Читать книгу Tod im Kanzleramt - Stefan Koenig - Страница 10
Die erste Nacht
ОглавлениеIch schreckte auf. Vielleicht wegen dem Traum. Vielleicht aber auch, weil mein Unterbewusstsein die aufgeregte Stimme von Angies Büroleiterin wahrgenommen hatte. Beate Baumann stand nur zehn Schritte von mir entfernt, und ich hörte sie fragen: „Was bedeutet es, wenn alle Elektrik ausgefallen ist?“
Ein Mann aus dem Serviceteam in Monteurkleidung stand neben ihr. Ich blinzelte erst, dann richtete ich mich langsam auf. Ein Namenschild auf der linken Brusttasche wies ihn als Klaus Tombrowsky aus. „Alle Sicherheitsverriegelungen rund um das Amt sind geschlossen. Niemand kann das Gebäude verlassen. Ich befürchte, wir müssen bis morgen früh durchfeiern.“ Er schien zu lächeln. Im Nachhinein kann ich sagen, dass man es ihm nicht verübeln konnte. Auch ich war mir zu diesem Zeitpunkt nicht der gesamten Tragweite des Geschehens bewusst.
„Können Sie nicht das THW oder zumindest die Feuerwehr benachrichtigen?“ fragte Beate. „Wir können hier doch nicht unsere Gäste zu Gefangenen machen!“
„Wir haben keinen Außenkontakt!“ flüsterte er und sah zu mir herüber. Er kannte meine Vertrauensstellung bei der Kanzlerin.
„Keinen Außenkontakt?“ fragte Angies Büroleiterin ungläubig.
„Ich habe es von der Amtsleitstelle erfahren. Man möchte jedoch im Moment keine Panik schüren. Gibt ja auch keinen Grund dazu. Aber alle Drähte nach draußen sind gekappt. Das bleibt bitte unter uns!“
„Das kann nicht sein! Weiß Herr Altmaier davon?“
Die beiden entfernten sich und ich konnte die Antwort nicht verstehen. Aber jetzt war ich hellwach. Ich deckte Gaby und Yousef zu, deren Decken heruntergerutscht waren, und legte meine Decke über ihre Füße. Dann ging ich den langen, nur von Notleuchten erhellten Gang entlang in Richtung der Partystimmung. Ich machte mir keine Gedanken, woher die Notbeleuchtung ihren Strom bezog. Meine Gedanken waren überall, nur nicht bei dieser scheinbar belanglosen Frage.
Eine Band spielte eine von mir nicht definierbare Mischung aus Progressive House und Big Beat. Mein Musikgeschmack ist zu unbedarft, als dass ich erkennen konnte, worauf das Organisationsteam um die Moderatorin, Frau Illner, die Band festgelegt hatte. Was mir heute noch in Erinnerung ist, bezieht sich auf die Bässe. Ich wusste nicht, ob sie „house“-gemacht oder von draußen stammten.
Vor mir sah ich Anna-Maria Mühe, wie sie sich mühelos durch den Pulk von bekannten Gesichtern bewegte, und meine Augen hefteten sich an ihr zauberhaftes Kleid. Ich liebe sie platonisch. Ich liebe sie als Schauspielerin. Sie ging ins Untergeschoss. Im Party-Notbehelfs-Raum, den ich bis zu dieser Nacht noch nie wahrgenommen hatte, herrschte eine angenehme Temperatur und überall brannten die Kerzen. Sie verbreiteten ein merkwürdiges Licht. Es war eine Sommernacht, Kerzen sind es jedoch gewohnt um die Adventszeit herum zu flackern. An den Wänden waren Skulpturen aufgestellt. Ich meine sogar, auf dem Körper eines abstrakten Dinosauriers den Kopf eines ebenso abstrakten Gerhard Schröders ausgemacht zu haben. Aber das ist künstlerische Interpretationsfreiheit.
Die Kellner und Kellnerinnen trugen weiße Togen und machten mit Cocktails und kleinen Kanapees die Runde, die ich natürlich ignorierte. Low-Carb-Diät, wenn Sie wissen, was ich meine. Das Behelfsbüffet entdeckte ich auf der linken Seite neben dem Standort der Band. Ich ignorierte es mit Höchstignoranz. Ich sah Frank-Walter Steinmeier davor stehen und machte einen diplomatischen Bogen. Vielleicht konnte ich ihm ja später etwas über die Ukraine, über die dortigen Fracking-Experimente und die Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen Osten entlocken. Im Moment war mir nicht danach.
Gaby schlief, Ken Jebsen konnte ich nirgendwo entdecken, also näherte ich mich der Smalltalkgruppe, die sich um die Kanzlerin gebildet hatte. Günther Jauch stand schlacksig neben meiner Chefin, die jetzt pummelig und etwas plump aussah. Volker Bouffier, mein CDU-Landesvater, und sein grüner Stellvertreter Tarek Al-Wazir standen dabei. Wieder hörte man ein fernes Grollen, als tobe sich die Natur einmal anständig aus - und lege uns eine dringende Warnung nahe. Ich sagte bereits: Komisches Wetter. Komische Gäste. Und – mich eingeschlossen – komische Gastgeber. Denn wir alle, die wir im Kanzleramt arbeiteten, hatten ein komisches Gefühl. So viel Pleiten, Pech und Pannen hatten wir hier selten erlebt. Weder funktionierten die Amtsleitungen, noch unsere Handys oder auch nur die Handys unserer Gäste. Soweit wir durch die Fenster unserer Büros nach draußen in die regendurchpeitschte Nacht blicken konnten, sahen wir keinen Menschen. Und keine Fahrzeuge. Und keine Straßenbeleuchtung. Berlin schien wie tot.
Verwunderlich war, wie gelassen die Partygäste alles hinnahmen; den Ausfall der gesamten Elektrik, das Ausbleiben externer Hilfe, ihre Quasigefangenschaft im wichtigsten Regierungsgebäude der Europäischen Union. Ich glaube, es ist das Vertrauen in solch einen riesigen Apparat, der die Unbedarften ruhig bleiben lässt. Aber es flossen ja auch Bier, Wein, Sekt, Saft und Champagner. Und Lafer kredenzte alles, was das teure Partyherz begehren mochte. Dass wir auch auf der Ebene der Kommunikation von der Außenwelt völlig abgetrennt waren, dass die unterirdischen Zugänge zu den Ministerien der Verteidigung und des Innern total blockierten, dies war zu diesem Zeitpunkt freilich nur einem internen Zirkel bekannt: Angela Merkel, Amtsmanager Altmaier, Außenmanager Steinmeier, Frau von der Leyen und mir sowie den beiden Chefs der hausinternen Sicherheitsgruppe.
Die Gäste waren ahnungslos. Man unterhielt sich glänzend über dies und das, tauschte allerlei Informationen und noch mehr Belanglosigkeiten aus. Als die ersten Gäste gehen wollten, überzeugte sie Altmaier mit seinem berüchtigten Charme, den ich hasste. „Wir haben im Moment ein kleines elektrisches Malheur mit der Schleusenfunktion unserer Sicherheitstüren und würden Sie gerne bitte, vielleicht noch ein Stündchen mit uns zu feiern.“ Das war gegen ein Uhr am Morgen.
Nach einem Party-Krisengipfel im Büro der Kanzlerin mit dem erwähnten internen Zirkel verkündete um zwei Uhr morgens Maybritts lieblich-strenge Stimme, man müsse sich aufgrund besonderer Umstände damit abfinden, entweder bis zum Morgen durchzufeiern oder aber vom Übernachtungsangebot der Kanzlerin Gebrauch zu machen. Ihre Stimme klang entschlossen und topfit. Im zweiten Untergeschoss hatte der Hausservice bereits in einem turnhallengroßen Saal Feldbetten aufgestellt. Unwillkürlich dachte ich an die Erstaufnahmelager von Kriegsflüchtlingen. Während ein großer Teil der Gäste – vielleicht an die hundertfünfzig – noch feierten und Steffen Seibert etwas unsexy in seiner steifen Regierungssprecherart zum Tanz aufrief, sah ich fast ein Viertel der Gäste nach unten ins Bettenlager verschwinden. Ich blieb wach und nahm noch einen Schluck aus meinem Glas Orangensaft, das ich mir hatte reichen lassen.
Kai Diekmann, der BILD-Chefredakteur, kam auf mich zu. „Herr Koenig, irgendwann schreiben Sie auch für mich, wetten?“ begrüßte er mich und schlug hart in die Hand, die ich ihm höflich-zaghaft entgegenstreckte.
„Haben Sie je eine Wette verloren?“ fragte ich.
„Gerade eben“, antwortete er und lachte schallend. „Hab ich doch glatt darauf gewettet, dass die Herren aus dem Porsche- und VW-Vorstand geladen sind.“
„Vielleicht wieder einmal vor Gericht. Nicht hier.“ Ich sah ihn lächelnd an. „Die Gastgeberin dachte, bevor es hier zu sehr nach Abgasen riecht wie damals, lässt sie den Herren lieber mitteilen, dass die Gästeliste bereits erschöpft sei.“ Ich sagte zum BILD-Chef, dass all diese Skandale zwar nun vier Jahre zurück lagen, aber offensichtlich doch noch Auswirkungen zeitigten, aber Kai Diekmann sah zu Maike Kohl und wandte sich halb von mir ab. Er hatte sich für sie und Helmut Kohl damals als Trauzeuge zur Verfügung gestellt. Er zeigte mir, dem kleinen Auftragsschreiberling, ziemlich schnell die kalte Schulter und hängte mich gesprächstechnisch ab, indem er - leiser werdend - mit Maike Kohl über Helmuts Gesundheitszustand sprach.
Nebenan hörte ich Prof. Stefan Stevanovicz, den Leibarzt der Kanzlerin, wie er mit einer hochhackigen Dame witzelte. „Das Dumme am Leben ist, dass man eines Tages tot ist.“
Die Dame verzog ihren rotbemalten Mund ohne zu zeigen, ob ihr das etwas sagte oder nicht. Ich fand es jedenfalls witziger als Herrn Maschmeiers halb alkoholisiertes Geständnis, das von nebenan an mein Ohr drang. „Wissen Sie, wenn ich ehrlich bin, dann lüg ich richtig gut!“ Die um ihn versammelte Männerrunde – so stellte ich mir seine Drückerkolonne vor – lachte auffallend laut.
Ich bummelte noch eine Weile durch die Reihen, sah Alice Schwarzer mit ihren Händen umherfuchteln, begegnete Wolf Biermann, der wohl auch einen Auftritt hier haben sollte. Ralf Fücks, der Vorsitzende der einflussreichen grünen Heinrich-Böll-Stiftung, stand bei seiner Gattin Marie-Luise Beck, die von Anfang an beste Beziehungen zum Kiewer Putschregime gehalten hatte. Neben ihnen stand ihre Tochter Charlotte Beck, die – wie mir Frau Baumann erzählt hatte – für Angies Party extra aus den USA angereist war, wo ihr Daddy ihr im Washingtoner Büro der Grünen Stiftung einen Job als Abteilungsleiterin für den Bereich Außen- und Sicherheitspolitik besorgt hatte.
Dann ging ich hinauf in den Trakt, wo mein Büro lag, um bei Altmaier hineinzusehen. Würde sein Weltempfänger wieder funktionieren? Würden wir Nachrichten oder zumindest irgendein musikalisches Lebenszeichen von außerhalb empfangen? Als ich anklopfte, sein forsches „Herein“ hörte und die Tür sanft öffnete, saß er mit Steffen Seibert vor dem Radio und versuchte einen Sender zu finden. „Unglaublich! Ich kann noch nicht einmal den Deutschlandfunk bekommen“, sagte der Kanzleramtsminister. „Glaubst du, dass der Sturm den Sender unterbrochen hat?“
Seibert nickte. Der Deutschlandfunk ist der UKW-Sender für deutsche Nachrichten, die in alle Welt hinausgesendet werden. Bei den Russen spricht unser Regierungssprecher in einem solchen Fall von einem Propagandasender. Die nächste DF-Sendestation befindet sich auf dem Fernsehturm am Alexanderplatz, etwa einen Kilometer Luftlinie von uns entfernt.
„Vermutlich ist das Unwetter schuld“, meinte ich, nachdem ich den beiden freundlich zugenickt hatte. „Haben Sie schon einmal versucht, ihn auf Mittelwelle Mainz zu bekommen?“
„Von Kurz- über Mittelwelle bis UKW haben wir alles seit dreißig Minuten durchgespielt“, antwortete Seibert. „Alles, was wir hörten, war ein unbestimmtes Rauschen. Sehr merkwürdig.“
„Am besten wir mischen uns unter die Gäste und vertrösten sie auf eine Lösung am Morgen. Wissen Sie, ob wir genügend Schlafplätze für zweihundert Leute vorbereitet haben, Herr Koenig?“
„Soweit ich weiß, haben die Servicekräfte alles organisiert“, wehrte ich ihn ab. „Wenn Sie mich dann entschuldigen, ich muss mich um das Adoptivkind der Kanzlerin kümmern. Hoffen wir, dass alles gut wird. Oder sagen wir es so: Das schaffen wir!“
Beide verzogen das Gesicht, und ich ging zum Schlafsaal, zu Gaby und Yousef, wo ich keine viertel Stunde später einschlief.