Читать книгу Die Legende von der Siebener Parabel - Stefan P Moreno - Страница 3
Ankunft in San Diagos
ОглавлениеEs war ein wunderschöner Sommerabend. Die Luft war lau und die leichte Brise sorgte in kurzen, regelmäßigen Abständen für eine erfrischende Abkühlung. Da sich die meisten Menschen immer noch im Schutze ihrer vier Wände aufhielten, sahen sie die männliche Gestalt nicht, die langsam die staubige und leer gefegte Straße entlang schritt und aufmerksam mit den Augen die Häuser taxierte, als würden sie nach etwas Ausschau halten. Aus der Ferne erklang von irgendwo her südländische Musik. Die Lippen des jungen Mannes verzogen sich zu einem Lächeln und schnitten leichte Grübchen in das von der Sonne gezeichnete Gesicht. Joaquin liebte Musik über alles und er konnte es sich nicht verkneifen, seine Schritte tänzelnd zur Musik zu bewegen. Seine hellblauen, klaren Augen nahmen einen strahlenden Glanz an und es schien, als würde neues Leben seinen müden Körper durchströmen. Endlich war er nach vierstündigem Fußmarsch an seinem Zielort San Diagos angekommen.
Die Hitze hatte ihm in den letzten Stunden ziemlich zugesetzt und freiwillig hätte er den langen Fußmarsch wohl niemals auf sich genommen, aber er hatte keine andere Wahl gehabt, als er am späten Nachmittag von der fünfzehn Kilometer entfernten Großstadt aufgebrochen war. Um 20 Uhr musste er sein Ziel erreicht haben. Der kleine Ort San Diagos lag eingebettet in einer staubigen Wald und Hügellandschaft. Heute war Sonntag und die öffentlichen Verkehrsanbindungen waren in dieser Gegend so gut wie eingestellt. Ein Taxi wäre noch eine Alternative gewesen, aber ausgerechnet heute streikten die Taxifahrer in Spanien, um auf ihre schlechte Bezahlung und die ständig steigenden Benzinpreise aufmerksam zu machen. Aber immerhin war die lange Zugfahrt von Deutschland nach Spanien ruhig verlaufen, die er die meiste Zeit in einem Schlafwagenabteil verbracht hatte. Der junge Mann schmunzelte.
„In Zeiten der Globalisierung sind die kurzen Strecken manchmal aufwendiger als die langen“, stöhnte er vor sich hin.
Die Zeit schien in dieser Gegend irgendwie stehen geblieben zu sein, scheinbar verschont vom immer schnelleren und rasant vorangetriebenen Fortschritt Europas. Nur wenige Menschen waren ihm auf der Straße begegnet. Was ihm eigentlich aber auch recht war. Es hätte mit der Kommunikation sowieso nicht geklappt, da er die Landessprache, das Spanische, nicht beherrschte.
Schweißperlen bedeckten das schmale, kantige Gesicht des jungen Mannes. Die blauen Augen und die fein geschnittene Nase gaben ihm etwas Jugendliches. Seine hellbraunen Haare glänzten feucht. Nur der leicht aufkommende Abendwind spendete ein wenig Abkühlung. Die Nachmittagshitze hatte ihre Spuren hinterlassen und rötlich glühten die Wangen in dem sonnenverbrannten Gesicht. Zum wiederholten Male strich sich Joaquin mit seinen zarten, schmalen Fingern die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn. Das weiße Baumwollhemd klebte an seinem schlanken, muskulösen Oberkörper, und das geöffnete Hemd ließ eine breite, leicht gerötete und wenig behaarte Brust erkennen. Gott sei Dank hatte er nur einen kleinen Rucksack zu tragen, an dem ein paar Lederstiefel baumelten. Quer über den Rucksack geworfen lag ein schwarzer Mantel - ebenfalls aus dünnem Leder. Um die Taille trug er eine Gürteltasche, an der eine Trinkflasche befestigt war und aus der er in den letzten Stunden reichlich getrunken hatte. Seine gut geschnittene, schwarze Baumwollhose war bedeckt vom Staub der Straße. Seine Füße schmerzten leicht, da er sich unterwegs der Strümpfe und Stiefel entledigt hatte und sich ständig kleine, sandige Kieselsteine in die nackten Fußsohlen bohrten. Aber bald würde er seinen Zielort erreicht und die Reisestrapazen ein Ende haben!
Das Haus, nach dem er suchte, sollte abseits der Straße in der Nähe einer kleinen Waldlichtung liegen, aus braunen Natursteinen erbaut und mit einem Strohdach versehen.
Der junge Mann blieb stehen, um eine der kleinen Pausen einzulegen, die er sich in regelmäßigen Abständen gönnte. Er nahm einen Schluck aus der Trinkflasche. Das Wasser war warm und schmeckte fade. Dann griff er mit der linken Hand in die Gürteltasche und zog eine Landkarte heraus, auf der sich einige Aufzeichnungen und Skizzen befanden. Er bewegte sich momentan auf der Hauptstraße von San Diagos, musste diese aber nun laut Karte verlassen, um links einem Waldpfade zu folgen. Nach weiteren achthundert Metern würde er zu seinem Zielort gelangen. Er steckte die Karte wieder ein.
„Auf zum Endspurt!“ sagte er aufmunternd zu sich selbst und setzte sich wieder in Bewegung, um die letzte Etappe zu meistern. Schon nach fünfzig Metern entdeckte er den Pfad zur linken Seite und bog von der Straße ab.
„Oft wird dieser Waldweg wohl nicht begangen“, murmelte Joaquin leise.
Hohes Gras und Gestrüpp pflasterten den schmalen Weg und seine Füße schmerzten wieder, da sich das ausgedörrte, trockene Gestrüpp wie spitze Nägel in seine nackten Fußsohlen bohrte. Gereizt schob er die von den Bäumen herab hängenden Zweige zur Seite, die sich ihm in den Weg stellten, sein von der Sonne strapaziertes Gesicht streiften und einen höllischen Schmerz auf den Wangen verursachten. Joaquin hatte während des langen Fußmarsches genügend Zeit gehabt, sein bisheriges Leben im Geiste Revue passieren zu lassen, und obwohl sein äußeres Erscheinungsbild es kaum vermuten ließ, hatte er schon Einiges im Leben durchstehen müssen. Vieles davon war rätselhaft gewesen und er trug einige Geheimnisse mit sich herum. Die letzten Monate in Deutschland waren eine Zeit des Stillstandes gewesen - privat wie beruflich. Nichts wollte ihm so recht gelingen! Was immer er in den letzten Monaten auch angepackt hatte, schien irgendwie auf Widerstand zu stoßen, nichts schien richtig vorangehen zu wollen und er hatte nicht herausfinden können, woran es gelegen hatte! Es hatte Augenblicke gegeben, in denen ihn das unbestimmte Gefühl übermannt hatte, eine höhere Macht würde seine Vorhaben durchkreuzen wollen! Irgendwann hatte sich Resignation bei ihm breit gemacht und er hatte mit dem Schicksal gehadert. Immer und immer wieder hatte er sich eingeredet, dass solche Phasen zum Leben dazu gehörten und dass man immer schön am Ball bleiben sollte, bis es endlich wieder aufwärts ging.
„Am Ball bleiben“, dachte Joaquin und schmunzelte spöttisch. „An welchem Ball bleiben?“ Hatte alles vielleicht mit seiner Vergangenheit zu tun? Er kämpfte sich weiter durch das trockene Gestrüpp.
Er war ein Waisenkind, aufgewachsen in einem katholischen Kinderheim bei Nonnen - und das seit seinem vierten Lebensjahr. Dazu ein zweijähriges Missverständnis in einer bürgerlich spießigen Pflegefamilie, in der man ihn behandelt hatte, als wäre er ein Verbrecher und Taugenichts. Im zarten Alter von dreizehn Jahren wurde er auf ein Internat geschickt, wobei ihm bis heute nicht klar war, wer das alles bezahlt hatte. Seine Eltern hatte er sehr früh verloren. Sein leiblicher Vater war kurz nach seiner Geburt gestorben. Über ihn wusste er so gut wie gar nichts. Unter welchen Umständen sein Vater gestorben war, hatte er nie erfahren! Seine Mutter hatte den Tod ihres Mannes nie überwunden, war daran zerbrochen und hatte ihn, Joaquin, dann einfach im Stich gelassen. Sie war aus heiterem Himmel einfach wie vom Erdboden verschwunden und niemand wollte oder konnte ihm damals sagen, wo sie geblieben war. So hatte man es ihm zumindest damals im katholischen Waisenstift erzählt und diese Version galt als offiziell. Eigene Nachforschungen, die er Jahre später anstellte, verliefen im Sande und es war, als ob es seine Mutter nie gegeben hätte.
Die persönlichen Erinnerungen an seine Mutter waren sehr verschwommen und viele gab es ohnehin nicht, außer, dass sie als junge Frau sehr hübsch gewesen war. Weitere Geschwister hatte er keine und so war er seit seinem achtzehnten Lebensjahr auf sich allein gestellt. Er hatte sich in der Großstadt mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, aber seine eigentlichen Interessen lagen auf dem Gebiet der Literatur, Musik und Poesie.
Die Großstadt hatte sich in den letzten Jahren durch die Globalisierung rapide verändert. Viele Kulturen und Nationalitäten mischten sich und gaben der Stadt eine nie gekannte Vielfalt und Fülle. Aber auch Konflikte und Integrationsprobleme nahmen immer mehr zu und brachten die Schattenseiten einer sich ständig und immer schneller wandelnden Welt zum Vorschein. Die breite Masse gab sich dem Konsumleben hin. Der Kapitalismus und das einseitige, materielle Leistungsdenken griffen immer mehr um sich. Die sozialen Konflikte in der Großstadt nahmen immer mehr zu und Joaquin glaubte, eine gefährliche Verrohung menschlicher Verhaltensweisen wahrzunehmen, die in ihm den Entschluss heranreifen ließ, der Großstadt den Rücken kehren zu wollen. Nur leider wusste er nicht so recht wohin und so kam der Brief vor vier Wochen völlig überraschend, aber nicht ungelegen. Überraschend war vor allem der Inhalt des Briefes und dieser war auch der eigentliche Grund, warum er sich gerade auf nackten Sohlen durch spanische Wälder schlug.
Joaquin blieb stehen, nahm einen Schluck aus seiner mit Mineralwasser gefüllten Trinkflasche, spülte sich den Mund und spuckte es sofort wieder aus. Das Wasser hatte mittlerweile seine ganze Kohlensäure verloren und schmeckte widerlich! Er steckte die Flasche wieder an seinen Gürtel und zog den Brief aus der Gürteltasche. Das Briefpapier sah ziemlich vergilbt aus. Das lag daran, dass er den Brief in den letzten Wochen über hundertmal gelesen hatte, immer und immer wieder! Er lehnte sich gegen einen Baum, wischte sich mit der Hand eine Schweißperle aus dem linken Auge, entfaltete den Brief und begann zu lesen:
Lieber Joaquin,
Sie werden sicher überrascht sein, heute von mir diesen Brief zu erhalten, zumal Sie mich nicht kennen! Dies soll sich aber schon in den nächsten vier Wochen ändern. Sie werden noch mehr überrascht sein, zu erfahren, dass ich Sie kenne, obwohl wir beide uns noch nie begegnet sind! Den Grund werden Sie zu einem späteren Zeitpunkt von mir erfahren! Der Höflichkeit halber möchte ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Sophie Faunette und ich bin gebürtige Französin. Ich kannte Ihre Mutter, Esmeralda, sehr gut und uns verband eine lebenslange und innige Freundschaft! Ihre Mutter ist vor sechs Wochen verstorben und sie bat mich kurz vor ihrem Tod, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Ihre Mutter war in den letzten Jahren ihres Lebens eine wohlhabende Frau und sie hat ein Testament hinterlassen, in dem Sie als Erbe berücksichtigt werden. Auch hat sie einen Brief hinterlegt, der nur an Sie gerichtet und streng vertraulich ist. Ihre Mutter bat mich kurz vor ihrem Tod darum, Ihnen diesen Brief persönlich zu überreichen. Auch wenn es für Sie vielleicht schwer zu verstehen ist, Joaquin, Ihre Mutter hat Sie sehr geliebt und sie hat ihr ganzes Leben unter der Trennung von Ihnen gelitten! Bitte haben Sie Verständnis, dass ich in diesem Brief nicht ausführlicher über all die Ursachen und Gründe der frühen Trennung von Ihrer Mutter berichten kann, aber Sie werden schon bald mehr erfahren! Aus diesem Grunde möchte ich Sie bitten, in vier Wochen und zwar am 14. Juli nach Spanien in den Ort San Diagos zu kommen! Joaquin, es ist wichtig, dass Sie genau am 14. Juli und zwar genau um 20 Uhr abends in San Diagos erscheinen. Auf keinen Fall früher oder später! Sobald wir beide aufeinander treffen, werde ich Ihnen die Gründe hierfür mitteilen. Leider ist ein Treffen an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt nicht möglich! Aus diesem Grund lade ich Sie nach Spanien ein. Reisen Sie mit dem Zug von Deutschland nach Spanien. Es werden Ihnen keine Unkosten entstehen. Bahntickets und eine Landkarte habe ich diesem Brief beigelegt.
Joaquin, es ist sehr wichtig, dass Sie mit niemandem über diesen Brief und Ihre bevorstehende Reise nach Spanien reden! Die Gründe dafür kann und darf ich Ihnen noch nicht mitteilen. Sie werden aber alles erfahren, sobald Sie in Spanien sind! Bitte vertrauen Sie mir! Auch sollten Sie wissen, dass ich bis zu Ihrer Ankunft in Spanien nur schriftlich, in Briefform, mit Ihnen kommunizieren werde und es für Sie keine Möglichkeit geben wird, bis zur Ihrer Ankunft in San Diagos mit mir Kontakt aufzunehmen!
Sie erhalten drei Tage vor ihrer Abreise einen letzten Brief von mir, in dem ein Scheck beigelegt ist, sowie letzte Anweisungen. Ich weiß, Joaquin, dass dieser Brief Ihnen rätselhaft erscheinen mag, aber bitte vertrauen Sie mir. Sie werden schon bald verstehen!
In tiefer Verbundenheit freue ich mich auf Sie!
Herzlichst, Sophie Faunette
Joaquin faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in die Gürteltasche. So kurz vor dem Ziel erfassten ihn eine große Müdigkeit und Unruhe. Was kam da nur auf ihn zu? Traurigkeit stieg plötzlich in ihm hoch und ein jäher Seelenschmerz jagte durch seine Brust, wie er es noch nie zuvor verspürt hatte. All der Verlust, die Einsamkeit, die Wut, die Verlassenheit und die nicht gelebte Liebe zu seiner Mutter in all den Jahren seiner Kindheit überfluteten ihn und schienen sein Inneres sprengen zu wollen. Der Schmerz übermannte ihn. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen und er sank auf die Knie.
„Mutter! Mutter!“ schluchzte er leise und Tränen schossen aus seinen Augen. „Warum nur, Mutter?“ wiederholte Joaquin leise und sein Körper bebte leicht. Er konnte sich nicht erklären, warum ihn so kurz vor seinem Ziel dieser heftige Seelenschmerz erfasste und ihm war, als würde plötzlich eine unsichtbare Kraft ein Magnetfeld um ihn herum aufbauen. Mit einem Mal beschlich ihn das seltsame Gefühl, seiner Mutter noch nie so nahe gewesen zu sein.
„Sie ist tot!“ sagte er bestimmt nach einer Weile zu sich selbst. „Du hast sie nicht gekannt, warum also trauern?“
Mit einem Ruck schwang sich Joaquin wieder auf die Beine. Er wischte sich die Tränen von den brennenden Wangen und setzte sich mit zitternden Beinen wieder in Bewegung. Er schämte sich seiner Tränen nicht, sie wirkten befreiend und langsam ließ auch der Seelenschmerz nach.
Nach zweihundert Metern erreichte er eine Waldlichtung. Erschöpfung machte sich breit, während seine etwas geschwollenen Augen suchend umher wanderten. Dann entdeckte er das an einem Baumstamm befestigte Holzschild. >Herzlich Willkommen< stand da in großen Buchstaben ins Holz graviert. Wie von unsichtbarer Hand bewegt schwangen die vor ihm stehenden, dicht bewachsenen Bäume auseinander und gaben den Blick auf ein großes, helles, aus Natursteinen gebautes Haus mit einem riesigen Strohdach frei. Joaquin schritt langsam auf das etwas wundersame Haus zu und mit jedem Schritt schien die Umgebung lichter zu werden. Das Haus stand inmitten eines mächtigen Kreises, der umrahmt war von Meter hohen Bäumen, die wie ein Schutzwall das Haus umzäunten. Unter seinen Füßen spürte er den weichen, seidigen Sand, der sich wohltuend wie Balsam an seine strapazierten Fußsohlen schmiegte.
Er näherte sich dem Hauseingang mit langsamen Schritten. Die Haustür war ein aus massivem Eichenholz hergestellter Rundbogen. Die Markisen an den Fenstern waren herunter gelassen und es machte den Anschein, als sei das Haus unbewohnt. Ein großer schwarzer Granit stand zur rechten Hausseite und er entdeckte einen Umschlag auf dem Stein liegend. Zur linken Seite befand sich ein uralter Brunnen aus dicken, grauen und schwarzen Steinen erbaut mit einer Pumpe. Joaquin konnte sich ein müdes Lächeln nicht verkneifen.
„Willkommen im Hexenhäuschen“, flüsterte er leise und schritt auf den Granit zu, auf dem der Umschlag lag. Er streifte seinen Rucksack von den Schultern, stellte ihn auf den Boden und warf seinen langen Ledermantel darüber. Dann nahm er den Umschlag, setzte sich auf den Stein, öffnete den Brief und begann zu lesen:
Lieber Joaquin,
Herzlich Willkommen in San Diagos. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise trotz des langen Fußmarsches, den ich Ihnen zugemutet habe. Sie finden in diesem Umschlag beiliegend den Haustürschlüssel. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Es befinden sich vier Zimmer im Erdgeschoss des Hauses. Außerdem eine große Wohnküche, zwei Bäder, ein Keller und in der oberen Etage eine Dachgeschoss Wohnung. Der Schlüssel für die Dachgeschoss Wohnung befindet sich in meinen Besitz, da es sich um meinen Wohnraum handelt.
Für Ihr leibliches Wohl habe ich reichlich gesorgt, bevor ich am Freitag aus geschäftlichen Gründen nach Frankreich abgereist bin, so dass es Ihnen während meiner Abwesenheit an nichts fehlen wird!
Auf dem Küchentresen finden Sie vier Schlüssel und jeder Schlüssel ist mit einem Anhänger und einem Buchstaben versehen. Ihrer ist mit einem „J “ gekennzeichnet und verschafft Ihnen Zutritt zu Ihrem eigenen Zimmer. Ihre Zimmertür habe ich ebenfalls mit einem „J “ versehen.
Joaquin, und nun passen Sie sehr genau auf, was ich Ihnen mitzuteilen habe!
Es werden heute Nacht - bis in die frühen Morgenstunden hinein - drei weitere Personen zu Ihnen stoßen. Ein Mann und zwei Frauen. Sie werden jeder für sich im Abstand von jeweils drei Stunden eintreffen. Um 23 Uhr, um 2 Uhr nachts und am frühen Morgen um 5 Uhr. Seien Sie unbesorgt, alle drei Ankömmlinge sprechen perfektes Deutsch, so dass es keine Probleme bei der Verständigung geben wird. Für alle drei Personen liegen ebenfalls Schlüssel mit einem Buchstabenanhänger versehen bereit! Ich weiß, dass ich Ihnen viel zumute nach den langen Reisestrapazen. Ich werde morgen gegen Mittag von meiner kurzen Geschäftsreise aus Paris zurückkehren! Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich bei Ihrer Ankunft nicht vor Ort sein konnte.
Noch etwas Wichtiges, Joaquin. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie die Wohnküche betreten, dass Sie eventuell von einer Stimme begrüßt werden. Ich habe meinen Papagei „Lord Leroy“ umständehalber zu Hause gelassen. Er ist ein lieber Zeitgenosse, aber eben ein richtiges Plappermaul und sehr sprachbegabt. Aber er ist zahm und stubenrein. Ich hoffe, Sie mögen Tiere! Machen Sie es sich im Haus bequem und ruhen Sie sich ein wenig aus! Bis Morgen!
Herzlichst, Ihre Sophie Faunette
Bevor ich es vergesse: Lord Leroy versorgt sich selbst!
Joaquin ließ seine Hände sinken und ein kühler Windhauch streifte sein Gesicht. Er schaute den Weg hinunter, den er eben noch gegangen war und sah, dass sich der Eingang zwischen den Bäumen wie durch Zauberhand geschlossen hatte. Die Waldlichtung war nicht mehr zu sehen. Er war müde und hatte das Gefühl, seine Gedanken würden sich weigern, all die aktuellen Geschehnisse verarbeiten zu wollen. Es kam ihm alles so verschleiert vor, so als würde er sich in einem Traum befinden, aus dem er bald erwachen würde. „Muss wohl an der Hitze liegen“, dachte er bei sich und schlenderte auf den Brunnen zu. Eine kleine Abkühlung täte jetzt gut.
Am Brunnen angekommen griff er nach dem Eimer, der an einem langen Seil befestigt auf dem Brunnenrand stand und ließ ihn in die Tiefe fallen. Zu pumpen hatte er in seinem momentanen Zustand keine Lust und wer wusste, ob die Pumpe überhaupt noch funktionierte. Er hörte das Klatschen des Eimers auf dem Wasser. Langsam zog er den Eimer am Seil nach oben und stellte ihn wieder auf den Brunnenrand. Der Eimer war halb gefüllt mit kristallklarem Wasser. Joaquin tauchte beide Hände in den Eimer und stöhnte vor Erleichterung auf: „Oh, das tat gut, welch eine Wohltat!“ Er zog sich das völlig durchnässte Hemd aus, nahm den Eimer und schüttete sich das ganze Wasser auf einmal über den Kopf. Er spürte, wie seine Lebensgeister ein wenig zurückkehrten. Er schüttelte kräftig die Haare wie ein begossener Pudel und klemmte sich das Hemd unter den Arm. „Dann wollen wir mal eintreten in die neue Herberge“, murmelte Joaquin, nahm den Umschlag und löste den mit Klebeband befestigten Haustürschlüssel aus der Innenseite des Briefes. Der Schlüssel ließ sich leicht im Schloss drehen und die Tür sprang mit einem leisen „Klick“ auf. Er trat ins Haus und ihn empfing völlige Dunkelheit. Er ließ die Haustür offen, um durch das einströmende Tageslicht etwas sehen zu können. Er befand sich auf einem quadratisch angelegten Flur, zu dessen linken und rechten Seite sich jeweils zwei Türen befanden. Geradeaus war eine Tür am Ende des Flures nur angelehnt. Ein leichter Lichtkegel quoll seitlich aus dem Türspalt heraus. Joaquin ging auf diesen Lichtkegel zu und zog die Tür auf. Er betrat den Raum und stand inmitten einer großen Wohnküche. Augenblicklich durchströmte ihn ein angenehmer, wohltuender Schauer, der sich am ganzen Körper ausbreitete. Die Wohnküche strahlte eine Behaglichkeit aus, wie Joaquin sie noch nie empfunden hatte.
Die Wände waren farblich in einem dunklen Orange gehalten. Überall an den Wänden hingen Töpfe und Pfannen verschiedenster Größen und Epochen. Uraltes Fachwerk durchzog die gesamte Küche. An der rechten Küchenwand befand sich ein großer Kamin aus hellbraunen Steinen und daneben - ordentlich übereinander gestapelt - das Brennmaterial aus zersägten Hölzern. Der Küchenboden war aus massivem Holz und in der Mitte der Küche stand ein großer Eichentisch, um den herum sechs antike, behagliche Holzstühle standen, die alle mit Schaffellen überzogen waren. An den Wänden hingen außerdem antike Kerzenleuchter, bestückt mit Honigwachskerzen. Rechts neben der Tür stand ein dunkelrotes Sofa und daneben ein Regal, gefüllt mit vielen Büchern. Die gegenüberliegende Seite bestand aus einer einzigen und riesengroßen Glasveranda, die zur linken und rechten Seite geöffnet werden konnte. Der Ausblick war gigantisch! Man schaute direkt in einen wunderschönen, weit angelegten Garten, in denen Blumen verschiedenster Gattungen und Farben in bunter Pracht leuchteten. Durch den direkten Blick in den Garten hatte man das Gefühl, als würde er ein Teil der Küche sein. Die linke Küchenhälfte war hinter einem orangefarbenen Vorhang verborgen.
Joaquin war neugierig, was sich wohl hinter dem Vorhang verbarg, und zog ihn zur Seite. „Willkommen im Club! Willkommen im Club!“ krächzte eine laute Stimme ihm entgegen. Joaquin sprang entsetzt einen Schritt zurück. Auf einem Käfig thronte ein farbenprächtiger Papagei, der ihn mit leicht geneigtem Kopf neugierig ansah und aufgeregt sein Gefieder sträubte.
„Willkommen im Club! Willkommen im Club! Willkommen im Club, Joaquin!“ kreischte Lord Leroy zum wiederholten Male und stieß ein fürchterlich hohles Gelächter aus. Im selben Moment breitete der Papagei die Flügel aus, hob vom Käfig ab, flog direkt auf Joaquin zu und landete auf dessen linker, nackter Schulter.
„Autsch!“ Joaquin zuckte zusammen und ließ vor lauter Schreck das unter den Arm geklemmte Hemd zu Boden fallen. Er spürte, wie sich die scharfen Krallen des Vogels in sein Fleisch bohrten. Als würde der Papagei Joaquin schon ewig kennen, knabberte er behutsam an dessen linken Ohrläppchen und stieß dabei ein paar wohlige Laute aus. Etwas irritiert von solch stürmischer Begrüßung hob Joaquin vorsichtig eine Hand und strich behutsam über das Gefieder des Vogels.
„Hallo“, flüsterte Joaquin etwas zaghaft, „nett, dich kennen zu lernen. Aber würdest du mir, bitte, mal verraten, woher du meinen Namen kennst? Und für die Zukunft, mein Freund, möchte ich dich doch höflichst darum bitten, etwas vorsichtiger mit deinen Sympathie Bekundungen zu sein, weil ich mir sonst nämlich Stahlkappen um die Schultern legen muss.“
Als Antwort bekam Joaquin ein schnurrendes Gurren zu hören, dem ein schriller, ohrenbetäubender Pfiff folgte, der sein Trommelfell dermaßen strapazierte, dass er dem Papagei einen leichten Klaps verabreichte, worauf dieser sich erschrocken von seiner Schulter löste und kurze Zeit später wieder auf dem Käfig landete.
„Böser Junge“, gurrte der Papagei beleidigt. „Böser Junge“, wiederholte er.
Joaquin musste unfreiwillig lachen, da er nicht wusste, ob der Papagei sich selbst oder ihn meinte. Verlegen zupfte Lord Leroy mit seinem Schnabel an seinem Gefieder, während Joaquin das feuchte Hemd vom Boden aufhob und es sich auf die stechende Schulter legte, um den Schmerz ein wenig zu lindern. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so viele Blessuren an einem Tag zugezogen zu haben.
Den ganzen Tag hatte er fast nichts gegessen, dass mochte wohl an der Hitze gelegen haben. Sein Blick fiel auf eine große, bunte Obstschale, die auf dem großen Eichentisch stand. Sie war mit den verschiedensten, südländischen Früchten gefüllt und Hunger stieg in ihm hoch. Als er sich der Schale näherte, bemerkte er, dass auch Lord Leroy sich scheinbar an den Früchten gelabt hatte, denn einige von ihnen wiesen eindeutige Spuren auf.
„Danke, dass du mir ein paar Früchte übrig gelassen hast“, sagte Joaquin lakonisch, während er eine schmackhaft aussehende Frucht aus der Schale nahm und herzhaft hinein biss. Die Frucht schmeckte ausgezeichnet, obwohl er nicht genau definieren konnte, um was für eine es sich dabei handelte, aber das war ihm auch egal. Er nahm sich noch zwei weitere Obststücke und ließ sie sich schmecken. Der Papagei beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, ohne einen Ton von sich zu geben.
„Ich werde mal meine Sachen rein holen“, sagte er zu Lord Leroy, „und mich anschließend ein wenig einrichten, wenn du nichts dagegen hast.“
Ein leises, dumpfes Gurren war die Antwort.
Joaquin ging nach draußen, um seinen Rucksack und den Ledermantel zu holen. Immer noch war er barfuß und der Steinboden auf dem Flur war ziemlich kalt, so dass er sich entschloss, die Sandalen aus dem Rucksack zu holen und anzuziehen. Zuerst streifte er sich aber ein frisches, blaues Baumwollhemd über, denn es war merklich kühler geworden. Während er damit beschäftigt war, die Sandalen anzuziehen, ertönte aus dem Haus ein lautes: „Hoch lebe Frankreich! Es lebe Frankreich hoch! Hoch lebe Frankreich! Es lebe Frankreich hoch!“ Gleich darauf folgte ein ohrenbetäubendes Gelächter und dann trat absolute Stille ein.
Joaquin überlegte kurz. Er mochte keine Nationalfeiertage und hatte sie daher nie beachtet. Heute war der 14 Juli, der Nationalfeiertag der Franzosen. Was hatte der Papagei damit zu tun? Woher wusste der Papagei, was für ein Tag heute war? Seine Besitzerin war Französin, also musste sie es dem Papageien irgendwie beigebracht haben. Aber kann man einem Papagei überhaupt beibringen, sich einen Nationalfeiertag zu merken? „Kluges Kerlchen, aber ein wenig rätselhaft war das alles schon!“ ging es Joaquin durch den Kopf, während er dieses Mal die Haustür hinter sich schloss, als er zurück zur Wohnküche schlenderte, Rucksack und Mantel unter den Arm geklemmt. Lord Leroy thronte immer noch auf seinem Käfig und knabberte emsig an seinen Krallen, als der junge Mann die Wohnküche betrat.
„Woher weißt du, dass heute der 14. Juli ist?“ fragte Joaquin und sah den Papagei aufmerksam an, während er seine Sachen auf dem roten Sofa abstellte. Doch der Papagei schien kein Interesse an einer gepflegten Konversation zu haben, widmete sich mit Hingabe weiterhin seinen Krallen und beobachtete Joaquin lediglich aus den Augenwinkeln.
„Also gut, dann eben nicht“, seufzte Joaquin. „Aber wenn wir Freunde werden wollen, rate ich dir, mir künftig auf meine Fragen zu antworten!“
Joaquin schaute durch das große Veranda Fenster und bemerkte, dass die Sonne langsam unterging. Er öffnete das Schiebefenster und schob es zur Seite. Kühler Abendwind wehte zu ihm herüber und staunend betrachtete er den wunderschönen Garten. Er fragte sich, wer diesen Garten so prächtig angelegt hatte und sich um die Pflege kümmerte. Es musste sehr aufwendig und arbeitsintensiv sein, einen so schönen Garten zu versorgen! Wem gehörte eigentlich dieses Grundstück mit dem darauf stehenden Haus? Sophie Faunette? Morgen würde er hoffentlich ein paar Antworten auf seine Fragen erhalten, bis dahin musste er sich eben noch gedulden.
„Es wird Zeit, dass ich mein Zimmer inspiziere“, sagte Joaquin laut in Richtung des Papageis. Seine Augen glitten durch den Raum auf der Suche nach dem Küchentresen, auf dem die Zimmerschlüssel liegen sollten. Er zog den orangefarbenen Vorhang noch weiter zur Seite. Lord Leroy gab ein paar undefinierbare Laute von sich, räusperte sich und pfiff wie eine Lokomotive. Joaquin musste unwillkürlich lachen, ging um den Käfig herum und entdeckte die fast versteckte Nische. Eine Kochstelle befand sich darin, daneben der besagte Küchentresen. Seine Augen fielen sofort auf die nebeneinander liegenden Schlüssel. Alle waren mit einem farblichen Buchstabenanhänger gekennzeichnet. An einem Schlüssel schimmerte das „J“ für Joaquin in einem dunklen Grün. Neben seinem Schlüssel lagen ein Anhänger mit einem blauen „H“, daneben ein Anhänger mit einem roten „M“ und zuletzt noch ein Anhänger mit einem gelben „K“. Er nahm sich seinen Schlüssel vom Tresen und ging zum Flur hinaus. Dunkelheit umgab ihn und er suchte nach dem Lichtschalter. Mit der linken Hand tastete er die Wand ab.
„Mensch, bin ich dämlich!“ schoss es ihm nach einer Weile durch den Kopf und er tippte sich an die Stirn. „Ich befinde mich hier mitten im Wald und wahrscheinlich gibt es gar keine Elektrizität in diesem Haus.“
Er kehrte zurück zur Wohnküche. Auf dem Kaminsims entdeckte er eine schöne, alte Öllampe und daneben mehrere Schachteln mit Zündhölzern. Es bereitet ihm keine Probleme, die Lampe zu entzünden, da sich noch genügend Öl darin befand. Bewaffnet mit der Lampe in der linken Hand ging er zurück zum Flur. Erst jetzt konnte er in ihrem Licht erkennen, dass kostbare Gemälde die Wände schmückten und eine wertvolle Standuhr am anderen Ende des Flures leise vor sich hin tickte. Jeweils zwei große, massive Holztruhen standen zwischen den Türen zu beiden Seiten. Er hielt die Öllampe noch ein bisschen höher. Das Licht warf Schatten und spiegelte sein Profil an den Wänden wieder.
„Joaquin, der Nachtwächter“, ulkte er mit verstellter Stimme. Dann entdeckte er zur rechten Seite ein kleines „J “ an einer Tür. „Wer sagt´s denn“, murmelte er, steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und trat ein.
Er blieb in der Mitte des Raumes stehen und schaute sich um. Die Öllampe behielt er in der Hand, ließ sie aber sinken, da noch genügend Tageslicht durch das Fenster strömte. Dennoch konnte er nicht umhin zu bemerken, dass es draußen langsam dunkel wurde. Das große Bett fiel ihm zuerst ins Auge.
„Da haben mindesten zwei Personen drin Platz“, stellte er zufrieden fest.
Die Wände waren Minzgrün gestrichen und Joaquin glaubte, frischen Farbgeruch wahrzunehmen. Ein Kleiderschrank, ein Regal mit Büchern, sowie die kleine Sitzecke waren geschmackvoll in verschiedenen Blau- und Grüntönen aufeinander abgestimmt. Sehr dezent und nicht aufdringlich. Der Fußboden war mit grauen Fliesen ausgelegt, auf denen drei Schaffelle im Raum verteilt lagen. Ein großes, rundes Fenster mit schwarzem Rahmen gab einen Blick auf den Wald frei. Eine weitere kleine Zwischentür am anderen Ende des Zimmers führte wohl in ein Bad. Er öffnete die Tür, steckte seinen Kopf durch den Spalt und runzelte die Stirn.
„Das glaube ich einfach nicht!“ stöhnte er, als er das in der Erde eingelassene Loch entdeckte, auf dem zwei größere Holzlatten lagen. „Ich dachte, Donnerbalken gehörten in Europa einer längst vergangenen Ära an und sind nur noch in irgendwelchen Museen gegen Eintrittsgeld zu bewundern!“ murmelte er etwas verstimmt und starrte mit wachsendem Unbehagen die beiden Holzkübel an, die nebeneinander auf zwei Stühlen standen und wohl der Körperreinigung dienen sollten. „Wir in Deutschland sind einfach zu verwöhnt. Ist doch alles Bestens!“ versuchte er sich einzureden. „Kein fließendes Wasser, keine Elektrizität, dann eben ganz einfach wieder zurück zur Mutter Natur!“ Joaquin seufzte ein wenig frustriert und schloss schnell die Tür hinter sich.
Er stellte die Öllampe auf dem Tisch ab, der zur Sitzecke gehörte und schmiss sich auf das Bett. „Das kann ja heiter werden“, schmunzelte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Immerhin war die Matratze nicht zu weich, darauf ließ es sich bequem liegen, stellte er einigermaßen zufrieden fest. Wie spät mochte es wohl sein? Er trug schon seit Jahren keine Uhr mehr. Auf jeden Fall würde es eine lange Nacht werden, da noch drei weitere Gäste eintreffen sollten. „Ob die auch den langen Fußmarsch zurück legen müssen?“ ging es ihm durch den Kopf.
Joaquin war bei der Ankunft zu erschöpft gewesen, um sich Gedanken über die anderen Gäste zu machen. Doch jetzt begann er, sich zu wundern. Wer waren die drei Personen und warum kamen sie alle mitten in der Nacht und das in Abständen von jeweils drei Stunden? - Alles sehr seltsam und rätselhaft! Zu Hause und während der Zugfahrt von Deutschland nach Spanien waren ihm immer wieder Zweifel gekommen. - Auf was ließ er sich da eigentlich ein? - Alle Briefe, die er in Deutschland erhalten hatte, waren ihm ohne Absender, ja sogar ohne Briefmarken zugestellt worden. Also waren sie nicht von der Post ausgetragen worden und dies bedeutete, dass ihm die Briefe von einer fremden, ihm nicht bekannten Person, in den Briefkasten gelegt worden waren. In den Briefen war auch kein Datum angegeben, so dass nicht nachzuvollziehen gewesen war, wann die Briefe geschrieben worden waren. Wer war diese Sophie Faunette? Jeder konnte von sich behaupten, die Freundin seiner Mutter gewesen zu sein! Welchen Beweis gab es dafür? Wollte ihm eventuell jemand übel mitspielen? Wäre im letzten Brief kurz vor der Abreise der Scheck in Höhe von 500, - Euro nicht gewesen, hätte er die Reise sicher nicht angetreten. Der Scheck war in gewisser Weise der einzige Vertrauenspunkt gewesen. Warum sollte man einem Fremden einen Scheck von 500,- Euro ausstellen? Seine Neugierde war größer gewesen als seine Zweifel und so hatte er sich entschlossen, die Einladung anzunehmen und nach Spanien zu reisen.
Joaquin kramte in seiner Gürteltasche und zog einen weiteren zerknitterten Brief heraus. Er setzte sich im Bett auf, entfaltete ihn und las:
Lieber Joaquin,
der Tag Ihrer Abreise rückt näher und ich freue mich, Sie bald in meinem Hause begrüßen zu dürfen. Leider bin ich aber bei Ihrer Ankunft in Spanien auf einer Geschäftsreise in Frankreich und werde erst einen Tag später bei Ihnen eintreffen! Bitte haben Sie Verständnis, aber ich konnte den Termin nicht mehr rückgängig machen. Sie werden also am ersten Tag Ihrer Ankunft in den ersten Stunden auf sich allein gestellt sein. Aber ich denke, das dürfte für Sie kein Problem sein. Alles ist so organisiert, dass Sie sich zurechtfinden werden.
Einen Punkt gibt es noch, auf den ich in diesem Brief noch eingehen möchte: Bereiten Sie sich auf einen längeren Aufenthalt in Spanien vor! Nehmen Sie bitte nur das Nötigste an Kleidung und persönlichen Gegenständen mit, denn es wird Ihnen in Spanien an Nichts fehlen und für alles Notwendige wird gesorgt werden. Ruhen Sie sich während der Zugfahrt unbedingt aus! Benutzen Sie auf jeden Fall das Liegeabteil, das ich für Sie gebucht habe. Die Einzelkabine wird Ihnen die bestmögliche Ruhe und Entspannung während der Reise bieten. Sie werden nach Ihrer Ankunft in Spanien einen anstrengenden Fußmarsch vor sich haben. Für Sonntag, den 14. Juli, ist ein Streik der Taxifahrer in ganz Spanien angekündigt und andere öffentliche Verkehrsbetriebe bedienen am Sonntag die Strecke nach San Diagos nicht. Außerdem ist eine Hitzewelle für diese Region zu erwarten, daher rate ich Ihnen, sich mit reichlich Wasser und Getränken zu versorgen und für einen ausreichenden Kopf- und Hautschutz zu sorgen, denn Spaniens Sonne kann grausam sein! Des Weiteren muss ich Sie darum bitten, Handy, Laptop und andere technischen Geräte auf keinen Fall mitzubringen. Die Gründe darf ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht nennen. Befolgen Sie aber unbedingt meinen Anweisungen! Sie erhalten weitere Nachrichten, sobald Sie in San Diagos angekommen sind. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise und freue mich schon sehr auf Sie!
Herzliche Grüße,
Sophie Faunette
P.S. Benutzen Sie in Spanien zur Orientierung die beigelegte Landkarte!
Den Scheck in Höhe von 500,- Euro können Sie bei Ihrer Bank einlösen. Es sind Ihre Reisespesen!
Joaquin faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in die Gürteltasche. Dann erhob er sich vom Bett, nahm die Öllampe und steuerte auf die Standuhr zu. Es war 21 Uhr 53 und in einer Stunde sollte der nächste Gast eintreffen. Er überlegte kurz, was noch zu tun sei und kam zu dem Schluss, dass >abwarten und Tee trinken< wohl die beste Wahl wäre. Er ging in die Wohnküche und sah, dass Lord Leroy seinen Kopf unter seinem Gefieder vergraben hatte und scheinbar schlief. Er nahm den Kessel, der auf der Kochstelle stand und füllte ihn mit Wasser, das in einem großen Plastikbehälter auf dem Küchentresen aufbewahrt wurde. Dann holte er etwas Holz aus der Kaminecke, nahm die Zündhölzer, öffnete die Klappe der Feuerstelle und machte sich daran, den Ofen in Gang zu bringen. Nach nur wenigen Minuten hatte er ein hübsches kleines Feuer entfacht. Die Zündhölzer verstaute er in seiner Hose. Draußen war es zwischenzeitlich so dunkel geworden, dass er mehrere Kerzen anzünden musste. Leichter Wind kam durch die offene Veranda Tür. Über dem Küchentresen befand sich ein Regal gefüllt mit Gewürzmischungen, Kräutern, Kaffee und Teepackungen. Er entschied sich für einen Früchtetee.
Joaquin pfiff leise vor sich hin. Er hatte das Gefühl, langsam in seiner neuen Umgebung anzukommen und genoss die behagliche Atmosphäre, die sich in der Wohnküche ausbreitete. Er nahm das kochende Wasser vom Ofen und goss es in die Kanne mit dem Früchtetee. Dann stellte er einen Stuhl vor die offene Veranda Tür, setzte sich auf ihn und schaute in den Nachthimmel. Die Luft war klar und angenehm kühl. Eine beruhigende Stille durchzog die Dunkelheit. Joaquin spürte den Brand in seinem Gesicht. Die Sonne hatte ihm wirklich arg zugesetzt. Müdigkeit erfasste ihn, die er schon eine ganze Weile gespürt hatte, obwohl er sich im Zug gut ausgeruht hatte. Der Fußmarsch war einfach zu anstrengend gewesen. Aber an Schlaf war jetzt nicht zu denken. Er ahnte, dass viel Neues und Unbekanntes auf ihn zukommen würde und er fühlte eine gewisse Spannung, die er nicht erklären konnte. Auch spürte er, dass es wohl die letzten Minuten waren, die er für unbestimmte Zeit ganz für sich alleine hatte! Er zog die Nachtluft mit einem kräftigen Atemzug ein. Dann entspannte sich sein Körper und sein Kopf fiel langsam nach vorne. Joaquin war eingeschlafen.