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Als die Nacht um war

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„Stefan, was passiert da?“ schrie Yousef. Er durfte mich selbstverständlich beim Vornamen nennen. Ich hatte Angie darum gebeten, dass er von diesem hölzernen „Herr Koenig“ absehen durfte.

Er stand vor dem Kanzleramt und blickte auf das züngelnde Zischen im Gras. Mir war augenblicklich, als griffe eine eisige Hand nach meinem Herzen.

„Bleib da weg, Yousef! Das sind Stromkabel. Und da ist Strom drauf!“ Mir war völlig unklar, woher die Kabel kamen.

Es war sechs Uhr, ein strahlender Morgen. Der Himmel, der während der Hitzewelle dunstig gewesen war, hatte wieder eine frische tiefblaue Farbe angenommen. Nur das anhaltende Zischen nahe bei Yousef störte. Auf den ersten Blick konnte man die Stromkabel für zuckende Schlangenbündel halten. Hier draußen hatte die Elektrik wohl gelitten, aber im Kanzleramt war fast alles, wie es sein musste. Die auf Automatik geschalteten Türen und Fenster funktionierten zwar noch nicht, aber Beleuchtungen und Computer gingen wieder. Die normale Tür, zwar auch elektronisch gesichert, neben dem Automatik-Portal war der Weg nach draußen.

Was Altmaiers Radio inzwischen von sich gab, konnte ich nicht überprüfen. Ich hatte alle Hände voll zu tun, mich um Yousef zu kümmern. Gaby organisierte uns das Frühstück. Lafer hatte nur kurz geschlafen und war bereits wieder in der Küche im Untergeschoss, um für die verbliebenen rund hundert Partygäste ein Frühstückbuffet vorzubereiten. Ich schätzte, dass die Hälfte der Gäste bis zuletzt gefeiert hatte und gleich gegangen war, als die Lichter wieder aufflammten. „Gegangen waren“ ist der richtige Ausdruck, denn nicht alle konnten ihre PKW nutzen, sofern sie nicht in angemessener Entfernung außerhalb des Regierungssitzes geparkt hatten. Die Ein- und Ausfahrt zu den unterirdischen Parkplätzen war durch umgestürzte Bäume versperrt.

„Wie stoppt man das?“ fragte Yousef.

„Das können nur die Männer von den E-Werken.“

„Und wann werden sie kommen?“

„Das weiß ich nicht.“ Fünfjährige haben eine Unmenge Fragen auf Lager. „Sie werden viel zu tun haben, und es wird dauern. Lass uns mal gucken, Yousef, welchen Schaden der Sturm angerichtet hat.“

Wir gingen rund um das Kanzleramt, auf dessen Gelände jetzt einige Bedienstete vom Sicherheitsdienst und vom Hausservice nach dem Rechten schauten.

Es war schlimmer, als ich mir vorgestellt hatte. An vier verschiedenen Stellen versperrten Bäume und Metallteile die Straße zu den verdeckt gelegenen Parkplätzen. Wir kletterten über die Hindernisse hinweg und gingen weiter Richtung Gartengelände. In der Nachbarschaft sah es nicht besser aus.

Ich ging nach links, während Yousef brav hinter mir herging. Von fernher klang bereits das unangenehme Kreischen der Sägen. Als ich die Amtsbediensteten bei ihrer Aufräumarbeit beobachtete, hörte ich hinter mir Gaby, die Yousef aufgeregt laut zurief, er möge um die zischelnden Kabeln einen großen Bogen machen.

„Geh ins Haus, Yousef! Diese Leitungen sind gefährlich!“

„Er weiß über die Kabel Bescheid, Gaby.“ Ich umfasste sanft ihre Schultern.

Eine besorgte Falte bildete sich zwischen ihren Augen unterhalb der Micky-Maus-Frisur.

„Stefan, ich habe Angst!“

„Nun komm schon! Es ist vorbei! Du bist wahrlich kein Angsthäschen.“ Ich musste lachen.

„Vorbei? Wirklich? Der letzte Winter … und der späte Frühling … Experten haben von einem schwarzen Frühling gesprochen … sie sagten, es hätte in dieser Gegend seit 1986 keinen mehr gegeben. Damals mussten die Spielplätze das ganze Jahr über geschlossen bleiben ... Du erinnerst Dich: atomar verseuchter Sand … Tschernobyl … oh Stefan …“

So kannte ich sie nicht. Ich glaube, die taffe Gabriele war lediglich unausgeschlafen.

Mit »Experten« war zweifellos Alice Schwarzer gemeint, die in Berlin ein Büro für Wettervorhersagen betrieb, ein Konkurrenzunternehmen, um ihrem Intimfeind Kachelmann das Wasser abzugraben und zugleich steuerliche Vorteile einzuheimsen. Gabriele hatte dort des Öfteren vorbeigeschaut, unter anderem, weil sie sich der ehemaligen Frauenrechtlerin und Herausgeberin einer Frauenzeitschrift sehr verbunden fühlte. Wie das halt so ist zwischen zwei Journalistinnen.

In diesem Moment war ich jedoch der Meinung, dass Frau Schwarzer einen negativen Einfluss auf Gabys Verstand ausübte, der in jeder anderen Hinsicht ausgesprochen praktisch und nüchtern war. Erst hieß es, Alice Schwarzer sei Mitglied irgend einer geheimen Gruppierung, deren Ziel die allgemeine Steuerbefreiung war, dann hieß es, sie sei bei den Scientologen als Frauenbeauftragte tätig; schließlich landete die ehemals Ungläubige nur bei einem alttestamentarischen rachsüchtigen und wütenden Gott, der alles vernichten würde, was der Unmoral anheimfiele. Sie verstehen jetzt, weshalb ich den Kontakt zu meinen Freunden nicht gerne sah. Aber diesbezüglich war Gaby ein wenig anfällig, insbesondere, wenn Alice Schwarzer ihr abgestandenes Wasser mit auf den Weg gab, das sowohl gegen Migräne, Monatsbeschwerden, aber auch gegen Quetschungen half. Hinzu kam neuerdings ein völlig unzutreffender Wetterbericht. Ich nahm Gaby in den Arm. Zugegebenermaßen hatte ich in diesem Moment gegenüber meiner Frau Alexa im fernen Lowbrook ein durchaus schlechtes Gewissen

Man konnte mit Frau Schwarzers Glauben vorhersagen, wie der nächste Winter würde, indem man im Juni die Ringe an den Raupen zählte und im August den Umfang der Honigwaben maß. Und nun also, Gott schütze und bewahre uns, DER SCHWARZE FRÜHLING von 1986 (fügen Sie selbst so viel Ausrufezeichen ein, wie Sie wollen). Ich hatte diese Geschichte auch gehört. Sie erfreut sich in manchen spirituellen Kreisen großer Beliebtheit. Auch Schweppes, der Werkstattbesitzer in meinem Heimtatstädtchen, hatte mir früher etwas vom Schwarzen Frühling erzählt. Alexa und ich hatten unseren Toyota Land Cruiser (Baujahr 1960, eine echte Rarität) im Mai zu ihm gebracht. Schweppes verstand sich auf Oldtimer und konnte auf Teufel komm raus improvisieren, wenn es keine Ersatzteile gab.

Als wir den Wagen nach einem Tag abholten, hatte ein überraschender Sturm der ganzen Gegend fast zehn Zentimeter nassen, schweren Schnee beschert, der das junge Gras und die Blumen unter sich begrub. Schweppes hatte ausnahmsweise ein wenig ins Glas geschaut und uns begeistert die Geschichte vom Schwarzen Frühling erzählt, die er mit eigenen Ausschmückungen noch dramatischer gestaltete.

Zwei Tage später schmolz der Schnee wieder. Die Natur hält immer mal Überraschungen bereit, aber hierzu einen Hokuspokus zu bemühen, das ist mir völlig fremd. Dennoch mochte ich Schweppes, gerade auch, weil er ein phantasiebegabter und völlig weltoffener Mensch ist.

Gaby, die jetzt neben mir im Garten des Kanzleramts stand, sah immer noch skeptisch drein. „Der Sturm war nur der Vorbote des Unheils“, sagte sie.

„Hör mal, sobald unsere Profis diese Bäume durchgesägt haben, die die Auffahrt versperren, kannst Du nachhause. Okay?“

„Okay“, sagte sie erleichtert. „Was glaubst du, wann auch du fahren kannst?“

Die bürokratischen Erschwernisse eingerechnet, würde ich gegen elf Uhr fertig sein.

„Dann lade ich Dich zu mir ein und mache uns das Mittagessen auf dem Grill; wer weiß, ob der Herd nach dieser Nacht noch funktioniert. Aber du musst im Supermarkt einiges für uns einkaufen … ich habe fast keine Milch und keine Butter mehr. Und … na ja, ich schreibe dir einen Zettel.“

Eine Frau verwandelt sich eben bei der geringsten Katastrophe in einen Hamster! Ich drückte sie kurz und unauffällig und nickte. Auf dem Weg zum Hauptportal sahen wir uns noch einmal die Schäden an und entdeckten im hinteren Teil des Gartens Yousefs zertrümmertes Klettergerüst, auf dem er gestern Nachmittag noch Pirat gespielt hatte. Ein großer Baum hatte es quasi geteilt. Es war Altmaiers Lieblingsbaum, und ich hatte ihm schon vor zwei Jahren vorgeschlagen, den Baum zu fällen, da er morsch und faul war. Aber der großartige Kanzleramtsminister war von seiner moralischen Niederlage, die er sich bei Angie und mir eingefangen hatte, noch so befangen, dass er mir nicht Recht geben wollte. Nun hatten wir die Bescherung.

Yousef lief gerade vor uns her, dann blieb er abrupt stehen. Im gleichen Moment spürte ich, wie auch Gaby neben mir ganz steif stehen blieb, und ich sah es selbst: Die östliche Seite der Stadt hinter dem Kanzleramt war verschwunden. Sie war unter grellweißem Nebel begraben wie unter einer vom Himmel gefallenen Schönwetterwolke.

Mein nächtlicher Traum fiel mir wieder ein, und als Gaby mich fragte, was das sei, wäre mir um ein Haar das Wort GOTT entschlüpft.

„Stefan?“ Es war Yousef, der mich rief.

Man konnte nicht einmal eine Spur der östlichen Nachbarschaft dort drüben sehen, aber jahrelanges Betrachten der Hochhäuser, des Fernsehturms und des brodelnden Stadtverkehrs brachte mich zu der Überzeugung, dass sich der Ostteil nur wenige hundert Meter hinter der fast schnurgeraden Nebelfront befinden musste.

„Was ist das, Stefan?“ rief Yousef.

„Eine Nebelwand“, antwortete ich.

„Auf den Straßen?“ fragte Gabriele zweifelnd, und ich konnte Alice Schwarzers Einfluss in ihren Augen sehen. Dieses verdammte Weib! Mein eigenes flüchtiges Unbehagen legte sich schon wieder. Träume sind schließlich nichts Gegenständliches – ebenso wenig wie Nebel.

„Sicher. Du hast doch schon oft Nebel in der Stadt gesehen.“

„So einen noch nie. Das hier sieht mehr wie eine Wolke aus.“

„Das liegt an der grellen Sonne. Wenn man mit dem Flugzeug über Wolken hinwegfliegt, sehen sie genauso aus.“

„Aber woher kommt er? Nebel bildet sich doch sonst nur bei feuchtem Wetter.“

„Na, jedenfalls ist er jetzt da“, sagte ich. „Zumindest im Ostteil Berlins. Es ist eine Folgeerscheinung des Sturms, weiter nichts. Zwei Wetterfronten, die aufeinandergeprallt sind. Irgend so was.“

„Stefan, bist du ganz sicher?“

Ich lachte und war in Versuchung meinen Arm um ihre Schulter zu legen. „Nein, ich verzapfe bestimmt einen hanebüchenen Unsinn. Wenn ich sicher wäre, könnte ich die ARD-Wettervor-hersage in den Abendnachrichten machen. Lass uns rein und frühstücken.“

Sie warf mir einen zweifelnden Blick zu, schirmte mit der Hand ihre Augen vor der Sonne ab und betrachtete kurze Zeit die Nebelschicht. Dann schüttelte sie den Kopf. „Sonderbar!“ sagte sie und ging auf das Hauptportal des Regierungssitzes zu. Für Yousef hatte der Nebel seine Anziehungskraft bereits eingebüßt.

Ich stand da und betrachtete zuerst noch einmal den Schaden und die Helfer, dann starrte ich wieder auf den Nebel. Er schien jetzt näher zu sein, aber es war sehr schwer, das mit Sicherheit zu sagen. Wenn er jetzt aber tatsächlich näher war, so widersprach das allen Naturgesetzen, denn der Wind – eine ganz leichte Brise – wehte in der Gegenrichtung. Natürlich war das ein Ding der Unmöglichkeit.

Er war sehr, sehr weiß. Das einzige, womit ich ihn vergleichen kann, ist frisch gefallener Schnee, der in blendendem Kontrast zu einem strahlenden tiefblauen Winterhimmel steht.

Aber Schnee reflektiert tausend- und abertausendfach die Sonne, und diese seltsame Nebelbank sah zwar hell und klar aus, aber sie funkelte nicht in der Sonne. Gaby hatte vorhin etwas Falsches behauptet – Nebel ist an klaren Tagen nichts Ungewöhnliches, aber wenn er sehr stark ist, bildet sich durch die Feuchtigkeit fast immer ein Regenbogen. Aber hier sah man keinen Regenbogen.

Wieder überfiel mich ein Unbehagen, aber dann wurde ich abgelenkt durch Yousefs Ruf. Er hatte Hunger. Auch ich wollte endlich frühstücken und ging zum Gebäude zurück und fühlte mich zum ersten Mal seit dem Aufstehen etwas wohler, weil ich Yousefs Wohlergehen vor Augen hatte. Beim Frühstück konnte ich Gaby überreden noch eine Stunde hierzubleiben; vielleicht konnten wir gemeinsam das Kanzleramt verlassen. Viele der Gäste schliefen noch. Yousef fragte nach seiner Mutter. Die Kanzlerin war vor Übermüdung auf ihrem Privatzimmer, das eine Etage über ihrem Büro lag, eingeschlafen. Dort hatte sie ein Bett. Und sie war noch nicht wach, sagte mir Steffen Seibert, dessen Augenschatten heute früh unübersehbar waren. Ich schlenderte durch den Schlafsaal und entdeckte endlich Ken Jebsen, den ich schlafen ließ.

Gegen sieben Uhr tippte mir jemand in die Seite. Es war Yousef, eine Bierdose in einer Hand, Gabys Einkaufsliste in der anderen – falls ich nicht mit ihr gemeinsam gehen konnte. Ich stopfte den Zettel in die Gesäßtasche meiner Anzughose und griff nach dem alkoholfreien Bier, das angenehm kühl war. Ich trank fast die Hälfte davon mit einem Schluck aus – selten hat mir ein Bier am Morgen so gut geschmeckt – und empfand die herankriechende Tageshitze nun weniger erdrückend.

„Gaby hat unten auf die Liste noch was draufgeschrieben, aber ich kann ihre Schrift nicht lesen“, sagte Yousef.

Ich holte die Liste wieder aus meiner Tasche. „Ich bin hier oben bei Herrn Altmaier. Wir können Radio Berlin und den Deutschlandfunk immer noch nicht bekommen“, lautete ihre Notiz. „Glaubst du, dass der Sturm den Sender unterbrochen hat?“

Radio Berlin ist der UKW-Sender für Popmusik und halbstündige Kurznachrichten. Im Gegensatz zum benachbarten Fernsehturm, von wo aus der Deutschlandfunk sendet, liegt die Sendestation von Radio Berlin auf dem weiter westlich gelegenen Teufelsberg, etwa fünf Kilometer Luftlinie von uns entfernt.

„Sag ihr, vermutlich ja“, meinte ich, nachdem ich Yousef ihre Frage vorgelesen hatte. „Frag sie, ob sie auf Mittelwelle den Deutschlandfunk aus Mainz bekommen können.“

„Okay, Stefan. Kann ich mitkommen, wenn du nachher in die Stadt fährst?“

„Klar. Du und deine Mama auch, wenn sie Lust hat.“

„Ja, wenn sie wach ist“, antwortete er.

Ich wusste, dass Angie samt unauffälligem Sicherheitsgefolge hin und wieder tatsächlich auf dem Alexanderplatz einkaufen ging, was ich mir aber heute nicht vorstellen konnte.

„Nun, Yousef, geh zu Herrn Altmaiers Büro.“

„Okay.“ Er rannte mit der leeren Bierdose in den ersten Stock zurück.

Ich hatte mich bereits durch die abgestandene Partylandschaft vorgearbeitet, mir das neu bestückte Frühstücks-Buffet angeschaut und holte mir gerade einen Kaffee und dachte an den Spruch meines unseligen Büronachbarn Altmaier (Kaffee auf Bier rat‘ ich Dir), als ich durch eine der Glastüren sah, wie ein orangefarbener Kastenwagen der E-Werke auf das Gelände fuhr; das ging also in Ordnung. Die Straßen waren offenbar frei, und die Jungs vom E-Werk würden sich hier um die Leitungen kümmern.

Ich trank einen Schluck und dachte daran, dass der Deutschland-Funk nicht empfangen werden konnte. Das war die Richtung, in der ich den komischen Nebel gesehen hatte. Radio Berlin hingegen war auch nicht zu hören, und dessen Sendeanlagen lagen viel weiter westlich. Einige Kilometer entfernt von jener ungewissen Wetterfront. Das erinnerte mich an die Idee des Lowbrooker Werkstattbetreibers über den sogenannten Schwarzen Frühling – weltweite Fracking-Projekte bedankten sich mit bislang unbekannten Wetterphänomenen. Zumindest hatte er das in einer Wissenschaftszeitschrift gelesen, die er an seiner Tankstelle vertrieb.

Ich hatte es augenzwinkernd abgetan. Außerdem verbreitete eine alte Lowbrooker Bekannte die Geschichte von der weltweit zunehmenden Strahlung, die sie hätte messen lassen. Und auf das Wort »Strahlung« reagiere ich naturgemäß sehr empfindlich, seit ich der Nuklearkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 während meines Japanbesuches an der Seite der Kanzlerin nur knapp entgangen war.

Schweppes sagte, er wisse genau, dass es am Fracking liege, aber wenn man ihn fragte, woher er seine Informationen denn habe, gab er ziemlich vage Antworten. Sein Bruder arbeite für die Telekom, und dort habe man gewisse Dinge gehört. Und einmal erwähnte er die Ukraine und Tschernobyl, aber da war er - ehrlich gesagt - ziemlich beschwipst gewesen.

„Atomzeugs“, hatte Schweppes an jenem Tag erklärt, während er im Fenster meines Land Cruisers lehnte und einen unglücklichen Eindruck machte. „Damit treiben sie dort ihren Unfug. Schießen Atome in die Luft und all so was.“

„Herr Schweppes, die Luft ist doch sowieso voller Atome“, hatte Alexa, die auf dem Beifahrersitz saß, eingewandt. „Das sagt uns jedenfalls die wöchentliche TV-Wissensshow. Es heißt, alles sei voll von Atomen.“

Schweppes hatte meiner Frau einen langen Blick aus seinen gutmütigen Augen zugeworfen. „Das sind ANDERE Atome, meine Beste. Das sind ganz andere Atome, die lassen das Leben rückwärts ablaufen.“

„Ach so“, hatte Alexa gemurmelt, während ich sie heimlich am Knie stupste.

Hartmut Müller, unser heimischer Versicherungsagent, erzählte, das Fracking sei kein Problem, es sei eine wissenschaftlich-technische Revolution, nicht mehr und nicht weniger. „Größere Mengen Treibstoff, billigeres Benzin und all so was“, sagte Hartmut weise und fuhr sodann in seinen Erklärungen fort, dass ich meiner Ehe – versicherungstechnisch gesehen – am besten helfen könnte, wenn ich jung sterben würde. Steffi Köhler, unsere Briefzustellerin, war hingegen der Meinung, es sei eine geologische Normalität, weil Fracking und Gasgewinnung nichts mit dem Wetter zu tun hätten, schließlich spiele sich Fracking unter der Erde ab. Sie wisse es ganz genau, denn der Bruder ihres Mannes arbeite auch bei der Post, in Nordhessen. Und er kenne dort eine Bürgerinitiative mit mehreren tausend Mitgliedern, die gegen das Vorhaben, Erdöl und Erdgas mit Hilfe des Fracking-Verfahrens zu fördern, bereits gerichtlich vorgingen; er habe die Verfahrenspost zugestellt.

Und Alice Schwarzer – nun, sie neigte vermutlich mehr zu Schweppes‘ Theorie. Nicht einfach Atome, sondern ANDERE Atome.

Ich sah draußen den Männern zu, die zwei weitere Baumstücke absägten, als Yousef mit einer neuen Dose Bier in einer Hand und einem Zettel von Gaby in der anderen angerannt kam. Es war nun bereits halb acht. Ich wüsste nicht, was Big Yousef lieber täte als Botschaften zu überbringen.

„Danke“, sagte ich und nahm beides entgegen.

„Kann ich einen Schluck haben?“

„Aber nur einen“, antwortete ich lächelnd und las dann Gabys Zettel.

„Wir haben einen undefinierbaren Auslandssender im Radio bekommen“, hatte sie geschrieben. „Glaubst du, dass ich heimfahren kann und die Straßen frei befahrbar sind?“

Ich gab Yousef den Zettel zurück. „Sag ihr, die Straßen müssten frei sein, weil vor kurzem ein Wagen vom E-Werk hier ankam. Ich werde die Leute mal fragen.“

„Okay.“

Er rannte zurück und ich blickte ihm nach. Ich mag ihn sehr. Sein Gesicht und die Art, wie er mich manchmal anschaut, geben mir das Gefühl, als sei die Welt in Ordnung. Natürlich ist das eine Lüge – viele Dinge sind nicht in Ordnung und waren es auch nie – aber Angies Junge lässt mich für kurze Zeit an diese Lüge glauben. Ich glaube die Kanzlerin und ihr Mann haben ihm immer noch nicht gesagt, dass er im Babyalter der einzige Überlebende eines Terrorangriffs der von der CIA ausgebildeten und bewaffneten Rebellen in Homs war, bei dem seine beiden Eltern umkamen, und dass er danach über ein Jahr im Wachkoma lag. Er hatte sein Gedächtnis total verloren. Sie haben ihm gewiss noch nicht gesagt, dass sie ihn adoptiert haben. Man hatte mich gebeten, bei dem Kleinen dieses Thema zu meiden.

Es lebe die Lüge.

Ich machte mich auf die Suche nach den Männern von den E-Werken, und kurze Zeit später tippte mir mein Büronachbar auf die Schulter. Ich blieb stehen. Er sah ganz anders als gewöhnlich aus – verschwitzt und müde und unglücklich und ein bisschen verlegen.

„Moin, Herr Altmaier“, sagte ich. Zuletzt hatten wir vor einer Woche ziemlich harte Worte gewechselt, doch letzten Abend und in der vergangenen Party-Nacht waren wir nicht sonderlich aneinander geraten, und das will schon etwas heißen. Dennoch wusste ich nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte.

„Hallo, Herr Koenig“, antwortete er nach kurzem, betretenem Schweigen. „Jener … jener Baum … jener verdammte Baum! Es tut mir leid. Sie hatten Recht.“

Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Ein anderer Baum ist genau auf mein Auto, das auf dem offenen Parkplatz stand, gefallen“, fuhr er fort.

„Es tut mir leid, das zu hö …“, begann ich, und dann überkam mich eine schreckliche Ahnung. „Es war doch hoffentlich nicht der Thunderbird?“

„Doch.“

Wir beide waren Oldtimer-Fans. Altmaier hatte neben seinem schwarzen Dienstwagen einen Thunderbird Baujahr 1970, einen echten geilen Oldtimer, tadellos erhalten, Kilometerstand nur 72 000 km. Er hatte ihn aus den USA importieren lassen. Er fuhr selten damit, nur im Sommer. Er liebte ihn. Es war so etwas wie eine gegenwärtige Erinnerung an seinen ersten Kontakt zur Atlantikbrücke, wo man sich unter anderem über solche Limousinen persönlich näher kam.

„So ‘ne Scheiße!“ sagte ich, und ich meinte es ehrlich.

Er nickte langsam. „Ich wollte erst gar nicht mit ihm hier herausfahren, wollte ihn in zuhause in der Garage lassen, wissen Sie. Hätte eigentlich den Dienstwagen genommen. Dann sagte ich mir, was soll’s. Und jetzt ist mir eine alte morsche Kiefer draufgefallen. Das ganze Dach ist zerschmettert …“

Er schluckte und sein Mund bewegte sich wort- und zahnlos, als kaue er Datteln. Einen Augenblick fühlte ich mich hilflos, dann sagte ich: „Ist Ihr Auto versichert?“

„Ja“, erwiderte er, „genau wie alles hier auf dem Gelände - über unseren Freund Maschmeier.“

Es war – rein privat gesehen - ein beruhigendes Argument, und doch musste ich unwillkürlich an die Riesterrente und all den anderen unsozialen Unsinn denken, den Maschmeiers Seilschaften als Gesetzespakete bei unseren Regierenden durchgesetzt hatten, Vorteilsannahmen natürlich völlig ausgeschlossen. Wir gingen zum Haupteingang des Amtes zurück. Als ich mich vor dem Tor nach Yousef umdrehte, um mich zu vergewissern, dass er noch an die abgerissenen Stromkabel dachte, sah ich auf die östliche Straßenseite hinüber: Die Brise war etwas frischer geworden, die Temperatur um etwa fünf Grad gestiegen, während ich mit dem Inspizieren der Schäden beschäftigt gewesen war. Ich hatte gedacht, dass der seltsame Nebel von vorhin sich inzwischen bestimmt aufgelöst haben würde, aber er war noch immer da. Er war näher gekommen. Er hatte jetzt die zwischen uns und dem Ostteil Berlins liegenden Straßen zur Hälfte überquert.

„Mir ist das vorhin schon aufgefallen“, sagte Altmaier in seiner altklugen Art. „Es dürfte sich hierbei um eine Temperatur-Inversion handeln.“

Es gefiel mir nicht. Ich wusste genau, dass ich noch nie einen solchen Nebel gesehen hatte. Das lag zum Teil an der entnervend geraden Front. In der Natur ist nichts so völlig eben; die geraden Kanten und Ecken hat der Mensch erfunden. Zum Teil lag es an dieser blendend weißen Farbe ohne jede Schattierung, aber auch ohne das Funkeln von Feuchtigkeit. Der Nebel war jetzt nur noch etwa einen Kilometer entfernt, und der Gegensatz zwischen ihm und dem Blau des Himmels war noch auffallender als zuvor.

Yousef stand plötzlich neben mir. „Nun komm schon, Stefan!“ Er zog an meiner Hose.

Wir gingen in den behelfsmäßigen Partyraum – man könnte ihn jetzt Kantine nennen - zurück, wo Gaby im Flur auf uns wartete. Bevor wir die Stufen hinunter gingen, warf Peter Altmaier des guten Anstands halber einen bedauernden Blick auf den Baum, der in den oberen Partyraum gestürzt war. Dann glitten seine Blicke über Gabys Beine. Nein, er war kein Mann, den ich jemals richtig mögen könnte.

Ich ging in mein Büro und bat Gaby, einen Moment alleine bei Yousef zu bleiben. „Hör mal, Gaby, seht ihr beide doch mal nach, ob Yousefs Mama wach ist. Eigentlich ist sie ja eine Frühaufsteherin“, sagte ich.

Ich wollte ungestört mit meiner Frau telefonieren. Ich konnte mir selbst gegenüber zwar keinen konkreten Grund dafür angeben, aber ich wollte plötzlich, dass ich ihre Stimme hörte. Ich wollte hören, dass dort unten im hessischen Lowbrook mit dem Wetter alles in Ordnung sei.

„Nein, Stefan, wir hatten hier auch ein gewaltiges Unwetter. Ich werde lieber im Haus bleiben; vielleicht später im Garten aufräumen. Ansonsten ist alles in Ordnung“, erwiderte sie mir auf meine Frage. Alexas Stimme verriet mir, dass etwas absolut nicht in Ordnung war, aber sie wollte mich nicht beunruhigen. „Es sieht heute Morgen ganz so aus, als sei ich hier das Einzige, was nicht auf Elektrizität angewiesen ist.“

Ich hatte ihre Botschaft verstanden, versuchte es aber noch einmal: „Bist du sicher, dass alles okay ist?“

„Ganz sicher!“

Ich schickte ihr ein Kussi durch die Leitung. Ich stellte mir vor, wie sie jetzt ihr Gesicht zu mir emporrecken würde, um sich küssen zu lassen.

„Sei vorsichtig, Stefan. Was Du mir über den Abend und die Nacht erzählt hast, klingt nicht vertrauenerweckend.“

„Ich werd‘ bestimmt vorsichtig sein. Aber unsere Regierung hat ja eine Menge Dienststellen und Helfer, die alles wieder ins Reine bringen. Verlass dich drauf.“

„Trotzdem, sei schön vorsichtig“, ermahnte sie mich und erwiderte meinen Kuss durch das Telefonnetz.

„In Ordnung, Schätzchen.“

„Vielleicht gehe ich doch schon in den Garten. Die Wolkendecke reißt gerade auf und draußen ist eine Menge zu tun.“

Ich stellte mir vor, wie sie gleich schon im Garten hantieren würde. Sie würde ihre grüngummierten Gartenhandschuhe tragen und hätte in der einen Hand wahrscheinlich eine Baumschere, in der anderen einen Eimer. Sie wird ihren alten schlappen Sonnenhut tragen, dachte ich. Ich küsste noch zwei Mal laut in die Leitung, und sie küsste zurück.

Ich legte auf. Seitdem habe ich meine Frau nicht mehr gehört und gesehen.

Tod im Kanzleramt

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