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Gastspiel in Berlin

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In den glücklichen Wiener Tagen bin ich zur Wirklichkeit erwacht. In Berlin sank ich wieder zurück in die unreale Phantasiewelt des Jünglings. War ich in Berlin? In der Erinnerung an diesen ersten Aufenthalt ist kein eigentliches Berliner Bild enthalten. Weder der Norden noch der Westen wurden mir lebendig; ich habe die Seenwelt der Umgebung, die mich viele Jahre später so entzückte. daß ich mich an der Havel niederließ, nicht kennengelernt. Ich habe damals, glaube ich, weder den Wannsee noch Tegel, weder den Grunewald noch auch nur den Tiergarten gesehen. Kein Theatereindruck, kein Redner, keine Universitätsvorlesung aus dieser Zeit hat sich mir eingeprägt. Ich sehe nur zwei Räume vor mir: das Zimmer, in dem Annie R. wohnte, und das Haus in Pankow, das Gustav Landauer mit seinen Leuten bezogen hatte. Liegen die Schatten auch nicht mehr so schwer wie über den Pariser Tagen, so ist es doch noch ein traumdunkles, unwirkliches Berlin, das ich damals erlebt habe.

Was habe ich eigentlich in Berlin mit meiner Zeit getan? Wofür habe ich gelebt? Wo war ich denn? Meine Hauptbeschäftigung war es, Annie R. zu begleiten. Das Engagement im Wallner-Theater hatte sich im ersten Monat zerschlagen. Damals hatten die Theaterdirektoren das Recht, jeden Vertrag im ersten Monat zu lösen, und sie taten das gerade bei jungen Darstellern sehr gern, weil sie dann die verzweifelten Schauspieler, die für die Saison kein neues Engagement finden konnten, »aus Mitleid« für die halbe Gage wieder engagierten. Auch Annie R. hatte eine solche Trickkündigung empfangen. Sie lehnte sich gegen diesen Schwindel auf und klapperte sämtliche Theaterkanzleien Berlins ab, um ein anderes Engagement zu finden. Es war die erste Berührung mit der Theatergemeinheit, die das junge Mädchen erlebte. Sie verheimlichte ihr Mißgeschick vor ihren Wiener Leuten, und es war sicher ein Trost für sie, daß ich bei diesem demütigenden und nervenkraftfressenden Antichambrieren in den Theaterkanzleien sie zu begleiten suchte. Nachmittags saß man zusammen in dem bräunlichen Hotelzimmer Annies, das Lachen war ihr nicht ganz vergangen, und nach dem Rennen von Kanzlei zu Kanzlei tat es wohl, still beieinander zu sitzen.

Im übrigen wohnte ich bei Gustav Landauer. Ich hatte schon von Wien aus für seine Wochenschrift Der Sozialist geschrieben. Wir waren beide sehr jung, und schnell war das »du« zwischen uns ausgesprochen. Ich sehe Landauer noch vor mir, wie er damals war. Noch um einen Kopf länger als ich, ein etwas lockiges Haupt mit einem gut gepflegten Christusbärtchen, darüber ein reizend geschwungener, ich kann nicht anders sagen als kußlicher Mund, ein kleines lustiges Näschen, auf dem zuweilen ein kapriziöser Kneifer saß. Landauer hatte, übrigens bis zu seinem Ende, eine Vorliebe für jenes romantische Kleidungsstück, das man Havelock nannte. Damals stellte Fritz von Uhde ein Christusbild aus, das Jesus unter den Seinen in der damals modernen Tracht, aber doch ein wenig romantisierend, also im Havelock, darstellte. Eine solche Christuserscheinung im Havelock ist Landauer, noch dazu mit seiner Vorliebe für breite malerisch gekrämpelte Hüte, bis in seine letzten Tage geblieben. Aber während er in der letzten Phase seines Lebens, mag sein durch Leiden, die er in übergroßem Maße zu überstehen hatte, mag sein aus einer Märtyrerkoketterie, die ihm nicht ganz fehlte, ein duldendes Christusantlitz zur Schau trug, war sein Gesicht damals in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nicht ohne Heiterkeit. Vor allem sprach es deshalb an, weil die Szenerie des Gesichts sich blitzschnell verändern konnte, von Schelmerei zur Schwermut und ebenso geschwind wieder zurück. Den entscheidenden Ausdruck aber bekam sein Gesicht, wenn er den Kneifer abnahm und sein kurzsichtiges Auge etwas Unfixiertes, Leeres, in der Luft Herumtastendes bekam. So war er: in die Wirklichkeit verirrt, so ist er geblieben: Er hat sich bis zuletzt in die gemeine Realität nicht hineinfinden können. Damals hatte er seinen ersten Roman herausgegeben, der hieß Der Todesprediger. Wäre er mir zwei Jahre früher in die Hände gefallen, so hätte er wahrscheinlich wie Mainländers Philosophie der Erlösung auf mich gewirkt. Jetzt, da ich mich glücklich von der Selbstmordromantik losgerungen hatte, wirkte der Roman etwas fade auf mich. Aber dafür gab es ein anderes Band, das mich mit Landauer fest zusammenknüpfte. Der Sozialist wurde erhalten und verbreitet von der Gruppe Berliner Unabhängiger, die die Polizei als Anarchisten bezeichnete. Auf dieser Bettelsuppe gab es nur wenige Fettaugen. Die drei oder vier besten Geister standen als Helfer neben Landauer. Er selbst aber war von seiner eigenen Gruppe verfemt. Landauer, übrigens ein Sprachkünstler ersten Ranges, gab dem Sozialist sein Gesicht. Es war das führende Blatt des jungen undogmatischen Sozialismus.

Gericht und Polizei saßen ihm im Nacken. Landauer wanderte wiederholt ins Gefängnis, obwohl er nie auch nur eine einzige blutrünstige Zeile geschrieben hat. Er lebte mit seiner jungen Frau – er hatte eine tuberkulöse Proletarierin geheiratet, eine sehr liebenswerte und gütige Kameradin – und mit seinem kleinen Töchterchen draußen in dem Vorort Pankow, der damals noch ganz abseits vom berlinischen Lärm lag. Landauer, der aus dem Schwäbischen stammte, hat sich zeitlebens den Sinn für Stille bewahrt. Er konnte es nie in der Großstadt aushalten. Übrigens hatte er eine schrullige Vorliebe für die Arbeit in der kleinen Gemeinde. Er verachtete den Parlamentarismus, aber er wäre ganz gern Gemeinderat von Pankow geworden.

Meine Übersiedlung nach Berlin kam ihm gelegen. Er konnte mich als Gehilfen beim Sozialist gebrauchen. Gefängnis drohte ihm immer wieder, und er hatte eigentlich nur eine Stütze, seinen Freund, den Schriftsetzer Albert Weidner, der der Polizei soviel Kopfzerbrechen verursacht hat, weil sie manches Manuskript trotz eifrigen Suchens nicht finden konnte. Es existierte nämlich gar nicht. Weidner hatte die Fähigkeit, seine Beiträge aus dem Hirn direkt in den Setzkasten zu übertragen. Besonders willkommen war ich Landauer aber auch deshalb, weil damals gerade wieder ein »Sklavenaufstand« – um mich der hier vielleicht deplacierten Terminologie Nietzsches zu bedienen – gegen den Führer Landauer einzusetzen drohte. Es ist überall dasselbe in den großen Parteien wie in den kleinen Gruppen, in der Weltgeschichte wie im engen Familienkreise: Der Bedeutende ist im Grunde der Verhaßteste. Die Mittelmäßigen fühlen sich nur ganz wohl und sitzen in Hemdärmeln da, wenn sie unter sich sind. Wenn sie spüren, daß einer übers Mittelmaß reicht und keine Fabrikware der Natur darstellt, so bringen sie ihm Mißtrauen und einen kleinlichen Neid entgegen. Nichts wäre natürlicher, als daß der Größere, der reicher Begabte der Führer ist. Nichts ist unnatürlicher, als daß er sich fortwährend umdrehen muß, damit ihn die Gefährten nicht hinterrücks überwältigen. Jeder Führer erlebt ein Stück vom Schicksal Coriolans. Diese Verschwörung der Stumpfen gegen den Beweglicheren, der Phantasielosen gegen den Phantasten, der Bürger gegen die Persönlichkeit verbitterte dem jungen Landauer die Freude an der Arbeit. Er war von Natur aus antidemokratisch, und nun lieferte dieser Aufstand der anarchistischen Philister die stärkste Begründung für seinen Instinkt. Alles gärte noch in dem jungen Menschen; von seinem Todespredigertum war er selber schon weit entfernt. Die radikale Großmäuligkeit – und vielfach bedeutet ja Radikalismus nur gewohnheitsmäßiges Benutzen des Lautsprechers –, er hatte das alles über. Von allen Parteien ist die anarchistische Partei die sinnloseste. Anarchismus als tollkühne Vorreiterpolitik eines Einzelnen kann Sinn haben: es muß im Kriege Nachtpatrouillen geben, die auf eigene Rechnung und Gefahr handeln. Aber Anarchismus als Vereinsfunktion oder gar als Vereinsausflug, das erwies sich als ebenso lächerlich wie sinnlos. Dagegen begegneten Landauer und ich um diese Zeit einem unvergleichlichen Mann, der aus dem sächsischen Heere kam. Es war ein Oberst, der den Dienst quittiert hatte, Moritz von Egidy. Man sah dem kleinen energiestrotzenden Mann auf hundert Schritt den früheren Reiteroffizier an. Seine Rede war militärisch knapp, seine Schreibe war vollkommen phrasenlos. Er hatte ein Buch herausgegeben Ernste Gedanken, das die Frucht einer vollkommen selbständigen inneren Entwicklung darstellte. Egidy hatte in Sachsen, wo er in der Nähe des Königs lebte, plötzlich die Verwüstungen des Industrialismus wahrgenommen. Es bedrückte ihn ebensosehr, daß der Waldbestand von Sachsen innerhalb von drei Jahrzehnten auf ein Drittel seiner natürlichen Ausdehnung zurückgegangen war, wie es ihn erschütterte, wenn er bei den Musterungen das kleine Längenmaß der jungen Menschen wahrnahm, die alle Degenerationsmerkmale des jugendlichen Fabrikarbeiters aufwiesen. War es nicht sinnlos, herrliche Wälder niederzuschlagen, um auf dem gewonnenen Papier miserable Zeitungen zu drucken? Was sollte die virtuoseste Textilmaschine, wenn der Brustumfang des Menschen, der sie bedient, kleiner und seine Widerstandslosigkeit gegen die Tuberkulose größer wird. Egidy hatte die herrliche Frische eines Menschen, der sehr wenig gelesen hat, sein Auge war unbestechlich und glänzte vor innerer Rechtschaffenheit. Mit Landauer traf er sich in der Verachtung des Parteiwesens, in einer glühenden Aktionslust und in einem Mangel an Skeptizismus, den beide noch bitter gebüßt hätten, wenn der eine, Egidy, nicht jählings nach einem kurzen kometenhaften Aufstieg gestorben wäre, und wenn der andere, Landauer, nicht rechtzeitig sich von allen Genossen getrennt und von seiner zweiten Frau, der Dichterin Hedwig Lachmann, in eine stillere Welt gelenkt worden wäre. Eine gewisse Pädagogenstrenge war damals in Landauer noch nicht stark ausgebildet. Der stirnrunzelnde Revolutionär mit dem erhobenen Zeigefinger ist er erst später geworden. Auch der literarische Salonredner, der vor Berliner Bankiersfrauen frappierende Kühnheiten wagte, war er damals noch nicht. Ach, welche Entstellungen unseres Selbst malt uns beharrliche Not ins Gesicht! Landauer, geschaffen zum großen Universitätslehrer, mußte die Fülle seines universellen Wissens vor Damen ausschütten, die von Tee zu Tee klapperten und plapperten, wenn er mit Frau und Kindern nicht glatt verhungern wollte.

»Du mußt bei mir wohnen«, das war Landauers Vorschlag am dritten Tag meiner Anwesenheit in Berlin. Als junger Mensch entschließt man sich zu solchen Gemeinschaften, ohne allzuviel nachzudenken. Ich hing in der Luft. Alle vier, fünf Wochen brachte ich einen kleinen Aufsatz zustande, der erste erschien damals in Hardens Zukunft, der zweite, mir noch wichtiger, ein Essay über Montaigne, in der Frankfurter Zeitung. Mit den vierzig, fünfzig Mark, die ich auf diese Weise einnahm, konnte ich kaum leben. Andererseits hätte man es für entehrend gehalten, für die Beiträge in Landauers Sozialist Honorar zu nehmen. Dagegen schien es zulässig, das Angebot des Freundes anzunehmen, ein Zimmer seiner kleinen Wohnung mit Beschlag zu belegen und mitzuessen an seinem kargen Abendtisch.

Mittags war ich nie zu Hause. Wenn wir, Annie R. und ich, von Theaterkanzlei zu Theaterkanzlei sausten, dann pflegten wir einen kleinen greulichen Imbiß in den akademischen Bierhallen, einem Kellerlokal in der Nähe der Universität, einzunehmen. Wir mußten haushalten und durften keine Zeche über eine Mark machen. Aber das Lachen von Annie R. eroberte auch die akademischen Bierhallen, man schaute in unsere Nische, wie ich seinerzeit nach ihrer Ecke im Griensteidl ausgelugt hatte, und wahrscheinlich gab es unter den Studenten auch einige Gabriel Grams, die mit Sehnsucht und ein wenig Neid in unsere Ecke schielten. Aber war ich denn zu beneiden? Meine politischen Freunde, die Unabhängigen, Landauer selbst, sahen mich mit einigem Mitleid an. Ich kam aus der Rolle des armen Asra, der täglich bleich und bleicher wurde, nicht heraus. Vielleicht lag in dieser Schwärmerei, die nicht ihren natürlichen Ausweg finden konnte, ein ungesundes Element. Die Mitarbeiter des Sozialist, die sich zwanglos trafen, beschlossen auch im Interesse der freisozialistischen Bewegung bei Annie R. zu intervenieren. Eines Tages, während ich in der Druckerei war, klopfte eine Deputation von drei Genossen an Annies Tür. Sie war erstaunt. Was wollten die revolutionären Politiker von ihr, die nichts wollte als eine dankbare Rolle im Wallner-Theater? Die Deputation ließ sich nieder. Einer sah den anderen an. Keiner wollte mit der Rede recht heraus. Endlich sagte der energischste der drei Genossen: »Sie müssen nämlich wissen, Fräulein, daß Großmann für die Bewegung viel mehr leisten könnte, wenn …« Er stockte. Der zweite wollte aushelfen: »Es ist nämlich auch vom hygienischen Standpunkt aus gewiß nicht gesund für ihn. Er sieht ja jämmerlich aus.« Schließlich platzte der dritte heraus: »Sie sind es einfach der revolutionären Bewegung schuldig, ihn zu erhören!« Das Lachen, mit dem Annie antwortete, soll, wie mir die Deputation später erzählt hat, über eine halbe Stunde gedauert haben. Ach, sie gab im Grunde der Deputation ganz recht, und mit einem Händedruck versprach sie den Genossen, für die Bewegung so ziemlich alles zu tun, was in ihren Kräften stand.

Ich habe lange Zeit gehabt, aus dem Berliner Traum zu erwachen. Eines Abends legte sich plötzlich unter dem dunklen Stadtbahnbogen der Friedrichstraße eine schwere Hand auf meine Schulter. Ich war verhaftet. Eine halbe Stunde später saß ich in einer Untersuchungszelle auf dem Alexanderplatz. Ich zerbrach mir den Kopf, was ich denn angestellt haben könnte, es war nicht zu erraten. Im Polizeipräsidium hatte man meine Taschen durchsucht, und in einer Brieftasche fand sich eine kleine spöttische Glosse über Wilhelm II., der damals gerade mit Hilfe seines Leibmalers Knackfuß ein Bild unter dem Titel Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter verfaßt hatte, ein dummes Bild gegen die gelbe Gefahr. Aber dieses Manuskript lag ja noch unveröffentlicht in meiner Brieftasche, und ich konnte doch nicht wegen einer Äußerung verhaftet werden, die ich ja noch in den Falten meines Gewandes trug. Ein Kommissar der politischen Polizei verhörte mich, und ich lernte den potenzierten Kasernenton kennen, diese Mischung von Quälerlust und unbewußter Brutalität. Nach einigen Verhören hatte ich eine dunkle Ahnung, um was es sich handelte. Landauer hatte sich vorher den Spaß gemacht, die politische Polizei und ihre Spitzel ein bißchen an der Nase herumzuführen. Irgendein Denunziationsbrief muß bei der Polizei eingelaufen sein, und sie hielt mich für einen Urheber dieser Neckereien. Und da sie keinen Spaß verstand, so nahm sie mich hopp. Nach drei oder vier Tagen stellte sich heraus, daß ein Verfahren gegen mich unmöglich war. Aber da ich Österreicher war, so wurde ich, wie die schöne Formel noch heute heißt, »als lästiger Fremder« ausgewiesen. Es wurde mir eine Frist von drei Tagen gewährt. Als ich wieder auf dem Alexanderplatz stand, bemerkte ich, daß ich nicht einmal eine Geldbörse bei mir hatte. Annie R., von deren Seite ich unter dem Stadtbahnbogen weggerissen worden war, trug sie in ihrer Tasche. Was war zu tun? Ich mußte nach Pankow hinaus. Der Weg vom Alexanderplatz dorthin zieht sich in die Länge. Ich brannte darauf, Landauer und Annie, die sicher bei ihm wartete, die Nachricht von meiner Befreiung zu geben, und nun sollte ich zwei Stunden lang marschieren, weil ich nicht einmal das Geld für die Straßenbahn in der Tasche hatte? Dazu kam, daß ich mich in der Stadt, die allen fremd bleibt, gar nicht auskannte und den Weg nach Pankow nicht wußte. Vorläufig marschierte ich also gegen das Stadtzentrum zu, in der Hoffnung, daß mir allmählich irgendeine Lösung einfallen würde. Bei irgendeiner Gelegenheit drehte ich mich um und bemerkte, daß mir zwei Detektive folgten. Nun also, dann war die Lösung ja gegeben. Ich ging auf die beiden zu und sagte: »Entweder müssen Sie mir das Fahrgeld für die Straßenbahn leihen, oder Sie müssen mich zu Fuß nach Pankow begleiten.« Die Polizisten, über die Zumutung eines so weiten Marsches erschrocken, beeilten sich, mir zwanzig Pfennige zu übergeben, und so fuhren wir wortlos, und doch durch eine gemeinsame Schuld verbunden, zu Landauers Wohnung. Vor oder gar in das Haus des Feindes wagten sich die Agenten nicht. Sie hielten sich in einiger Entfernung von Landauers Haus. Wir hätten gern ihre Gesichter gesehen, als wir ihnen durch ein Mädchen den entliehenen Betrag zusandten, aber die Polizei hielt es nicht für ratsam, sich direkt unter den Fenstern Landauers aufzupflanzen.

Die Agenten hatten die Absicht, während dieser drei Tage unsere Spuren nicht aus den Augen zu verlieren. »Aber das geht nicht«, rief Landauer, »wenn du schon einmal mit der Polizei verhandelt und von ihr ein Darlehen aufgenommen hast, dann bitte, verhandle noch einmal mit ihr und sage, daß sie uns in Ruhe lassen solle. Es wird uns ja der ganze Spaß an den drei Tagen verdorben, wenn wir diese Visagen dauernd hinter oder neben uns haben.« Als wir am anderen Morgen das Haus in Pankow verließen, trat ich auf die beiden »Geheimen« zu und schlug ihnen vor, daß ich sie gern am Abend an einem vereinbarten Ort wieder treffen wolle, damit sie sich von meiner Existenz überzeugen könnten, dieses ewige Nachgerenne aber sei uns lästig und das könnten wir uns nicht gefallen lassen. Die beiden schwerfälligen Gestalten zuckten die Achsel: »Dienst! Muß sein.« Als ich Landauer das Scheitern meiner diplomatischen Verhandlungen meldete, fuhr er auf: »Das sollen sie büßen.« Im Nu hatte er einen Schlachtplan entworfen. Die drei Tage wollten wir genießen, wie wir in Berlin noch keine genossen hatten. Ich weiß nicht, woher Landauer plötzlich sein kleines Kapital aufgetrieben hatte, aber von dem Augenblick des Scheiterns der diplomatischen Verhandlungen an sind wir in diesen drei Tagen überhaupt nicht mehr zu Fuß gegangen. Wir fuhren in den schnellsten Droschken, und immer mußten die armen Wichte hinter uns einsteigen. Die Spesen der polizeilichen Überwachung stiegen von Stunde zu Stunde. Mittag fiel es Landauer nicht ein, in die akademischen Bierhallen oder zu Kempinski zu gehen, nein, wir saßen in einem Separé eines pompösen Berliner Weinlokals, und die armen Wichte der Polizei mußten unten in der Gaststube warten, bis unser stundenlanges Symposion beendet war. Flugs saßen wir wieder in der flinksten Droschke, dann lief man quer durch ein Haus unter den Linden, dann stürzte man in größter Eile bei dem einen Eingang des Café Bauer hinein und bei dem anderen wieder hinaus, wieder in die Droschke, wieder in ein anderes Lokal, und so ist es uns gleich am ersten Tage gelungen, die Polizei von unseren Fersen zu schütteln. Ganz demütig sprachen die armen Burschen am nächsten Morgen in Pankow bei uns vor und baten, im Interesse ihrer Kasse und eines etwas erleichterten Dienstes, wir möchten ihnen doch unser Tagesprogramm vorlegen, und sie würden uns, wenn wir uns ihnen nur zweimal am Tage an den vereinbarten Stunden zeigten, ungestört tun lassen, was wir wollten. Die drei Tage vergingen im Rausch. Es wurde beschlossen, daß ich doch nicht wieder nach Wien zurück sollte. Sollte ich allein im Café Griensteidl sitzen? Nein, Wien war jetzt nicht für mich zu ertragen. Ich wollte nach Brüssel gehen und dort zu den Füßen von Krapotkin und Elisee Reclus kommunistische Theorie lernen.

Annie R. begleitete mich allein zum Bahnhof.

Ich war begeistert

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