Читать книгу Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit - Stefan Gesmann - Страница 13
1.3.4Von der Zweck- zur Systemrationalität
ОглавлениеOrganisationen müssen aus systemtheoretischer Perspektive als autopoietische Systeme betrachtet werden, die sich über die Herausbildung von Kommunikationsmustern von einzelnen Organisationsmitgliedern unabhängig machen. Organisationen können folglich nur ihre eigene Melodie spielen und ihre eigene Musik hören (vgl. Willke 1999, S. 116). Sie lassen sich daher nicht wie eine Trivialmaschine linear-kausal von außen steuern. Vielmehr verfügen sie über »Myriaden von Möglichkeiten« (Willke 2007, S. 25), um Interventionen (wie z. B. Steuerungsabsichten von Leitungskräften) abzubiegen, umzuleiten, umzudeuten, zu verzögern oder schlicht zu ignorieren. Akzeptiert man diese Thesen, dann wird offensichtlich, dass ein solches Verständnis von Organisationen dem in Kapitel 1.2 skizzierten zweckrationalen Organisationsverständnis diametral entgegengesetzt ist.
Funktionen von Zwecken in Organisationen
Wenn sich Organisationen also nicht zweckrational verhalten, ihr Verhalten vielmehr jeweils stark vom inneren Gemütszustand abhängig ist, dann bedarf es auch einer Neuinterpretation hinsichtlich der Bedeutsamkeit von Zwecken in Organisationen. Nach Ansicht von Luhmann erfüllen Zwecke in Organisationen zwei zentrale Funktionen:
•Zum einen erfüllt die Zwecksetzung ein »Scheuklappenprinzip« (Luhmann 1973, S. 47). Ähnlich wie bei Pferden das Sichtfeld mithilfe von Scheuklappen eingeschränkt wird, führen Zwecke auch in Organisationen dazu, dass diese nur einen sehr begrenzten Teil ihrer Umwelt wahrnehmen. »Das System gewinnt auf dem Bildschirm seiner Zwecke für das tägliche Verhalten ein stark vereinfachtes Umweltbild und eine Kooperationsgrundlage, die rasche Verständigung gestattet.« (Luhmann 1973, S. 192.) Eine Organisation der Sozialen Arbeit, die den Zweck verfolgt, Menschen mit Behinderung Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, wird daher kaum wahrnehmen, wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge innerhalb der eigenen Stadt dringend versorgt werden müssen. Genauso wenig wird möglicherweise die psychosoziale Beratungsstelle für Flüchtlinge wahrnehmen, wie es um die Situation von Menschen mit Behinderung bestellt ist. Zwecke fokussieren die organisationale Aufmerksamkeit und tragen so maßgeblich zur Reduktion von Komplexität bei.
•Zum anderen sollen Zwecke die Motivation der Mitglieder sichern (vgl. Martens u. Ortmann 2006, S. 447). Eine Einrichtung der stationären Kinder- und Jugendhilfe, die sich den Zweck setzt, Kindern und Jugendlichen einen geschützten Rahmen zu bieten, innerhalb dessen sie tragfähige Zukunftsperspektiven entwickeln können, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit solche Sozialarbeiter als Organisationsmitglieder gewinnen, die sich mit diesem grundsätzlichen Zweck identifizieren; deren Motivation also auch darin begründet ist, Kindern und Jugendlichen trotz schwieriger Umstände eine förderliche Entwicklung zu ermöglichen.6
Zusammenfassend dienen die Zwecke einer Organisation einerseits der Komplexitätsreduktion (Scheuklappenprinzip) und anderseits der Aufrechthaltung von Motivation. Beides ist vonnöten – und hier zeigt sich nunmehr der übergeordnete Zweck von sozialen Systemen – um das Überleben der Organisation zu gewährleisten. Nur wenn das soziale System »Organisation« einen überwiegenden Anteil der Umwelt radikal ausblendet, also nicht auf alles reagieren muss, was irgendwie innerhalb der Organisationsumwelt passiert, kann es autopoietisch seine Systemgrenze aufrechterhalten. Hierfür ist die Organisation zugleich auf ihre Organisationsmitglieder (innere Umwelt) angewiesen, die sich immer wieder aufs Neue bereit erklären müssen, ihren Beitrag zur Autopoiese (der Ermöglichung von Entscheidungen) zu leisten. Eine regelmäßige (und adäquate) Entlohnung erweist sich hierbei als probates Mittel, um jene Motivation bei den Organisationsmitgliedern auch dann aufrechtzuerhalten, wenn deren Identifikation mit den originären Zwecken der Organisation zu schwinden droht.
Innerhalb des hier vorgestellten systemtheoretischen Organisationsverständnisses findet folglich eine »Entthronung des Zweckbegriffs« (Martens u. Ortmann 2006, S. 447) statt. Nicht der vonseiten der Geschäftsführung definierte Zweck bildet den Bezugspunkt für das Handeln der Organisation (und deren Mitglieder), sondern zunächst einmal der simple Zweck, auch weiterhin als Organisation handeln zu können, und – aus Perspektive der Organisationsmitglieder – der Zweck, am Monatsende ein Gehalt überwiesen zu bekommen.
»Der den einzelnen, inhaltlich-sachlichen Zielen übergeordnete ›Zweck‹, der die internen Prozesse der Organisation steuert und die unterschiedlichen Akteure integriert, ist die Fortsetzung der Autopoiese der Organisation … Ihre Eigenlogik (die der Organisation; Anm. S. G./J. M.) ist auf die Aufrechthaltung der System-Umwelt-Unterscheidung gerichtet, d. h. die Weiterexistenz in der Beziehung zu und in der Kommunikation mit spezifischen, für das eigene Überleben unverzichtbaren Umwelten.« (Simon 2013a, S. 32.)
Organisationen sichern ihr Überleben dadurch, dass sie ihre Autopoiese aufrechterhalten, dass sie also kommunizierte Entscheidungen an kommunizierte Entscheidungen anschließen. Inwiefern hierbei der ursprüngliche Zweck der Organisation Berücksichtigung findet, ist aus Sicht einer Organisation streng genommen nachrangig, da sachliche Ziele gegenüber dem reinen Selbsterhalt des Systems sekundär sind. Weick schlägt daher vor, von einer »begrenzten Rationalität« (Weick 1995, S. 36) in Bezug auf Organisationen zu sprechen. Luhmann plädiert dafür, die Zweckrationalität der Systemrationalität – also der Aufrechthaltung der System-Umwelt-Unterscheidung – unterzuordnen (vgl. Luhmann 2006, S. 447).
Wenngleich man möglicherweise Schwierigkeiten damit hat, den »systemtheoretischen Hardlinern« zu folgen, die den primären Zweck von Organisationen darin sehen, ihr Überleben zu sichern, müssen wohl auch die Skeptiker eingestehen, dass eine solche »Entthronung des Zweckbegriffs« hohe Anschlussfähigkeit zu Beobachtungen der Praxis aufweist. Hiermit erscheinen die vielfältigen Abweichungen von der ausschließlichen Ausrichtung auf einen einzigen Zweck nicht mehr länger als Pathologie, sondern vielmehr als Ausdruck der organisationalen Anpassung. Es wird verständlich(er), warum Organisationen auch dann weiterhin bestehen, wenn sie ihren primären Zweck entweder bereits erfüllt oder aber massiv verfehlt haben. Es verwundert auch nur noch bedingt, wenn festgestellt wird, dass in Organisationen bewusst oder unbewusst ein Wechsel von Zwecken stattfindet oder aber dass es zu einer Verdrehung zwischen Zwecken und Mitteln kommt (vgl. Kühl 2011, S. 69).