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Herunterkrachende Bäume

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Zusammen mit dem strengen Winter und dem späten Frühling hatte es schon dazu geführt, dass manche Kommentatoren der BILD, WELT, aber auch von SPIEGEL und der SÜDDEUTSCHEN den Scientologen, der allgemeinen Gottlosigkeit, dem terroristischen IS oder eben Putin und seinen Trollen die Schuld gaben.

Die wenigen kritischen Medien, die sich zu den merkwürdigen Wetterphänomen ihre Gedanken machten, brachten andere Überlegungen ins Spiel. Angeblich wurden in der Westukraine in viertausend Metern Tiefe die Basaltschichten mit Chemikalien unter hohem Druck aufgebrochen, um ein Gas zu gewinnen, das um das Dreifache ergiebiger sein sollte als das berüchtigte Schiefergas. Es hieß, amerikanische Unternehmen seien dort am Werk. Durch die Veränderung der Atmosphäre und wegen einer Unmenge anderer, angeblich wissenschaftlich bewiesener Faktoren, die überkreuzend sich gegenseitig verstärkten, habe dies nun mal Einfluss auf die hiesigen Wetterverhältnisse und so weiter. Ich habe mich allerdings gefragt, was diese fernen Ereignisse mit unserer meteorologischen Lage im Herzen Mitteleuropas zu tun haben sollen. Aber wie es eben mit komplizierten Fragen ist, man erhält meistens die Antwort zu spät. Viel zu spät.

„Das alles ist nicht weit weg“, sagte mir Ken Jebsen, als ich mit ihm, zirka drei Wochen vor der Party, an einem dieser überhitzten Tage einen Eiskaffee im Café Einstein trank, wo wir nicht unweit von Joschka Fischer saßen. „Nur zwei Flugstunden!“

Ken hatte über Neuigkeiten zum Abschuss der MH17 durch ukrainische BUK-Raketen berichtet, was nun endlich bewiesene Sache sei. Ich habe dies später selbst recherchiert, und sein Bericht bestätigte sich. Übrigens hatte ich Ken an jenem Nachmittag versprochen, ich würde dafür sorgen, dass er bei Angies Party antanzen könne. Wenn das klappt, so bat ich ihn, möge er sich aber nicht an mich klammern, weil es vorstellbar sei, dass alle versammelten Medienvertreter dies nur zu unserem Nachteil ausschlachten würden. Er und ich fanden meine Idee lustig. Und ich war später froh, dass ich ihn dann doch im Laufe des unheimlichen Geschehens an meiner Seite wusste.

Wir hielten Fischers Anwesenheit im EINSTEIN nur so lange aus, bis sich John Kornblum, der ehemalige US-Botschafter, zu ihm setzte; der Amerikaner ist ein ausgemachter, aber durchaus sehr heimlicher und intriganter Gegner des europäischen Einigungsprojektes. Als sie sich brüderlich umarmten, ließen wir den Rest unseres Eiskaffees stehen, zahlten und gingen. Man kann sich nicht alles antun, nur um seinen Eiskaffee zu Ende zu trinken.

Und natürlich gab es Leute, die behaupteten, die amerikanischen Ukraine-Projekte beschäftigten sich in Wahrheit mit der Quantenphysik, um den unauffälligsten Zugang zu anderen Dimensionen zu finden. Sobald man diese Dimensionen gefunden habe, wolle Washington die Russen mit einem Überraschungseffekt an-greifen.

Gegen zweiundzwanzig Uhr - ich schlenderte gerade am Dessertbuffet vorbei und suchte mit den Augen Ken, an den ich gerade gedacht hatte - kam die zweite Böe und wir hörten das Krachen der Bäume, die vom ersten Angriff schon angeschlagen waren. Nur fünf Minuten später kam die letzte Böe. Sie war schlimm. Der Wind heulte fast so laut wie beim ersten Mal, und die Blitze zuckten auf allen Seiten ums Kanzleramt. Noch mehr Bäume wurden geknickt. In der Nachbarschaft ertönte ein ohrenbetäubendes, blechernes Krachen. Selbst die Kanzlerin stieß einen leisen Schrei aus. Yousef war auf ihrem Schoß eingeschlafen.

„Angela, wir sollten lieber wieder nach unten gehen.“ Ich nahm Yousef auf den Arm und stand mit ihm auf. Mir schien, ihre Augen waren groß und verängstigt. Das war ich von meiner taffen Kanzlerin so nicht gewohnt. Jetzt fiel mir auf, dass er, der gebürtige Ehemann der Kanzlerin und Vater von Jousef, Joachim Sauer, wieder einmal fehlte. Wenn man ihn brauchte, war er stets unsichtbar.

Erneut ertönte die bestimmte, aber verbindliche Stimme von Maybrit Illner und ihre Aufforderung, in die Schutzräume zu gehen. Die Partygäste setzten sich wie eine lange Schlange, ähnlich einer Polonaise, in Bewegung nach unten. Man muss wissen, dass das Kanzleramt völlig untertunnelt ist. Es gibt das Untergeschoss, in dem Johann Lafer kochte und jetzt dank Stromausfall seine kalten Garnelen zubereitete. Hier gab es einen großen Saal, den man vorsorglich partygemäß eingerichtet hatte. Die Organisationsprofis der Regierung denken wirklich, oft im Gegensatz zu ihren politischen Auftraggebern, weit voraus, Krisen inbegriffen.

Und dann gibt es das zweite Untergeschoss und dann das verborgene dritte Untergeschoss, von dem aus Geheimgänge zum Innen- und Verteidigungsministerium führen. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, warum man das Gesundheitsministerium außeracht ließ. Einigen hätte es in jenen zwei entscheidenden Nächten als Hoffnungsschimmer weitergeholfen.

Zehn Minuten später hörten wir von oben lautes Klirren – die großen Panoramafenster, die zum Kanzlergarten weisen. Demnach war meine Vision von vorhin doch nicht so verrückt gewesen – Glassplitter, die sich in meine Liebste und in den mir anvertrauten Jungen bohren.

„Es wird hereinregnen“, sagte die Kanzlerin. „Der Regen wird das Mobiliar ruinieren.“

Wir haben ein sehr persönliches Verhältnis, muss ich sagen. Dass ihr gerade jetzt das Staatsmobiliar wichtig war, konnte sie nur mir anvertrauen. Bei jedem anderen wäre sie sich wahrscheinlich lächerlich vorgekommen.

„Dann ruiniert er es eben. Ist ja alles versichert. Das Kanzleramt hat doch eine Maschmeier‘sche Vorzugspolice“, sagte ich und lächelte mein klugscheißerisches Lächeln.

„Das macht die Sache auch nicht erträglicher“, sagte sie mit genervter Stimme. „Ist denn veranlasst, dass sich das Sicherheitspersonal darum kümmert?“

Ich nickte, weil ich sah, dass Altmaier mit einem der Typen bereits sprach und wild gestikulierend nach oben zeigte.

Der Sturm ließ jetzt nach, und es gab keine Anzeichen für eine neue Böe. Ich gab Gabriele, die uns wortlos gefolgt war, Yousef in die Arme. Er schlief immer noch.

„Leg dich ein wenig mit ihm hin; dort hinten im Nebenraum stehen Notliegen, und ruhe aus“, sagte ich zu ihr. „Ich muss mit der Kanzlerin hoch und nachsehen.“

„Ich kann jetzt nicht schlafen“, sagte sie. Aber wie ich später sah, war sie doch eingenickt. Ich ging mit Angie nach oben, und wir warfen einen Blick in den großen Empfangssalon, der uns bisher als Partysaal gedient hatte. Drei der großen Schiebetüren aus Glas hatten standgehalten. Aber wo das supergroße Panoramafenster gewesen war, gähnte jetzt ein ausgezacktes Loch, das teilweise mit Laub gefüllt war. Es war die Spitze des uralten Baumes, der neben dem Hintereingang gestanden hatte, schon zu Zeiten, als hier noch kein Kanzleramt stand. Man hatte um ihn herum gebaut.

Während ich die Baumspitze betrachtete, die jetzt dem Empfangssalon einen Besuch abstattete, verstand ich, was Frau Merkel gemeint haben könnte, als sie sagte, die Versicherung mache die Sache nicht erträglicher. Vielleicht hatte sie diesen Baum geliebt. Vielleicht hatte sie ihn schon zu DDR-Zeiten von jenseits des Grenzstreifens gesehen und bewundert. Vielleicht hatte sie schon früher davon geträumt, dass sie eines Tages darunter wilde Frühlings-, Sommer- und Herbst-Partys feiern würde. Wer weiß? Auch ich hätte heulen können, einfach, weil ich so alte Bäume mag und achte.

Die Kanzlerin sprach mit den beiden Männern vom Hausmeisterteam, die bereits herbeigerufen worden waren. Ich wollte mich jetzt mehr um die Gäste kümmern und ging zurück in das Untergeschoss.

Bevor ich den großen Party-Behelfsraum betrat, machte ich einen Abstecher zu Gabriele Krone-Schmalz und Yousef, die in einem lärmgesicherten Nebentrakt des gleichen Geschosses untergekommen waren. Sie schliefen beide auf einer Doppelliege, und dann überfiel auch mich eine plötzliche Müdigkeit. Ich legte mich auf Yousefs Seite, nur um einen Moment auszuspannen. Das Unwetter hatte meinen Adrenalinspiegel derart blitzartig in die Höhe getrieben, dass der jetzige Abfall sich in jener merkwürdig starken Müdigkeit bemerkbar machte.

Yousef schlief nun zwischen Gabriele und mir. Ein Kurztraum überfiel mich gleich nachdem ich eingeschlafen war. In diesem Traum sah ich Gott durch den Ostteil Berlins auf der anderen Seite der Joachim-Gauck-Allee gehen, einen Gott, der so riesig war, dass ER von der Taille aufwärts in einem klaren blauen Himmel verschwand. Im Traum hörte ich das Splittern und Krachen von Ampeln, Autos und Bäumen, die unter SEINEN Schritten wie Grashalme umknickten. ER umkreiste den Fernsehturm und kam auf das Kanzleramt zu; ER kam auf uns zu, und alle Ministerien, Einkaufscenter, Häuser und Hochhäuser gingen blitzartig in purpur-weißen Flammen auf, und bald verhüllte der Rauch alles. Der Rauch verhüllte alles – wie Nebel.

Tod im Kanzleramt

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