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Hermann Schlösser

Begeisterung als Lebensenergie

Im Mai 1925 feierte Stefan Großmann seinen 50. Geburtstag mit einem großen Empfang im noblen Berliner Hotel Adlon. Ein Foto hat das Ereignis festgehalten: Illustre Gäste in großer Zahl umrahmen den Geehrten, der in der ersten Reihe im Mittelpunkt sitzt: »Ganz Salonlöwe mit Zigarre, etwas seitlich zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen. Gute Theaterarbeit; der Photograph hat das Seine beigetragen.« So beschrieb Großmanns Enkelin, Christina Wesemann-Wittgenstein, die Erscheinung des Fünfzigjährigen auf diesem Bild.

Der 1875 in Wien geborene Großmann gehörte in den Zwanzigerjahren zu den führenden Berliner Publizisten. Das Tage-Buch, die Zeitschrift, die er von 1920 bis 1928 zusammen mit Leopold Schwarzschild im Rowohlt Verlag herausgab, war neben der Weltbühne das wichtigste linksliberale Intellektuellenmagazin Deutschlands. Aber Großmann redigierte nicht nur, sondern nahm auch selbst in eigenen Leitartikeln, Glossen und Kommentaren Stellung zum politischen Geschehen. 1923 enthüllte er zum Beispiel in einer seiner Glossen, dass Hitler und die Nationalsozialisten von ausländischen Geldgebern finanziert wurden. Das provozierte beim Völkischen Beobachter Morddrohungen gegen »die jüdische Kanaille Großmann«; Hitler verklagte den Journalisten vor einem Münchner Gericht. Der Prozess wurde zwar erst vertagt, dann niedergeschlagen, doch die Nationalsozialisten zählten Stefan Großmann von da an zu ihren besonders verhassten Gegnern.

Großmann scheute derartige Kämpfe zwar nicht, aber in seinem fünfzigsten Lebensjahr machte sich doch eine gewisse Unlust an der aufreibenden Journalistenexistenz bemerkbar. In demselben Monat Mai, in dem er im Adlon würdevoll Geburtstag feierte, veröffentlichte Großmann im Tage-Buch einen ironischen Nachruf auf sich selbst. Dort heißt es unter anderem: »Er hat sich immer wieder der Gegenwart preisgegeben, und so verdarb er sich das bisschen Ewigkeit. Mit fünfzig Jahren erst begann er sich ein wenig zu sammeln, dieser immer Zerstreute.«

In den folgenden Jahren reduzierte Großmann seine journalistische Aktivität. 1928 trennte er sich von Schwarzschild und vom Tage-Buch und war wieder vor allem literarisch tätig – ganz wie in seinen jungen Jahren im Wien des Fin de Siècle. Unpolitisch war seine Literatur freilich nicht. 1928 veröffentlichte er den Roman Chefredakteur Roth führt Krieg, der seine Erfahrungen mit der Zeitungswelt ins Gewand der Fiktion kleidet. 1931 wurde in der Berliner Volksbühne das Drama Die beiden Adler uraufgeführt, in dem Großmann ein traumatisches Ereignis der jüngeren österreichischen Geschichte auf die Bühne brachte: Gezeigt wird hier der Strafprozess gegen Victor Adlers Sohn Friedrich Adler, der 1916 den Grafen Stürgkh, Österreichs Premierminister, aus Protest gegen den Krieg ermordet hatte.

Wie viele nicht mehr junge Autoren, die sich angesichts des dahinschwindenden Lebens ein »bisschen Ewigkeit« erschreiben wollen, wandte sich Großmann aber auch dem Genre der Autobiographie zu. 1930 erschienen im Berliner S. Fischer Verlag erstmals seine Lebenserinnerungen unter jenem Titel, den sie auch in dieser Neuausgabe noch tragen: Ich war begeistert. Und was bei älteren Menschen oft zu beobachten ist, gilt auch für Großmann: Er erinnert sich in diesen Memoiren vor allem an Menschen, Ereignisse und Dinge aus früheren Zeiten, während die Gegenwart verblasst. Von seiner publizistischen Tätigkeit in der Weimarer Republik berichtet Großmann gar nichts. Was nach 1920 geschah, findet unter dem Titel Ich war begeistert keinen Platz mehr.

Stattdessen nehmen die Wiener Kindheits- und Jugenderinnerungen einen breiten Raum ein. Aus den vielen anschaulich beschriebenen Episoden, die Großmann aus seiner frühen Zeit berichtet, sei hier nur jene herausgegriffen, in der die Gründungslegende einer Schriftstellerexistenz überliefert wird: In der Realschule, die ihn im Wesentlichen langweilte und quälte, schrieb der junge Großmann einmal einen Aufsatz über Franz Grillparzers berühmte Erzählung Der arme Spielmann.Diese Arbeit wurde vom Deutschprofessor Franz Willomitzer sehr gelobt, durch dieses Lob beflügelt, fühlte sich der Jüngling als Literat. Im Rückblick der späten Jahre erkennt Großmann einen tiefen Sinn darin, dass seine erste literarische Arbeit dem »armen Spielmann« galt, denn: »Ich sehe ganz Österreich von vielen armen Spielmännern bevölkert, die aus ihrer Brigittenau nicht hinausfinden und nicht hinausfinden wollen.«

Großmann selbst gehörte allerdings nicht zu jenen melancholisch-bescheidenen Kleinmeistern, die sich in ihrer Misere halbwegs gemütlich einrichten und die in der österreichischen (und vor allem der wienerischen) Kultur bis heute anzutreffen sind. Wie er in Ich war begeistert berichtet, trieb es ihn bald über die engen Grenzen seiner Heimatstadt hinaus. Als junger Mann besuchte er Paris, Brüssel und vor allem Berlin, wo er dem Anarchisten Gustav Landauer begegnete, der Großmanns politische Überzeugungen ebenso prägte wie der österreichische Sozialist Victor Adler.

Naturgemäß kann eine Lebenserzählung, die im Zeichen der »Begeisterung« steht, nicht nur von Politik handeln. Großmann war zeitlebens nicht nur politisch engagiert, sondern auch ästhetisch fasziniert und erotisch animiert. Seine Leidenschaft für das Theater kommt in seinen Lebenserinnerungen also ebenso zur Sprache wie das Entzücken, das eine schöne Schauspielerin in ihm hervorrief. (Die indiskrete Nachwelt weiß, dass sie den Namen Anna Reisner trug, in Großmanns Text tritt sie nur unter dem Kürzel »Annie R.« auf.) Wie es sich für einen schwärmerischen Jüngling der Jahrhundertwende gehörte, »betete« Großmann die junge Frau »an«, und er kultivierte eine Zeit lang eine Art schüchterner Fernbeziehung, die sich nur in anonymen Liebesbriefen artikulierte. Als die Künstlerin ein Engagement in Berlin bekam, reiste er ihr allerdings kurz entschlossen nach. Nicht das Interesse an Landauers Anarchismus trieb ihn also in die deutsche Hauptstadt, sondern die Leidenschaft für eine attraktive Wiener Bühnenkünstlerin. Diese erotische Energie, die sogar die Kraft zum ungesicherten Ortswechsel freisetzt, ist ein wesentliches Ferment dessen, was Großmann »Begeisterung« nannte und als Triebkraft seines kreativen Lebens verstand.

Allerdings macht sich ein programmatisch Begeisterter bei seiner weniger enthusiastischen Umwelt nicht unbedingt beliebt. Auch Großmanns emphatisches Bekenntnisbuch rief seinerzeit den Unwillen eines Kritikers hervor, der sich selbst die (genau besehen sehr wienerische) Rolle des »Nörglers« zugeschrieben hatte: Karl Kraus, der für viele Intellektuelle seiner Zeit die moralischen Maßstäbe setzte, hat Stefan Großmann mehrmals angegriffen, weil er ihn für ein besonders widerliches Exemplar des seichten, plauderhaften Feuilletonisten hielt. Auch Ich war begeistert fand in den Augen dieses Kunstrichters keine Gnade. Unter dem Titel »Ich war angewidert« vernichtete er das Buch in der Fackel. Zum Glück müssen sich heutige Leser und Leserinnen von den apodiktischen Urteilen des Karl Kraus nicht mehr einschüchtern lassen, sondern können sich in unbefangener Lektüre ein eigenes Bild von Stefan Großmanns Text machen. Vor allem dazu lädt diese Neuausgabe von Ich war begeistert ein.

Ich war begeistert

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