Читать книгу Das geliehene Glück des Samuel Goldman - Stefan G. Rohr - Страница 5

Kapitel 2

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Paul Wayne war bei NCCB eine Institution. Er galt als knallhart und war berüchtigt für sein untrügliches Gespür für erfolgreiche TV-Formate und gute Stories. Er hatte nun schon mehr als dreißig Jahre Erfahrung auf dem Buckel und zog erbarmungslos, mit traumwandlerischer Sicherheit für Effekte und Quoten, an den Strippen des Senders. Wayne war ein Halbgott der Branche, ach was, ein Gott. Er war einer der Vorreiter der Sensationsberichtserstattung, und peitschte seine Reporter und Journalisten mit unablässiger Dominanz stets an die vordersten Stellen der Brennpunkte. Er war die graue Eminenz des Geschäfts. Er bewegte seine Mitarbeiter wie Marionetten, und wer nicht mithielt, wer die gewünschten Erfolge nicht brachte, flog schnell im hohen Bogen aus seinem Team, meist gleich aus dem Sender. Aber wer es bei ihm schaffte, war gleichsam zum Ritter geschlagen.

Wayne war schlank und hatte, mit nun schon fast sechzig Jahren, volles weißes Haar. Er trug dieses stets mit Festiger versetzt nach hinten gestriegelt, und hielt hieran, gleich einem Markenzeichen, seit Anbeginn seiner Fernsehtage fest. Diese Frisur verlieh ihm das Aussehen eines sensiblen und kunstverliebten Orchesterdirigenten. Sein dicker, grauer Schnauzbart war durchaus in der Lage, diesen Eindruck zu unterstreichen. Wer Paul Wayne aber kennenlernte, stellte schnell fest, dass dieser Mann weder ein Hort schlummernder Urgemütlichkeit, noch zartfühlender Empathie war.

Wayne saß, wie immer im weißen Oberhemd und mit breiten blau-weiß-roten gestreiften Hosenträgern, in seinem Büro und hatte am großen Besprechungstisch Platz genommen. An diesem Tisch fand sich täglich die Prominenz seiner Journalisten zusammen, zur Chefredeaktionsbesprechung. Vor ihm stand ein dampfender Kaffeebecher – sein Kaffeebecher – auf dem der Spruch stand: TV ist Krieg. Er bezeichnete sich selbst als Warlord der Medien, als Heerführer von Elitesoldaten mit Kamera, Mikrofon und Schnittraum. Es war noch früh am Morgen, der Tag nach Samuel Goldmans Rückkehr.

Wayne hatte seine Brille, die ihn mit ihren breiten schwarzen Rändern nochmals bedrohlicher aussehen ließ, auf die Stirn geschoben, drehte nachdenklich, mal nach links, dann wieder rechts, seinen Kaffeebecher vor sich auf der Tischplatte, und er verharrte in dieser Position, als Mary Thompson den Raum betrat. Sie setzte sich sogleich, wie immer ohne dazu von ihrem Chef aufgefordert worden zu sein, zwei Stühle neben ihn, und knallte ihren eigenen Becher mit schwarzem Kaffee unüberhörbar auf den Tisch. Dann wandte sie sich, ohne die Eröffnung von Wayne abzuwarten, direkt an ihn.

„Lass` mich raten, Paul,“ begann Mary, „es geht um die Goldman-Story! Und Du wirst mir gleich mit ewiger Verdammnis und dem Höllenfeuer drohen, falls ich Dir diese nicht sofort exklusiv besorge.“

Mary Thompson schaute dabei mit ihren sanft wirkenden, großen braunen Augen auf Paul Wayne, der immer noch mit leicht gesenktem Kopf da saß und seinen Becher drehte. Er kannte Mary nun einige Jahre. Zunächst war sie ihm beim Wettbewerbssender CKC aufgefallen, dann, nachdem er sie in einem eineinhalbminütigen Gespräch abgeworben hatte, war sie zur Elite in seinem Team aufgestiegen. Sie entpuppte sich unmittelbar als Universalwaffe für besonders knifflige Reportagen. Mary sah blendend aus. Und das war ihrem Chef überhaupt nicht egal, denn ihre Schönheit war eine häufig entscheidende Eigenschaft im Kampf um Interviews und exklusive Reportagen. Ja, Mary hätte durchaus Karriere als Modell machen können, auch jetzt noch, trotz ihres Alters von zweiunddreißig Jahren. Sie trug mit Vorliebe blaue Kostüme, mit engen Röcken, die eine Handbreit über den Knien ihre langen und schön geformten Beine zur Geltung brachten. Aber Paul sah sie nicht als Frau, sie war allein Teil seines Arsenals, eine Waffe, eine extrem erfolgreiche Söldnerin, zudem mit höchsten Einschaltquoten.

Zwischen Marys Eröffnung und Pauls Antwort vergingen ein, zwei Minuten des Schweigens. Mary wartete geduldig ab. Sie kannte diese Situationen und wusste, dass sie ihm nun das Wort zu lassen hatte. Paul beendete urplötzlich sein Schweigen und blickte mit scharfem, stechenden Blick aus seinen hellblauen Augen auf seine Mitarbeiterin.

„Vielleicht ist es nur eine Eintagsfliege, diese Goldman-Sache“, begann er leise, „vielleicht ist das Ganze der Mühe nicht wert. Der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes ist dann sicher nicht Programmfüller für viele Wochen, aber …. Irgendeine Stimme in mir schreit danach, die Story zu kriegen. Ja mehr noch. Meine Nase, ja, mein ganzer Körper, selbst beim Pissen, sagt mir: Paul, da steckt was drin. Das hat Potenzial. Ich rieche es förmlich.“ Und nach einer winzigen Pause fügte er hinzu: „Mary, ich will Goldman für NCCB, habe ich mich klar genug ausgedrückt?“

Mary nickte kurz und stand auf. „Es wäre für mich auch unerträglich dafür verantwortlich zu sein, dass Du auch noch auf dem Klo Stimmen hörst und Dir vor Schreck die Schuhe vollpinkelst.“ Sie nahm ihren Kaffeebecher und ging zur Türe. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihrem Chef um. „Ich habe also freie Hand … freies Budget …?“

Paul Wayne hatte seinen Kopf wieder gesenkt und drehte erneut seinen Becher herum. Und als er kurz nickte, ging Mary hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ein kurzes Aufatmen, dann drückte sie ihr Kreuz durch und verschwand mit vernehmbarem Klackern ihrer Absätze in ihr kleines, dafür aber umso schöner gestaltetes Büro.

Wayne grinste vor sich hin. Das war seine Mary, unverwechselbar. Und er lächelte weiter. `Goldman, Du kleiner Scheißer. Was ist dran an Dir? Was birgst Du für ein Geheimnis? Irgendwas ist da … ich weiß es. Und ich werde Dich kriegen, darauf kannst Du Deinen Arsch verwetten´.

Mary Thompson saß bereits schon wieder auf ihrem Schreibtischstuhl. Sie hatte ihren Assistenten vor sich und diktierte ihm gerade die ersten Anweisungen. Peter McDorman sollte das Team zusammenholen, und zwar gleich. Zudem hatte er sich höchstpersönlich selbst an die Arbeit machen und alles – wirklich alles – über Samuel Goldman aus Greenville, South Carolina, in Erfahrung zu bringen.

„Peter“, begann sie knapp und ein wenig herrisch, „durchleuchte den Kerl von Kopf bis Fuß, ist das klar? Ich will alles über ihn wissen, wann er das erste Mal onaniert hat, die Lieblingsfarbe seiner Unterhosen oder ob er überhaupt welche trägt. Vorlieben, Laster, ob er pervers ist und wenn ja, Bilder dazu. Kurzum: Ich will ihn nackt und nach vorn gebeugt vor mir haben.“ Sie wollte ihren Assistenten damit schon herausschicken, doch dann fügte Mary noch hinzu: „Zuerst aber besorg mir alle seine Telefonnummern, Emailadressen und … Du weißt schon. Alles, damit ich mit unserem Goldstück Kontakt aufnehmen kann. Also auch die Nummern seiner Frau, seiner Geliebten, seines Hundes und natürlich der Familie – das alles bitte bis gestern!“

Kurz darauf erschien Marys Team. Da war der Kameramann, die Regieassistentin und die zwei Produktioner, die im Außendienst vor allem als Hiwis verwendet wurden, deswegen meist wie Falschgeld herumliefen und vom Rest mit lauten Befehlen von links nach rechts geschickt wurden. Mary Thompson war in ihrem Element. Wie aus dem Handgelenk gestaltete sie ein kurzes, knackiges Briefing zum Vorhaben, welches mit den Worten endete, dass alle auf Stand-by zu bleiben haben, es können jederzeit losgehen. Das Ganze dauerte zehn Minuten, dann war es wieder vorbei und alle stoben auseinander.

Mary setzte sich an ihren Computer. Über die Suchmaschine begann sie, sich die Berichte und Fotos über den Flugzeugabsturz in Durban anzuschauen. Sie wurde schnell fündig. Medien in fast allen Ländern der Erde hatten bereits darüber berichtet. Keiner von diesen aber schien über etwas Exklusives zu verfügen, keine längeren Interviews, keine persönlichen Fotostrecken. Es sah so aus, dass noch niemand wirklich vorne war. Das aber konnte sich jede Minute ändern, Zeit hatte sie also nicht zu verlieren.

Sie schaute sich verschiedene Fotos von Sam Goldman an. Ein hübscher Kerl, der ihrer spontanen Meinung nach durchaus auch Footballstar hätte werden können. Er sah überdies recht sympathisch aus, zugänglich, nicht unbedingt eitel, vor allem aber attraktiv und interessant. Ihr fielen seine Grübchen auf und für einen kurzen Moment kam ihr in den Sinn, das dieser Bursche, hätte er sie zuvor irgendwann einmal in einer Hotelbar angesprochen, das Zeug für einen Treffer bei ihr hatte. Doch, wie gesagt, dieser Gedanke flog ihr nur kurz durch den Kopf – dann war sie wieder bei der Sache.

Ihr Assistent hatte schnell gearbeitet und kam, sichtlich stolz und mit geschwollener Brust in Marys Büro gestürzt.

„Erste Fakten,“ begann Peter McDorman aufgeregt, „willst Du sie hören?“

„Wozu?“ Mary setzte ihr Pokerface auf. „Du willst doch fristlos gekündigt werden … leg schon los, Idiot!“

Peter McDorman, seine irischen Vorfahren hätten ihn nicht verleugnen können, war ein kleiner, leicht verschlagen wirkender Bursche von fünfundzwanzig Jahren. Er konnte ein Prädikatsexamen vorweisen und machte die Nachteile, die Mutter Natur bei der Verteilung von Schönheitssammelpunkten an ihm eingespart hatte, durch einen messerscharfen Verstand und eine Schnelligkeit auf, die oft nur mit Laserpistolen messbar war. In seinen Herangehensweisen war McDorman meist listig bis rotzfrech, Skrupel schien er höchstens beim Betreten des Vatikans zu entwickeln, und er war als Assistent, um es kurz zu sagen, der wahrgewordene Traum für jede investigative Journalistin. Mary wusste und schätzte das durchaus.

Peter McDorman stand immer noch. Er hielt seinen Notizblock vor sich, wie ein Chorknabe das Notenblatt, und begann zu berichten: „Samuel Goldman, sechsunddreißig Jahre alt, geboren in Greenville. Einziger Sohn von Jakob – der Vater – und Ester – die Mu….“

Mary unterbrach wirsch: „Kommt noch irgendwann was Interessantes?“

McDorman nickte: „Ok – also … mmmh … Ester, die Mutter … blablabla …. blabla … hier, jetzt kommt´s. Ich habe einige ältere Artikel über ihn gefunden. War ganz einfach. Viel kann ich zwar noch nicht sagen, habe diese nur kurz überflogen. Aber so viel ist sicher: Der Bursche scheint ein echter Glückspilz zu sein. Ich meine, der Absturz war nicht das erste seiner Wunder, wenn ich so sagen darf. Dein neuer Freund scheint ein echter Überlebenskünstler zu sein.“ Er hielt inne und versicherte sich der Wirkung seiner Worte auf seine Chefin.

Mary schaute ihn an. „Und? Was heißt das konkret? "Hast Du mehr….?“

„Stelle ich Dir noch alles zusammen.“ antwortete der junge Mann lässig. „Ein wenig Zeit brauche ich schon noch dafür.“

Mary schaute auf ihre Armbanduhr. „Du hast zwei Stunden.“ Und nach einer kurzen, aber klar verständlichen rhetorischen Pause fragte sie nach: „Ist er verheiratet, hat er Kinder und … na, Du weißt schon, das Übliche?“

McDorman grinste: „Nichts von alledem. Wie ich schon sagte, ein echter Überlebenskünstler.“ Und mit sichtbarem Stolz hielt er Mary einen Zettel hin. „Alle Telefonnummern und so weiter … seine Adresse, die von den Eltern, von seiner Bank – er ist nämlich Banker – und …. Du wirst staunen, seine ganz persönliche und vor allem geheime Mobilnummer, die nicht veröffentlicht werden darf.“

Mary schaute auf und lächelte: „Legal oder muss ich jetzt mit Zuchthaus rechnen?“ ohne jedoch seine Antwort abzuwarten fügte sie an: „Mir auch egal. Du musst ja dort duschen. Her mit der Nummer, mach schon, Du Zecke!“

McDorman wurde rot vor Stolz. „Deine Einfühlsamkeit in Ehren, aber die Nummer habe ich von einem ehemaligen Mitstudenten, der bei dem Mobilfunkanbieter arbeitet. Goldman hat sich diese vor kurzem beschafft. Der will als Banker wohl keine unerwünschten Anrufe unterbezahlter Redaktionsassistenten bekommen.“

„Damit ist spätestens ab heute für ihn Schluss.“ prophezeite Mary spitz. „War´s das bislang?“

„Liebe Jury, das waren die Ergebnisse der ersten dreißig Minuten. In Kürze werden weitere Fakten folgen.“ konterte Peter mit breitem Grinsen.

Mary schaute ihn bohrend an: „Sag mal, Kleiner. Wie alt bist Du eigentlich?“

„Fünfundzwanzig!?“ McDorman wusste nicht so recht, worauf Mary in diesem Moment hinaus wollte.

„Wenn Du noch Sechsundzwanzig werden willst, schiebst Du Deinen Arsch jetzt aus meinem Büro!“ Mary sah ihn weiter an, so als gebe sie ihm genau noch zwei Sekunden, um in Bewegung zu kommen. Er verstand sofort und machte einen Schritt nach hinten. Ein wenig milde fügte sie hinzu: „… fürs Erste schon mal nicht schlecht. Sagen wir: eine Dreiminus. Also besser Dich, sonst fliegst Du!“

McDorman konnte das als größeres Lob auffassen. Denn Mary Thompson lobte nie viel mehr, und eine Dreiminus lag schon in den obersten zehn Prozent auf ihrer Bewertungsskala. Er machte wortlos kehrt und schnellte wieselflink aus Marys Büro. Und sie drehte sich auf ihrem Stuhl zum Fenster, sah über die Innenstadt von Greenville, dem Hauptsitz von NCCB, dem TV-Sender, in dem ihre Karriere so richtig durch die Decke gehen sollte.

Das geliehene Glück des Samuel Goldman

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