groß, aber es kam erneut niemand in den Sinn, dieses neuerliche Geschehen mit Sams gesamtem bisherigem Glück zu korrelieren.

Aber man hätte es eigentlich bemerken müssen. Von diesen Perlen gab es in Samuel Goldmans Leben eine weit mehr als ungewöhnliche Anzahl. Einen Vorwurf hieraus zu formulieren wäre dennoch ungerecht. An Sams Glück hatte sich sein Umfeld längst ebenso gewöhnt, wie er selbst. Wer Zeit seines Lebens an den sonnigen und warmen Ufern Maledivens, unter Palmen und vor der Kulisse türkisfarbenen Wassers, an einem weißen Sandstrand lebte, dem käme kaum in den Sinn, dieses als ungerechte Vorteilsgabe zu verstehen. Der Feriengast aus London aber, dessen Jahreszeitwechsel sich lediglich dadurch auszeichnen, dass der Regen eben nur einmal kälter oder wieder wärmer ist, bemerkt hingegen sofort, dass es glücklichere Umstände gibt, als im dauerhaften Einflussbereich nordatlantischen Klimas zu leben. Vielleicht entwickelte sich ja auch genau aus diesem Grund der Wunsch des Empires nach fernen Kolonien in warmen, tropischen Regionen.

Sam war ein Kind der Sonne. Gedanken an Regen waren ihm fern. Die Sonne schien für ihn jeden Tag und so hatte sich, bei ihm gleichermaßen wie bei den anderen, nach und nach ein unbekümmertes Gefühl der Selbstverständlichkeit eingeschlichen, welches im Allgemeinen als Gewohnheit bezeichnet wird. So fehlte es ihnen schlichtweg an einschlägigen Momenten, ähnlich denen des Londoners Malediventouristen, der zum ersten Mal inmitten des Indischen Ozeans seiner Überwältigung durch große Augen und lautes Staunen Luft macht. Sie waren nicht mehr fähig dazu, denn es war ja nichts Besonderes für sie. Samuel Goldmans Glück war ihnen so alltäglich, wie es Adam und Eva der wolkenlose, blaue Himmel über dem Paradies war. Wer verschwendet in dieser Eintracht schon einen Gedanken daran, dass eine Schlange und ein profanes Stück Obst der Idylle ein jähes Ende bereiten wird.

*

Die Familie Goldman, bestand allein aus seinen Eltern und ihm als Einzelkind. Vater und Mutter nahmen in wohltuender Distanz, gleichfalls aber mit großem Herz und ständiger Hilfsbereitschaft, am Leben und dem Werdegang ihres Sams teil. Sie waren stolz auf ihn, ohne dabei die Nerven ihrer Mitmenschen durch ständige Berichte von Sams Tun und Lassen, durch eitles Loben oder glorreiche Erzählungen zu strapazieren. Inzwischen waren sie bereits ein wenig dem Lebensende näher gekommen, und sie hätten sich schon deshalb sehr über eine liebe Schwiegertochter und ein, zwei Enkelkinder gefreut. Als ausgewachsene Fatalisten aber hatten sie weder diesbezügliche Forderungen an ihn gerichtet, noch ein wirkliches Defizit empfunden. Ihr Sam wollte sich eben noch nicht entscheiden. Und früher oder später – das Schicksal sollte es wissen – würde Sam schon die Richtige gefunden haben.

Mit pragmatischem Optimismus haben sie sogar Gutes daran entdecken können. Einige von Sams Schulfreunden und Nachbarskindern waren mittlerweile wieder geschieden, mussten ihre teuren schönen Häuser verschleudern und sich mühen, sich mit ihren Verflossenen um Besuchszeiten der Kinder zu einigen, und – nicht zu vergessen – wer den Hund behielt. Auch der eine oder andere, der mit Stipendium und Elite-Abschluss zu einem scheinbar traumhaften Karriereeinstieg gelangen konnte, war in der Zwischenzeit hart, für alle hörbar, auf den Boden der Realität geknallt. Grämte sich, neben Schulden oder Gerichtsterminen, auch noch die verlorene Mitgliedschaft im geliebten Rotaryclub verkraften zu müssen.

Sam hatte solche ehrgeizigen Ziele nie verfolgt und wurde tatsächlich von den Konsequenzen eines allzu schnellen und selbstverliebten Aufstiegs verschont. Die Gescheiterten sahen in ihm deshalb nicht selten den wahren Glückspilz, einen, der fast traumwandlerisch die richtigen Register zur rechten Zeit zu ziehen vermochte. Maßvoll aber kalkuliert. Sie lagen mit ihrer Sichtweise zwar falsch, doch für ein gutes Image war das nicht abträglich. Und Sam war´s egal. Ihm erwuchs hieraus weder Schaden noch Nachteil.

Als die Nachricht von seinem Überleben des Flugzeugabsturzes in Südafrika seine Heimat erreichte, war die Aufregung groß. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Geschichte. Man wurde aufmerksam auf diesen Goldman, diesem wahren Kind des Glückes, der ein Liebling der Götter und Sonntagskind zugleich sein musste. Für sie, vor allem den sensationshungrigen Reportern, Zuschauern und Lesern, sorgten die Bilder von der Absturzstelle, den zerschellten Rumpfteilen, den brennenden Wrackteilen und seiner spektakulären Bergung aus dem winzigen Rest des Hecks für Furore. Seine offensichtliche Unversehrtheit, die ersten Interviews der Medien aus Durban und Johannisburg – ja vor allem aber die gemeinsamen Bilder mit den Managern der Airline – machten ihn fast über Nacht zu einer Glücks-Ikone. Allen wurde spontan klar, dass sein Überleben einer Chance gleichgekommen war, deren Wahrscheinlichkeitsbetrachtung die Vorstellungskraft eines Menschenverstandes überforderte. So viel Dusel war nicht von dieser Welt. Und jemand, dem so etwas passiert war, hatte das Potenzial für einen richtigen Helden.

Und wenn die Zeit eines Heroen gekommen ist, dann läuten zwar noch keine Glocken, aber es spüren alle, dass etwas Großes in der Luft liegt. Und man richtet seine Toga, zupft die Falten des Rocks zurecht. Denn es wird nun sicher spannend und aufregend werden.

*

Greenville, im Staate South Carolina, auf halber Strecke zwischen Atlanta und Charlotte gelegen, war eine angenehme und attraktive Stadt. Nun ja, mit 60.000 Einwohnern war diese eigentlich eher als Kleinstadt zu bezeichnen. Es ging hier gleichermaßen lebendig wie ehrlich zu. Dafür sorgten die ansässigen Wirtschaftsunternehmen, die überwiegend mit der Automobilindustrie verbunden waren, und natürlich die vielen Baptisten, die in der Region eine stattliche Anzahl ausmachten. Der bekannte Prediger und Bürgerrechtler Jesse Jackson war ein Kind der Stadt, ebenso, wie dessen leiblicher Vater, die ehemalige Boxlegende Noah Louis Robinson.

Sam hatte sich vor zwei Jahren ein kleines Haus gekauft. Eines dieser flachen Holzhäuser, mit kleiner, geländerumzierten Veranda zur Straße hin, mit einer hübschen roten Holztür, die harmonisch zu den Sprossenfenstern links und rechts passte, und seinem neuen Zuhause ein freundliches, fast schon lustiges Gesicht verlieh. Er hatte sich bewusst für den Stadtteil Pleasant Valley entschieden. Dieser lag verkehrsgünstig nahe des 85er Highways, zum anderen war dieser Teil von Greenville besonders beliebt, da viele kleine Wohnstraßen, im Grünen liegend, das Wohnen attraktiv machten. Bunte Vorgärten, unzählige Bäume, die fast alle Straßen des Viertels zu Alleen machten, gepflegte Häuser und freundliche Nachbarn. Das war Pleasant. Gefragt war die Gegend auch deshalb, weil dieses Wohnviertel fast genau zwischen dem Greenville Country Club lag, einem der schönste Golfplätze im Staate, und dessen zweiter Anlage, die nur von wenigen Straßen vom Hauptareal des Clubs getrennt einer schönen Parkanlage gleichkam.

Sam nutzte beim Kauf seines Hauses seinen Beruf und die damit verbundenen Gelegenheiten. Als Banker erfuhr er frühzeitig, dass ein Darlehen für ein kleines Haus in Pleasant Valley von den Eigentümern nicht mehr bedient werden konnte. Es handelte sich um einen der örtlichen Autohändler, der sich geschäftlich mit dem Gebrauchtwagenverkauf übernommen hatte. Sam bot ihm an, das Haus zu kaufen und ihn auf diese Weise zumindest vom Immobiliendarlehen zu entlasten. Für Sam war die Finanzierung kein Problem, für den Autoverkäufer bedeutete es schnelles Geld, und so ging der Deal flugs über die Bühne. Sam übernahm bequemer Weise auch gleich das gesamte Mobiliar und zog kurzerhand ein.

Mit dem Erhalt des Postens als Filialleiter der Bank wurde Sam die zeitgleich auch die Mitgliedschaft im Country Club angeboten, was er natürlich nicht ausschlug. So standen ihm die Anlagen in seiner unmittelbaren Wohnlage zur Verfügung, und Sam überlegte einige Zeit, ob er tatsächlich das Golfen beginnen sollte. Er nahm sogar erste Stunden beim Golftrainer, schaffte seine Platzreife, ließ es hiernach aber dabei bleiben. Nicht, dass es ihm etwa keinen Spaß gemacht hätte. Es wurde ihm schnell zu teuer und der Wirbel der Clubmitglieder um die auffällige Reihe seiner Whole-in-Ones war ihm unangenehm. Er schlug tatsächlich bereits während seiner ersten Stunden auf der Trainings-Range mehrmals den Ball mit einem Schwung vom Abschlag ins Loch. Nicht bei den Langbahnen, dazu waren die Entfernungen zu groß. Bei den Löchern mit geringerer Distanz dafür auffallend häufig. Das sprach sich herum. Und da es üblich war, allen Anwesenden im Club für derlei Schläge einen Drink auszugeben, machte es schnell die Runde, wenn Sam trainierte oder eine Übungsrunde mit dem Pro absolvierte. Sie fanden heraus, dass es sich lohne, einen Späher zu entsenden, dem die Beweisführung oblag, an welchem Loch und wie oft Sam mit einem einzigen Schlag den Ball im Ziel versenkte. Da er das durchaus auf stolze vier- oder fünfmal brachte, hatten alle Mitglieder eine große Freude, selbst wenn sie dem Alkohol nicht übermäßig zusprachen. Wenn Sam spielte, gab es immer Spektakel.

Seine Treffsicherheit hatte nichts mit seiner Befähigung für den Golfsport zu tun. Als Naturtalent konnte man ihn nicht verstehen. Seine Schwünge, seine Haltung, die Fuß- und Beinstellung, die Körperdrehung, ja selbst die Art und Weise, wie er den Griff des Golfschlägers mit seinen Händen umfasste, war eher nicht geeignet, als Insignium schlummernden Talents gedeutet werden zu können. Es ließ vielmehr die Erkenntnis zu, dass Sam allenfalls ein guter Holzhacker, jedoch wohl nie ein guter Golfer werden könnte. Mit seiner Körpergröße hatte er ohnehin zu kämpfen, da er sich noch nicht durchgerungen hatte, sich ein Set mit Überlänge zu beschaffen. So sah es dann auch tatsächlich derbe und ungehobelt aus, wenn er zum Schlag ausholte.

Dass er dennoch so ungewöhnlich häufig einen dieser seltenen Schläge fabrizierte, zudem vom Fairway aus immer wieder unmöglich erscheinende Bälle einzulochen vermochte, wo selbst versierte Spieler, Profis mit Plus-Handicap, Probleme gehabt hatten, war das eigentlich Sensationelle. Natürlich machte Sam häufig ganz außerordentlich dämliche Fehler, stellte sich mehr als ungeschickt an, schlug weit vor dem Ball ins Gras, so dass ein Rasenstück, nicht aber der Ball, durch die Luft wirbelte, schwang meilenweit am Tee vorbei, malte wirre Löcher in die Luft, und katapultierte nicht selten statt des Balls ein Eisen oder den Driver beim Ausswingen in Richtung der Fahne. Der Bewunderung seiner Traumbälle vom Abschlag direkt ins Loch standen seine trottelhaft anmutenden Fehlschläge gegenüber. Und das empfanden alle als zusätzlichen Unterhaltungswert.

Sam benötigte mitunter aber auch übermäßig viele Versuche, selbst einfachste Bälle auf das Green zu bringen und einzulochen. An einem Tage waren es zweiunddreißig erfolglose Schläge, den Ball aus dem Sandbunker am Loch 18 in Richtung der Fahne und auf das Green zu bringen. Unter tosendem Gegröle der Golfer auf der angrenzenden Terrasse gab er ein wahres Schauspiel ab, welches er schließlich bockig beendete, in dem er den Ball mit der Fußspitze in Richtung der Zuschauer kickte, woraufhin dieser in der Tasse Earl Grey der Stadträtin Elly Sherman – pikanter Weise auch noch englischer Abstammung – landete. Kein Wohle-in-One – aber ein eindrückliches Kunststück. Gottlob nahm Mrs. Sherman das sportlich und nicht als unzivilisierten Akt gegenüber dem Ursprungsland dieser Sportart. Sie äußerte sogar eine gewisse Anerkennung und attestierte dem Kunstschützen einen ausgesprochen guten Geschmack, denn dieser hatte immerhin ihrem Tee gegenüber dem gewöhnlichen deutschen Bier am Nebentisch den Vorzug gegeben. Sam erhielt deshalb Applaus. Und so war es dann auch nicht verwunderlich, dass er schon nach kürzester Zeit nicht mehr Sam, sondern `Mister-One´ gerufen wurde – der Anfänger mit dem unverschämten Glück.

Sam mochte diese Freude nicht lange teilen. Es wurde ihm zu viel Brimborium um seine Löcher gemacht und er entschied sich deshalb, das geliehene Schlägerset erst einmal wieder zurück zu geben und ein wenig Abstand zu dieser Sportart zu nehmen. Alle Versuche seines Pros ihn zum Weitermachen zu bewegen, schlugen fehl. Sam versprach ihm aber, nur pausieren zu wollen und es in Bälde wieder fortzuführen. Der Trainer konnte also noch hoffen, denn er war der festen Überzeugung, dass mit einem solchen Spieler viel Geld zu verdienen war.

*

Sam landete kurz vor Mitternacht auf dem internationalen Flughafen von Spartanburg, unweit von Greenville. Seine Unglücksairline hatte ihm zwar angeboten, auch eine Schiffspassage von Durban nach New-York zu organisieren, doch Sam entschied sich schnell für den Flug nach Hause. Es war nicht etwa so, dass er bei dem Gedanken ans Fliegen, oder gar beim Betreten eines Flugzeuges nun ein Problem gehabt hätte. Sicher wäre es das Normalste der Welt gewesen, wenn ihn nach einem solchen Unglück, einem Absturz mit nur ihm als einzigen Überlebenden, keine zehn Pferde mehr auch nur in die Nähe eines Flughafens gebracht hätten. Doch Sam meinte, er würde das schon aushalten.

Ester und Jakob Goldman empfingen im Ankunftsbereich ihren Sohn. Gern wären die beiden mit Sam ein wenig ungestörter geblieben, denn das Glück, welches Mutter und Vater empfanden, als sie ihren Sohn in die Arme nahmen, ihrem Jungen, der dem Tod gerade von der Schippe gesprungen war, hätte eine ungestörte Privatsphäre gerechtfertigt. Doch blieb es bei dem frommen Wunsch der beiden, denn um sie herum belagerten mehr als zwei Dutzend Reporter und Fotografen die Ankunftsplattform und drängelten sich dicht an dicht vor der milchigen Automatiktür aus Glas, durch die alle ankommenden Fluggäste hindurch mussten. Immer wieder öffnete sich der Ausgang und man konnte für einen kurzen Moment die herankommenden Fluggäste erspähen. Dann schlossen sich die Ausgangsflügel wieder und die Spannung wuchs mit jedem Mal des neuerlichen Öffnens.

Und dann war er da. Samuel Goldman, ein wenig blass und erkennbar übermüdet, doch mit ungebrochenen, strahlenden blauen Augen, die unter den welligen braunen Haaren seinem Gesicht stets ein Leuchten verpassten, welches selbst unaufmerksamen Beobachtern sofort auffiel. Da er keine Koffer mehr besaß, denn diese lagen unter den Trümmern in Durban, schlenderte er mit einer fast provokanten Gelassenheit an den anderen Fluggästen vorbei. Doch als er den Auflauf der Presse erblickte, schaute er sich nach seinen Eltern um, fast ein wenig hilflos, immer mehr bedrängt von Kameras, Mikrofonen und schnatternden Mündern, die ihm unsinnige Dinge fragten.

Sam wurde sofort klar, dass er dieser Meute nicht einfach entfliehen konnte. Er musste sich ihnen stellen, er sah keinen anderen Ausweg. So blieb er kurzerhand stehen, atmete einmal tief durch, schaute in die Runde und begann zu lächeln. Ohrenbetäubend prasselte erneut ein Wirrwarr von Fragen auf ihn ein, mischte sich das fortwährende Klicken der Kameraauslöser bei, und die Pöbeleien der Medienvertreter unter sich, die sich immer mehr stritten, wer wo zuerst gestanden hätte, und wer nun eigentlich das Vorrecht für die ersten Fragen innehalten würde.

Wie fühlen Sie sich? Was geht jetzt in Ihnen vor?

Sind Sie glücklich, wieder hier zu sein?

Was bedeutet es für Sie, einziger Überlebender zu sein?

Werden Sie die Fluggesellschaft verklagen?

Was war Ihr letzter Gedanke?

Was werden Sie jetzt als Erstes machen?

Glauben Sie jetzt an Gott?

Welche Lottozahlen werden Sie tippen?

Und die Fotografen übertrumpften sich gegenseitig mit Anweisungen in Sams Richtung, wie er zu schauen hätte und wedelten mit allem Zeug, um seine Blicke auf sich zu lenken.

Können Sie nochmal in die Kamera lachen?

Sam, gucken Sie hierhin …! Nochmal, Sam!

Mr. Goldman – hier!

Schauen Sie mich verdammt einmal an!

Könnten Sie bitte jetzt mal weinen!

Los, mach das Siegeszeichen!

Hierher, Arschloch! Nicht immer nur nach rechts!

Goldman! Küssen Sie mal den Boden …!

Mehrere TV-Sender waren ebenfalls zugegen. Die Kameraleute versuchten, teils verzweifelt, teils mit roher Gewalt, sich in der Menge so zu positionieren, dass ihr Reporter mit dem Mikrophon in Stellung vor Sam geraten konnte. Wem es irgendwie gelang, hatte größte Mühe, sich in seiner Pol-Position zu halten. Es wurden Sam die Mikrophone hingestreckt, und er konnte an den aufgesteckten bunten Schutzkappen erkennen, welche Sender zugegen waren. Es war ein ungeheures Durcheinander in dem jeder Überblick, jede Ordnung unmöglich schien. Zudem hatten sich viele Menschen um das Spektakel herum versammelt und wollten sehen, was für ein Prominenter denn da im Mittelpunkt stehen würde. Sie hielten ihre Smartphone in die Luft, schossen ihre Fotos oder versuchten ein Videomitschnitt zu machen.

Sam spürte einen festen Griff am rechten Oberarm und wurde gleich darauf mit einem kräftigen Ruck weggezogen. Er blickte in die mürrischen Gesichter mehrerer uniformierter Sicherheitsbeamten des Flughafens, die ihn nun schützend umzingelt hatten und Schritt für Schritt durch den Menschenauflauf durch den Empfangsbereich führten. Sam sah sich immer wieder um. Er wusste, dass seine Eltern irgendwo in der Menge ihn warteten. Nur entdecken konnte er sie nicht. Er stolperte mit der Security zu einer Seitentüre, die kurz danach geöffnete wurde, und er war in Sicherheit. Sie brachten ihn in den VIP-Bereich des Airports, wo er erschöpft und sichtlich fassungslos in einen der Sessel fiel. Sam brachte noch heraus, dass seine Eltern zu ihm geholt werden sollen und man versprach, sie ausrufen und hierher bringen zu lassen. Nach einigen Minuten, die ihm schier endlos vorkamen, erschienen Ester und Jakob Goldman in der abgeschirmten Lounge, und sie fielen sich überglücklich in die Arme.

Das geliehene Glück des Samuel Goldman

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