Читать книгу Tod im Kanzleramt - Stefan Koenig - Страница 7

Die ersten Anzeichen

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Ich hielt mich zu dieser Zeit gelegentlich in Berlin auf; und dort arbeitete ich für die Kanzlerin noch vier Jahre später (es war ein Samstag), als Angie - wie ich sie nennen durfte - und ich den ersten Sturm kurz vor Einbruch der Dämmerung aus Richtung der Joachim-Gauck-Allee im Osten Berlins, der früheren Josef-Stalin-Allee, heraufziehen sahen. Noch eine Stunde vorher war es völlig windstill gewesen. Die Hitze lastete schwer und drückend auf uns und auf den ersten Partygästen. Am Nachmittag hatten Angie und ich abgeschirmt im Pool des Kanzleramtes gebadet, aber das Wasser, das direkt aus einer kühlen Quelle gespeist wurde, brachte keine Erfrischung – die Sonne hatte es in kürzester Zeit aufgeheizt. Vielleicht können Sie sich die Kanzlerin nicht in einem Swimmingpool vorstellen, doch ich versichere Ihnen, sie ist ein ganz normaler Mensch, und sie schwimmt wirklich sehr gerne. Weder die Kanzlerin noch ich wollten länger im Pool bleiben, weil wir befürchteten, Yousef könne einen Hitzekoller bekommen. Yousef ist fast sechs Jahre alt. Gegen Ende des Jahres 2015 hatte das Ehepaar Merkel-Sauer ihn adoptiert. Für Yousef hieß die Kanzlerin einfach „Mama“ und Professor Sauer nannte er selbstverständlich „Papa“. Gelegentlich musste ich auf Yousef aufpassen. So wie an jenem Samstag, dem 20. Juli 2019.

Eine Stunde vor Beginn der Party kam ein Kanzleramtsbediensteter, und an seiner Seite sah ich Gabriele Krone-Schmalz, eine gute Freundin von mir und meiner Frau, und eine noch viel bessere Journalistin. Sie war meiner Einladung gefolgt; Frau Merkel hatte mir mit ihrem spitzbübischen Lächeln freigestellt, jemanden mitzubringen, unter der Voraussetzung, meine Frau, die zuhause in Lowbrook geblieben war, wäre damit einverstanden. Gabriele ist meine ehemalige Journalisten-Kollegin und wollte schon immer mal die Kanzlerin persönlich kennen lernen, außerhalb von beruflichen Interviewterminen. So hatte ich sie kurzfristig angerufen, und nun stellte ich sie meiner Arbeitgeberin vor.

Um halb sechs nahmen wir auf der großzügig angelegten Kanzleramts-Terrasse, die nach Osten mit Blick zum Fernsehturm am Alexanderplatz hinausgeht, ein kaltes Abendessen ein. Die Kanzlerin hatte bereits eine kurze Ansprache gehalten, und die annähernd 200 Gäste hatten an den Tischen Platz genommen. An unserem Achtertisch saß Yousefs deutscher Professoren-Vater, der Physiker (und ich erwähnte es schon: der Gatte meiner Arbeitgeberin) Joachim Sauer. Neben ihm saßen in ausgesuchter Reihenfolge die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, dann einer der unauffälligen Typen vom Sicherheitsdienst, neben ihm der Außenminister mit den exklusiv herabhängenden Mundwinkeln, der emsige Frank-Walter Steinmeier, schließlich Gabriele und ich neben Yousef, der direkt neben seiner Mutter saß. Wir alle knabberten ziemlich lustlos an Käsesandwiches und stocherten in einem hausgemachten Kartoffelsalat von Johann Lafer herum. Keiner ließ sich die Lustlosigkeit so richtig anmerken. Alle gaben dem Wetter die Schuld. Das Essen war wirklich vorzüglich und es gab eine große Auswahl; von Seezunge und Shrimps über Steaks und Königsberger Klopsen bis zu veganen und vegetarischen Speisen. Aus jedem Bundesland wurde eine typische Speise angeboten.

Der Exklusivkoch arbeitete heute - extra eingeflogen aus München - im Untergeschoss des Kanzleramtes in einer supermodernen Küche, wo er von den folgenden schrecklichen Ereignissen erst ziemlich spät, fast zu spät, erfuhr. Eine weibliche Bedienung, eine sehr stilvolle junge Frau mit brünettem Haar unter ihrem Häubchen, kam an unseren Tisch. Niemand schien etwas anderes zu wollen als Mineralwasser oder, wie ich, Cola Zero, das man uns in einem schicken Metallgefäß voller Eiswürfel kühlte. Wir beobachteten die unruhigen Vögel auf den Baum-Ästen im Kanzleramtsgarten.

Plötzlich überkam mich ein komisches Gefühl und in meinem Geiste sah ich vorüberfliegende Drohnen, immer taumelnd, in Gefahr abzustürzen – und reflexartig warf ich Uschi, unserer Drohnenexpertin, unauffällig einen Blick zu. Sie saß ziemlich ungerührt auf ihrem Platz, etwas steif, vielleicht sogar so steif wie ihre Frisur. Und dann lenkte ich mich ab und stellte mir vor, wie auf der Friedrichstraße hübsche Frauen ihre zunehmend nervösen Hunde eilig Gassi führten.

Als mir dies nicht weiterhalf, wandte ich mich mit einem Ruck an den Kanzlergatten; ich weiß auch nicht, was mich geritten hatte, jedenfalls fragte ich ihn ganz unverblümt: “Wie sollte man unter physikalischen Gesichtspunkten das Fracking beurteilen, was meinen Sie, Herr Sauer?“ Ich kann mich erinnern, dass er mich mehr als nur merkwürdig ansah. Vielleicht zweifelte er in diesem Moment an meinem Verstand, und ich glaube, einen kurzen Augenblick lang zweifelte ich selbst daran. Denn das war keineswegs eine der üblichen Small-Talk-Fragen, die man auf der Party von Sauers Gattin hätte stellen sollen. Aber nun war mir die Frage in all meiner Hilflosigkeit herausgerutscht und so musste ich das Beste daraus machen.

„Fracking kennen wir hier ja gar nicht“, sagte er trocken und stocherte mit professoraler Würde in Lafers Kartoffelsalat herum.

„Ich meine, diese tiefen Bohrungen und all die Chemie, die Umweltschäden …“

„Nicht hier. Haben wir hier nicht“, wiederholte er knapp sein Statement.

„Aber in Amerika; man liest so viel darüber …“

„Ja, es wird viel geschrieben.“ Sauer sah zur Kanzlerin und sie sah zu mir. In ihrem Blick loderte jener Funke Misstrauen auf, der mich veranlasste, die entscheidende Frage nicht zu stellen. Zu gerne hätte ich gewusst, ob der Kanzlergatte eingeweiht war in das Wissen seiner Frau. Ob er wusste, dass amerikanische Unternehmen in der Ukraine experimentierten. Eine unangenehme Stille entstand. Langsam dämmerte mir, dass ich ihm die Frage vielleicht in vertrauter Zweisamkeit hätte stellen sollen. Um die Peinlichkeit zu überbrücken, landete ich meinen nächsten Gesprächsversuch nun bei einer sicheren Zielperson, bei Gabriele Krone-Schmalz, und ich sagte: „Schön, dass Du doch noch gekommen bist.“ Sie hat extra wegen der Kanzleramts-Party einen Termin für den Bericht aus Berlin mit der ARD abgesagt. Doch man hatte ihr versprochen, sie stattdessen in der Folgewoche zu interviewen. Das war ein Wort. Ob man jedoch Wort hielt - das war Gabriele wohl bewusst -, war eine andere Sache. Sie nickte mir milde zu. Sie spürt immer, wenn ich etwas aus Verlegenheit sage. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie kurz meinen unbeholfenen Gesprächsfaden aufnahm und daraufhin jedenfalls ein paar der üblichen Höflichkeiten mit Angela wechselte; wahrscheinlich Belanglosigkeiten, obwohl das nicht ihr Ding ist. Ich weiß es nicht mehr.

Nach dem Abendessen ging Yousef im hinteren Bereich des Kanzleramtsgartens auf sein Klettergerüst, um Pirat zu spielen. Ein Sicherheitsbeamter begleitete ihn, weil die Kanzlerin meine Anwesenheit an ihrem Tisch wünschte und weil ich ungern meine Begleiterin Gabriele alleine am Tisch zurück gelassen hätte; die Kanzlerin spürt so etwas. Was immer man politisch über sie denken mag, aber in solchen Punkten ist sie absolut feinfühlig. Wir konnten Yousef aus der Ferne beobachten. Er saß auf dem Ausguck und ich glaubte, ihn rufen zu hören: „Achtung, Schiff backbord. Bereit zum Entern!“

Rundum herrschte Partystimmung. Die Puhdys, eine bekannte Rockband aus DDR-Zeiten, spielten in angenehmer Lautstärke Songs der achtziger und neunziger Jahre. Ich vernahm Stimmen, die ich, ohne mich größer umsehen zu wollen, versuchte, irgendwelchen bekannten Personen zuzuordnen. Hörte ich da nicht die Stimmen der gut versicherten Veronika Ferres und ihrem Gemahl Maschmeyer? Na klar. Und dann schien ich Til Schweiger zu hören, und etwas weiter entfernt vernahm ich zwei unangenehme Stimmen, auf die ich heute wirklich hätte verzichten können; sie gehörten, ich war mir sicher, zu Alice Schwarzer und Wolf Biermann.

Nun hatten unsere Tischgäste die wetterbedingte Lustlosigkeit doch noch überwunden und sich bis eben angeregt und locker unterhalten. Aber jetzt saßen die Kanzlerin, ihre Tischgesellschaft und ich eine kurze Zeitlang da, ohne viel zu reden, tranken kaltes Cola, O-Saft oder Wasser und blickten hinüber nach Osten in Richtung des hochragenden Berliner Fernsehturms. Die immer grünen Bäume des äußerst gepflegten Kanzleramtsgartens sahen staubig aus und wirkten erschlafft. Selbst der immer blaue Himmel der letzten Tage nahm allmählich ein staubiges Blau an.

Im Osten bauten sich langsam massive purpurne Gewitterwolken auf, formierten sich wie eine grandiose und schlagkräftige Armee, wie gemacht für Frau von der Leyen. Ein feiner Nebel zog auf. Blitze zuckten, die selbst die dunklen Gewitterwolken in ein grelles merkwürdiges Hell verwandelten; sie waren noch weit entfernt und doch registrierte sie mein Bewusstsein, als zuckten sie unmittelbar vor dem Kanzleramt.

Yousef schrie vom Klettergerüst herunter: „Achtung, Blitzschüsse auf den Bug!“

Flinten-Uschi lachte. Man durfte sie niemals so nennen, aber wenn wir einfachen Mitarbeiter unter uns waren, rissen wir schon einmal Schoten und nannten sie so.

Ich musste zur Toilette. Als ich am Büro des Kanzleramtsministers Peter Altmaier vorbeikam, hörte ich, dass sein Radio - er war ein passionierter Radiohörer - auf jene Rundfunkstation eingestellt war, die vom östlich gelegenen Frankfurt/Oder klassische Musik sendet, und bei jedem Blitz gab es laute Störgeräusche von sich. Altmaier war ein dicker Freund von Angie, eine echte alte Seilschaft, ein typisch sparsames Nachkriegskind, was man seinem Bauchumfang jedoch nicht ansah. Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Krankenschwester. Vielleicht war es das, weshalb viele in dem später einsetzenden Partychaos ihre ganze Hoffnung auf ihn setzten. Einst arbeitete er als Rechtsanwalt, dann eine Zeitlang als Hoher Beamter in der Generaldirektion der Europäischen Kommission.

Altmaier war einem kleinen Dorf an der Saar entsprungen, und hier oben in Berlin hatte er in Affengeschwindigkeit eine Karriere im Kanzleramt hingelegt. Er hatte sich vor zwei Jahren mit mir zerstritten, und er hat ein Elefantengedächtnis und kann weder vergessen, noch verzeihen. Er hatte gegenüber dem Vizekanzler Gabriel behauptet, ich nutze meine Stellung als Kanzlerin-Biograf, um die Regierungschefin politisch zu beeinflussen, was natürlich völliger Quatsch war. Er spielte auf meine Einstellung zur Ukraine an, deren Regierung ich wahrhaftig nicht als leuchtendes Vorbild einer demokratischen europäischen Demokratie bezeichnen würde. Aber Siegmar Gabriel hatte ohne mich zu fragen in bester sozialdemokratischer Manier nichts Anderes zu tun, als dies weiter zu tratschen.

Die Sache kam vor die Kanzlerin. Sie stellte sich auf meine Seite, was Altmaier als Niederlage empfand. Er behauptete, ich hätte nur gewonnen, weil sie und ich uns duzten und weil er weniger im Kanzleramt sei als ich. Und weil er kein »Privatsekretär« wäre, so wie ich. Und weil ich »besondere Beziehungen« zu Frau Merkel hegen würde. Das war schon nicht mehr nur Quatsch, das grenzte stark an Verleumdung, und Altmaier und ich empfinden seitdem wenig Sympathie für einander.

Ich habe nur ein einziges Mal bei Angie wegen dem Geheimprojekt nahe Tschernobyl nachgefragt. Schließlich ging es nun, knapp drei Jahrzehnte nach dem tödlichen Atomdesaster von Tschernobyl, schon wieder um die Gesundheitsgefährdung unserer Kinder. Damals, in der ersten Hälfte des Jahres 2015, verhielt sich die Kanzlerin mir gegenüber eher zurückhaltend; sie könne nichts sagen, was über das allgemein Bekannte hinausginge; die Genehmigungen und Bohrungen zu Forschungszwecken seien Sache der souveränen ukrainischen Regierung; alles andere gehöre in den Bereich des Privatrechts oder der Phantasie. Die Ukraine profitiere enorm von den amerikanischen Investitionen und sei gerade deshalb in der Lage, schon bald ohne EU-Kredite auszukommen.

Das war die Zeit, als – trotz zunehmender Armut und trotz dem täglichen Hamsterrad, in dem sich ein Drittel der Deutschen befand – eine Teuerungsrate durch unser Land rollte; als der Euro gegenüber dem Dollar abschmierte, als Mietpreise, Grund- und Gewerbesteuer um durchschnittlich fünfzig Prozent angehoben wurden und die Bürgermeister mit den Fingern auf Berlin zeigten: „Letztendlich verbleibt uns am Ende der staatlichen Kette nur, für alle Leistungen, die wir den Bürgern erbringen, Steuern und Gebühren anzuheben. Ein Schritt, der allen Beteiligten nicht leicht fällt.“

Da ahnte noch niemand in Europas reichstem Land, wie die staatliche Kette zerreißen und das Ketten-Ende sich in seine Einzelteile auflösen würde. Noch regierte Hoffnung und man feierte die jährlichen Kanzleramtspartys. Und die eine Billion schwere Beamten-Pensions-Welle rollte, ohne dass jemand Tsunami-Warnung gab; die hauptberuflichen Warner kamen ungern ihrer Pflicht nach, schließlich waren sie selbst bald Pensionäre.

Dann aber rollte die Flüchtlingswelle aus Afrika und dem Nahen Osten heran, bäumte sich zu einer wahren Sturmflut auf und flutete Europa. Alle bisherigen Probleme traten in den Hintergrund. Das Tagesgeschäft im Amt drehte sich um die Migranten und um ein neues Asylgesetz, um Zäune und Polizeieinheiten, die man rund um die Festung Europa zu ziehen sich bemüßigt sah. Aber auch damals schon wurde trotz alledem zu schicken Kanzleramts-Partys eingeladen. Der amtliche Planungsstab gab stets sein Bestes. Made in Germany. Nur die VW-Manager wurden in jenen Tagen ausgeladen. Sie rochen nach Diesel.

Ich unterbrach meine Erinnerungen. Denn nun, vier Jahre später, war ich erneut Teilnehmer an einer Kanzleramtsparty, an der Seite von Angie. Ich sah noch einmal zu dem heraufziehenden Gewitter, und der Abend nahm seinen verhängnisvollen Lauf.

Tod im Kanzleramt

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