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3.1. Geschichte der Geschichtswissenschaft
ОглавлениеAuf die Frage, was ›Geschichte‹ überhaupt ist, gibt es ganz unterschiedliche Antworten. Als man sich Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals wissenschaftlich, d. h. auf der Grundlage festgelegter Theorien und Methoden, mit der Historie zu beschäftigen begann, versuchte man zunächst, ›Geschichte überhaupt‹ zu betreiben. Unter den Überschriften Weltgeschichte, Allgemeine Geschichte oder Universalgeschichte widmete man sich dem gesamten Lauf der Welt in historischer Perspektive. Für Leopold von Ranke (1795–1886) etwa, der als ein Begründer moderner Geschichtswissenschaft in Deutschland gilt, war es zu Beginn des 19. Jahrhunderts Aufgabe der Geschichtswissenschaft, zu zeigen »wie es eigentlich gewesen« ist. Nach diesem Verständnis wurde Geschichtswissenschaft als daten- und faktenorientierte Erzählung betrieben.
Spätere Historiker wie Johann Gustav Droysen [31](1808–1884) übten Kritik an dieser Auffassung. Für sie war Geschichte – beispielsweise in der philosophischen Tradition des Deutschen Idealismus – die Geschichte des Geistes oder der Ideen. Für die Geistesgeschichte und Ideengeschichte dieses älteren Typs steht als Untersuchungsgegenstand das Denken im Vordergrund, das einzelne Völker oder Staaten und die ›großen Persönlichkeiten‹ kennzeichne, durch die der Fortschritt der Völker oder Staaten maßgeblich bestimmt worden sei. Diese Form des Geschichtsdenkens, die für das 19. Jahrhundert typisch ist und in Deutschland bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben wurde, wird auch als Historismus bezeichnet. Historistische Geistes- und Ideengeschichte richtete ihr Augenmerk auf einmalige Handlungen und individuelle Persönlichkeiten, die eine Entwicklung durch die Zeiten bewirkt hätten. Individualität und Entwicklung sind daher auch als Charakteristika des Historismus bezeichnet worden.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden weitere Geschichtsauffassungen entwickelt. Neben Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) Philosophie der Weltgeschichte (1830) wurde v. a. die Geschichtsphilosophie von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft bedeutend. Für Marx und Engels war Geschichte die gesetzmäßige, stufenförmige Abfolge von fortschreitenden Entwicklungsstadien der Menschheit, die durch soziale Gegensätze bestimmt worden sei: Auf die Stufe der Urgesellschaft sei die Sklavenhaltergesellschaft gefolgt – bestimmt durch den Gegensatz von Herr und Sklave. An sie habe sich die Feudalgesellschaft angeschlossen, die sich durch den Kampf zwischen der Klasse der Grundbesitzer (›Lehnsherren‹) und der Klasse der [32]abhängigen Bauern (›Lehnsleute‹) ausgezeichnet habe. Als dritte Stufe erkannten Marx und Engels den Kapitalismus als antagonistisches Zusammenleben von besitzenden Kapitalisten und besitzlosen Proletariern; nach ihrer Überwindung folge notwendigerweise irgendwann der Sozialismus und Kommunismus, in dem die Klassengegensätze aufgehoben seien. Die Form der Geschichtswissenschaft, die mit diesem Modell operiert, bezeichnet man als Historischen Materialismus. Mit der Geschichtsphilosophie von Marx und Engels endete das Zeitalter der Geschichtsphilosophie als universalem Entwurf der Geschichte überhaupt. Seitdem wird vorwiegend von Geschichtstheorie(n) gesprochen (s. Kap. 3.2.4.), die anstelle des universalen Versuchs, die historische Welt in ihrem Wesen zu erklären, mit begrenzterem Anspruch nach dem Aufgabenbereich und dem methodischen Vorgehen der Geschichtswissenschaft fragt.
Inspiriert durch das Aufkommen von Soziologie und Ethnologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten einige Historiker neue Geschichtstheorien, denen zufolge nicht mehr der ›Geist‹ oder die ›Ideen‹ als Subjekt bzw. Akteur der Geschichte deren Lauf bestimmten, sondern die Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Gruppen. Zudem griff man die quantifizierenden Verfahren der Nachbarwissenschaften auf und wandte sich damit gegen die Betrachtung individueller Phänomene. Der Historiker Karl Lamprecht (1856–1915) entwickelte z. B. eine Auffassung von Geschichte als Kulturgeschichte, in der er – vom Vorbild der Naturwissenschaften beeinflusst – nach sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte suchte.
Auch außerhalb Deutschlands entstanden neue Theorien über die Geschichte. Der Belgier Henri Pirenne [33](1862–1935) sowie die Franzosen Lucien Febvre (1878–1956) und Marc Bloch (1886–1944) stärkten eine Auffassung von historischer Arbeit, die v. a. auf quantifizierenden Verfahren aufbauen sollte. Wenn zu einem bestimmten Objekt, wie der Besiedlungsdichte einer Stadt, über einen längeren Zeitraum Daten erhoben würden, könne man daraus langfristige Konjunkturen erkennen, die als Merkmal der Geschichte dienen könnten. Nach dem Namen der von Febvre und Bloch gegründeten Zeitschrift Annales bezeichnet man diese Historiker, ihre Schüler und ihre Auffassung als Schule der Annales.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der besonders in Deutschland geforderten Revision herkömmlicher Geschichtsbilder, denen man eine Wegbereiterrolle für Krieg und Faschismus vorwarf, wurden zahlreiche neue Geschichtsauffassungen entwickelt. In Nachfolge der »Schule der Annales« und in Anknüpfung an den Nationalökonomen Max Weber (1864–1920) wurden verschiedene Konzeptionen einer Sozialgeschichte vorgestellt, die auch als Gesellschaftsgeschichte oder Historische Sozialwissenschaft bezeichnet wurden und eng mit anderen Sozialwissenschaften (Soziologie, Politologie, Wirtschaftswissenschaften etc.) zusammenarbeiteten (Prinzip der Interdisziplinarität). Außerdem maß man der Wirtschaftsgeschichte und der Technikgeschichte große Bedeutung für die Erklärung der Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert und des wirtschaftlichen Booms der Nachkriegszeit zu. Da soziale und wirtschaftliche Entwicklungen den nationalen Rahmen häufig sprengen, verstärkte man ebenfalls die Beschäftigung mit der Geschichte anderer Länder und Nationen (Prinzip der Internationalität).
[34]Seit den 1990er Jahren erfuhr die Sozialgeschichte Kritik von Seiten einer geschichtswissenschaftlichen Strömung, die als Neue Kulturgeschichte bezeichnet wird und heute die als am ›fortschrittlichsten‹ geltende Form von Geschichtswissenschaft bildet. Die Neue Kulturgeschichte verstärkte die Globalisierungsbestrebungen und untersucht transnationale historische Phänomene, internationale Netzwerke und länderübergreifende Migrationsbewegungen sowie Kulturtransfers. Sie entdeckte unter dem Begriff Agency das historisch handelnde Individuum wieder, fasst es aber nicht wie der Historismus als ›historische Persönlichkeit‹, sondern widmet sich mit besonderem Interesse seiner Weltdeutung und Wahrnehmung. Nicht mehr die Ereignisse stehen im Zentrum der Untersuchungen, sondern die Wahrnehmungen und Deutungen der Zeitgenossen, wie sie sich in Texten, aber auch auf Karten, Gemälden oder sonstigen Ausdrucksformen findet, in denen Geschichte ›verarbeitet‹ wurde (Doing History). Damit gewann die Untersuchung von Begriffen und Diskursen sowie von Ritualen und Repräsentationsformen besondere Bedeutung.
Dass gleichzeitig auch neuer Schwung in quantifizierende Verfahren und den Umgang mit seriellen Daten kam, ist auf die Digital Humanities zurückzuführen, die inzwischen in fast allen größeren Universitäten mit Professoren- und Mitarbeiterstellen vertreten sind. Auf eine erste Phase, in der v. a. Texte digitalisiert und im Internet veröffentlicht wurden, folgte eine zweite Phase, in der Quellen- und Informationsangebote tiefenerschlossen und individueller handhabbar gemacht wurden. Das eröffnete der Forschung neue Fragestellungen, etwa zu sozialen Netzwerken oder [35]zu Migrationsbewegungen. Neue Visualisierungstechniken machen Ergebnisse zudem anschaulicher und sind ebenfalls forschungsanregend.
Iggers, Georg G. [u. a.]: Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute. Göttingen 2013.
Jaeger, Friedrich / Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992.
Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Paderborn 42018.
Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorie, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 22010.
Woolf, Daniel: A Global History of History. Cambridge 2011.
– A Concise History of History. Global Historiography from Antiquity to the Present. Cambridge 2019.