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1.3.3Und wo bleibt der Mensch? Zur Rolle der Organisationsmitglieder
ОглавлениеBis jetzt wurde dem Leser zugemutet, kommunizierte Entscheidungen als Elemente einer Organisation zu betrachten. Dies widerspricht vordergründig dem alltäglichen Bild von Organisationen. Eine Beratungsstelle besteht schließlich aus Beratern, ein Jobcenter aus Fallmanagern und ein ASD eines Jugendamtes aus den ASD-Mitarbeitern. Auch die klassische Betriebswirtschaftslehre hat sich lange Zeit darauf berufen (und tut dies bisweilen immer noch), dass die Angestellten und Arbeiter die Elemente des Systems »Unternehmen« sind, die dann zu Subsystemen (Abteilungen, Divisionen o. Ä.) zusammengefasst werden (vgl. Simon 1997, S. 119).
Ein solches – stark auf den Menschen fokussiertes – Bild von Organisationen erhält allerdings erste Risse, wenn man feststellt, dass Organisationen zum einen in der Lage sind, ihre Organisationsmitglieder zu überleben, und zum anderen nicht zusammenbrechen, wenn sie sich von einem Teil ihrer Organisationsmitglieder – freiwillig (z. B. durch den Eintritt in das Rentenalter) oder unfreiwillig (z. B. durch Kündigung) – verabschieden müssen. Zudem müssen auch die Vertreter der klassischen Betriebswirtschaftslehre anerkennen, dass sich Organisationen »in einem Prozess der Emergenz von den individuellen Ausgangspunkten unabhängig machen und dabei Systemeigenschaften produzieren, welche aus den Eigenschaften der Elemente (Personen, Handlungen) nicht mehr erklärbar sind« (Willke 1999, S. 55). Die etwas abgedroschene Phrase, Organisationen seien mehr sind als die Summe ihrer Teile, beschreibt jene emergenten Phänomene, die sich nur eingeschränkt erklären lassen, wenn Organisationen lediglich als Ansammlung von Menschen betrachtet werden, die sich im Kollektiv der Erreichung organisationaler Zwecke verschreiben.
Systemtheoretische Annahmen geben Hinweise, um sowohl den emergenten Charakter von Organisationen zu erklären als auch deren Fähigkeit, sich in gewisser Weise von ihren Mitgliedern »unabhängig« zu machen. Hierzu wird das klassische Verständnis hinsichtlich der Beziehung zwischen Menschen und Organisationen allerdings auf den Kopf gestellt, da Menschen der Umwelt von sozialen Systemen und damit auch der Umwelt von Organisationen zugeordnet werden (vgl. Zauner 2007, S. 152). Dies mag zunächst abstrakt und möglicherweise auch befremdlich klingen, da sich insbesondere Organisationen der Sozialen Arbeit doch gerade eben dadurch auszeichnen, dass sich deren Mitarbeiter nicht selten hochgradig mit den Zielen der Organisation identifizieren und sich voll und ganz in die Organisation einbringen. Menschen als Teil der Umwelt einer Organisation zu betrachten ist somit erklärungsbedürftig.
Verständlicher wird eine solche theoretische Zumutung, wenn zunächst einmal konstatiert wird, dass sich im Menschen eine Vielzahl von eigenständigen – autopoietischen – Systemen befindet, etwa »das organische System, das Immunsystem, das neurophysiologische System und das psychische System –, die sich zwar wechselweise beeinflussen, in ihrem Operieren aber überschneidungsfrei agieren. Alle diese Prozesse lassen sich schlicht nicht zu einer (autopoietischen) Einheit ›Mensch‹ zusammenfassen« (Groth 2013, S. 88). Dies ist der Grund, warum diejenige, die Magenschmerzen hat (organisches System), nicht zwingend verrückt werden muss (psychisches System), dies ist aber zugleich auch der Grund, warum derjenige, der Angst oder das Gefühl hat, verliebt zu sein (psychisches System), durchaus an Herzrasen oder übermäßiger Schweißproduktion (organisches System) »leiden« kann. Organische und psychische Systeme operieren also jeweils autonom, aber eben nicht autark. Beide sind auf ihre Umwelt angewiesen, und beide sind zugleich füreinander Umwelt. Eine wechselseitige Beeinflussung ist daher möglich, aber nur in dem Sinne, dass das eine System das andere im Zuge einer strukturellen Kopplung irritieren4, nicht aber determinieren kann. Körper (organisches System) und Geist (psychisches System) können daher aus einer analytischen Perspektive als jeweils eigenständige autopoietische Systeme und deswegen als gegenseitige – zugegebenermaßen höchst relevante – Umwelten betrachtet werden. Beobachter nehmen sie aber als Einheit in Form des Menschen wahr. Dass es unter Umständen dennoch hilfreich sein kann, sich der analytischen Differenzierung zu vergewissern, zeigt sich beispielsweise beim Umgang mit psychosomatischen Erkrankungen.
Ähnlich verhält es sich mit Menschen und Organisationen. Kaum ein Systemtheoretiker würde bestreiten, dass Menschen in Organisationen arbeiten und Menschen diejenigen sind, die tagtäglich Entscheidungen innerhalb einer Organisation ermöglichen. Um aber besser verstehen zu können, wie diese Entscheidungen getroffen werden, und um – hierauf basierend – den Versuch zu unternehmen, steuernd auf ein Organisationssystem Einfluss zu nehmen, kann es äußerst vorteilhaft sein, zwischen dem sozialen System »Organisation« und dem psychischen System »Mensch« zu differenzieren (wohlwissend, dass der Mensch natürlich eine Kopplung weiterer autopoietischer Systeme darstellt).
Wie schon bei der Differenzierung zwischen Körper und Geist gilt es auch bei der Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen Systemen, zunächst deren unterschiedliche Operationsmodi zu beachten: Während soziale Systeme ihre Autopoiese dadurch aufrechterhalten, dass Kommunikationsakte an Kommunikationsakte anschließen, gewährleisten psychische Systeme ihre Autopoiese dadurch, dass sie Gedanken »rekursiv in einem geschlossenen Netzwerk ohne Kontakt mit der Umwelt reproduzieren« (Baraldi, Carsi u. Esposito 1997, S. 142). Das Überleben eines psychischen Systems ist also davon abhängig, dass stets neue Gedanken an vorherige Gedanken anschließen.
Sowohl soziale Systeme als auch psychische Systeme agieren hierbei operational geschlossen. Sie beziehen sich somit einerseits primär auf sich selbst, sind aber zugleich stets darauf angewiesen, »die Umwelt als Anlassgeber [für] Veränderungen zu nutzen, um sich nicht wie ein Plattenspieler in einer kaputten Rille selbstreferenziell zu verfangen« (Laßleben 2002, S. 73). Hätte der Mensch keinen Zugang zu seiner Umwelt, würden sich die Gedanken stets nur im Kreis drehen, eine ideale Voraussetzung, um verrückt zu werden. Da Organisationen über keine Sinnesorgane verfügen, mithilfe derer sie in der Lage wären, Umweltreize aufzunehmen, sind sie zwingend auf ihre Organisationsmitglieder angewiesen. Nur diese sind in der Lage zu fühlen, zu reflektieren und wahrzunehmen (z. B. dass ein Projekt gerade zu scheitern droht). Wenn Menschen ihre Wahrnehmung und ihre Gefühlen verbalisieren, sie diese also in die Kommunikation bringen (beispielsweise indem eine Mitarbeiterin bei der Teamsitzung von ihrem schlechten Gefühl in Bezug auf ein Projekt berichtet), wird das soziale System mit Fremdreferenz angereichert und unter Entscheidungsdruck gesetzt. (Beispielsweise muss innerhalb des Teams darüber entschieden werden, wie mit der Mitteilung der Kollegin umgegangen wird.) Durch das Treffen von Entscheidungen (beispielsweise den Auftrag der Projektgruppe noch einmal zu konkretisieren, die Projektlaufzeit zu verlängern oder den Projektleiter zu entlassen) wird nicht nur die Autopoiese, sondern im Idealfall auch der Erfolg des Projekts gewährleistet.
Den Menschen in die Umwelt des sozialen Systems zu verlagern bedeutet somit nicht, ihn gering zu schätzen, wie es bisweilen Kritiker den Vertretern der Systemtheorie vorwerfen. Vielmehr wird hiermit dem Umstand Rechnung getragen, dass Menschen nie vollständig Teil des sozialen Systems werden. (Dies ist auch gut so, denn ansonsten wäre das soziale System eine totale Institution.) Menschen stehen vielmehr ausschließlich als »Identifikationspunkte der Kommunikation« (Kneer u. Nassehi 2000, S. 87) zur Verfügung.5
Zusammenfassend übernehmen die Mitglieder der Organisation als Träger von Entscheidungen einen überlebenswichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Autopoiese eines Organisationssystems. Dennoch bleiben soziale und psychische Systeme analytisch betrachtet stets Umwelten füreinander. Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass durch eine Verortung des Menschen in die Umwelt von Organisationen eine Abwertung desselben erfolgt, und um zugleich zu verhindern, dass Umwelt zu einer Restekategorie wird, in der alles Mögliche angesammelt werden kann, erscheint es sinnvoll, mit Blick auf die Umwelt von Organisationen zwischen einer inneren und einer äußeren Umwelt zu unterscheiden (Abb. 3): Aufgrund der besonderen Bedeutsamkeit der Organisationsmitglieder werden diese nachfolgend als innere Umwelt bezeichnet. Die Leistungsadressaten, die rechtlichen Normen und gesellschaftlichen Werte, die politischen Akteure sowie andere wesentliche Interessenträger (engl. »stakeholder«; wie z. B. kooperierende oder konkurrierende Organisationen) können hingegen der äußeren Umwelt zugeordnet werden.
Abb. 3: Organisationen und ihre Umwelten