Читать книгу Die Legende von der Siebener Parabel - Stefan P Moreno - Страница 8

Federico

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Eine ganze Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. Miranda und Harlekin blickten auf Joaquin.Dieser saß wie erstarrt auf seinem Stuhl und schien immer noch nicht begriffen zu haben, was er soeben gehört hatte. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Aussage von Madame Faunette. Langsam fing er sich wieder.

„Meine Mutter war eine Hexe?“ fragte er heiser und hatte das Gefühl, neben sich zu stehen.

„Nein! Ihre Mutter war eine Tarot Kartenlegerin, Astrologin, und Wahrsagerin und keine Hexe! Das ist ein riesengroßer Unterschied. Sie war ein hoch entwickelter, spiritueller Mensch! Genau wie ich! Wir leben nicht mehr im Mittelalter, obwohl ich manchmal daran Zweifel hege, vor allem wenn ich mir den Bewusstseinszustand gewisser Zeitgenossen anschaue, besonders den der Katholischen Kirche! Aber, Joaquin, das ist ein Thema, das ich im Moment nicht weiter ausführen möchte. Ich kann Ihnen versichern, ihre Mutter war wirklich gut! Sehr gut sogar! Eine der Besten! Bitte haben Sie noch bis morgen Geduld, dann erfahren Sie mehr.“

Madame Faunettes Stimme hatte einen resoluten Ton angenommen und allen war klar, dass dieses Thema für heute beendet war.

„Das Frühstück war ausgezeichnet! Vielen Dank dafür! Ich möchte Sie heute Abend zu einem kleinen Begrüßungsfest einladen und habe mir gedacht, dass Grillen bei diesem Wetter wohl am angebrachtesten ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie gegen 19 Uhr auf der Veranda erscheinen würden! Ich habe bis dahin noch Einiges zu erledigen und zu organisieren und werde daher gleich nach oben in mein Arbeitszimmer gehen. Gegen Nachmittag erwarte ich Federico, ein Mitglied der Familie, er wird mir bei den Vorbereitungen behilflich sein! Ich vermute mal, dass Sie den heutigen Tag noch brauchen werden, um richtig hier anzukommen und sich gegenseitig kennen zu lernen. Im Übrigen wird es wieder sehr heiß werden.“

Madame Faunette erhob sich vom Stuhl, nahm ihr Reisegepäck, das noch an der Tür stand und lächelte freundlich in die Runde. „Falls Probleme auftauchen oder Sie irgendwelche Fragen haben, scheuen Sie sich nicht, zu mir herauf zu kommen. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

Dann verschwand sie über die Veranda nach rechts zur Wendeltreppe, die nach oben zu ihrer Wohnung führte.

„Eine beeindruckende Frau, unsere Gastgeberin!“ sagte Harlekin und verschränkte seine Hände hinter den Kopf.

„Eine sehr außergewöhnliche Frau!“ betonte Miranda, stand auf und begann damit, den Tisch abzuräumen. Harlekin sprang auf und ging Miranda zur Hand. Joaquin erhob sich ebenfalls.

„Entschuldigt mich bitte!“ sagte er zu Miranda und Harlekin gewandt. „Ich muss ein bisschen an die frische Luft!“ Schnellen Schrittes verließ er die Küche und kurze Zeit später hatte er das Haus verlassen.

Harlekin und Miranda sahen ihm nach.

„Joaquin sieht ziemlich mitgenommen aus!“ sagte Miranda sanft.

„Oh, ich denke, das ist auch kein Wunder.“ Harlekin räusperte sich. Er war ein wenig verlegen, da ihm bewusst wurde, dass er sich nun unverhofft und etwas überraschend allein mit Miranda in der Wohnküche befand. Nur Lord Leroy schielte verstohlen zu ihnen herüber. Harlekin lächelte und versuchte, seine kurze Verlegenheit locker zu überspielen.

„Joaquin wusste ja so gut wie gar nichts über seine Mutter und jetzt erfährt er als erstes, dass sie eine Kartenlegerin war. Ich glaube, ich wäre auch geschockt.“ Harlekin setzte sich lässig auf die Tischkante.

„Warum geschockt? Joaquins Mutter scheint zu Lebzeiten über außerordentliche Begabungen und seltene Fähigkeiten verfügt zu haben. Vielleicht hat sie mit ihren Talenten vielen Menschen helfen können“, entgegnete Miranda. „Ich habe auch mal eine Kartenlegerin aufgesucht, die hat mir wirklich interessante Dinge erzählt und mir damit weiter geholfen.“

„Ähm, ach ja ?“ Harlekin schaute Miranda etwas amüsiert und leicht skeptisch an. „Ob der Beruf von Madame Faunette der Grund ist, warum wir hierher eingeladen worden sind? Will sie uns vielleicht die Karten legen oder uns etwas voraussagen?“ Harlekin sah Miranda aufmerksam an.

„Das werden wir wohl erst in den nächsten Tagen erfahren“. Sie erwiderte Harlekins Blick.

„Vielleicht sollte einer von uns Joaquin nachgehen, vielleicht möchte er reden.“

„Der kommt schon, wenn er reden will. Ich denke, er möchte jetzt ein bisschen allein sein. Von woher stammst du eigentlich?“ In Harlekins Stimme lag echtes Interesse.

„Geboren bin ich in Schweden. Ich habe aber nur bis zu meinem sechsten Lebensjahr dort gelebt. Meine Jugend habe ich in England in einem Internat verbracht und du?“

„Ich komme aus den Niederlanden und bin dort auch geboren und groß geworden. Ich habe aber auch drei Jahre in der Ukraine gelebt und dort eine Artisten Ausbildung absolviert.“ Harlekin grinste und warf Miranda einen neckischen Blick zu.

„Ich bin davon überzeugt, dass du ein großartiger Artist bist!“

Harlekins Gesichtsfarbe veränderte sich leicht. Miranda musste plötzlich lachen und es war ein so bezauberndes Lachen, dass Harlekin glaubte, dahin schmelzen zu müssen. Leider wurde dieses bezaubernde Lachen durch Lord Leroys ohrenbetäubendes Gekreische unterbrochen und im selben Moment flog die Haustür auf und ein großer, kräftiger, schwarzhaariger Spanier in den Fünfzigern stand in der Tür. Miranda stieß einen freudigen Schrei aus und stürzte sofort auf den Mann zu, der so breit grinste, dass eine Reihe von Zahnlücken sichtbar wurde. Auffallend waren auch seine riesigen Hände und mächtigen Arme, mit denen er nun versuchte, Miranda zu umarmen, was aber völlig daneben ging. Aus seinem Mund kam ein Schwall von unverständlichen Lauten. Harlekin starrte die beiden überrascht an.

„Harlekin, darf ich dir Federico vorstellen?“ rief Miranda fröhlich. „Er hat mich gestern Nacht mit einem Pferdewagen vom Bahnhof abgeholt und mich hierher gefahren. Madame Faunette hatte das so arrangiert. Leider kann Federico nicht sprechen und nicht hören, er ist taubstumm. Aber er kann vom Mund ablesen, was man zu ihm sagt und er verständigt sich dann mit Gesten und Lauten.“

Federico schien sich sehr zu freuen, Miranda zu sehen, denn das Grinsen wollte gar nicht mehr aus seinem Gesicht weichen. Er streckte Harlekin seine riesengroßen Hände entgegen und schüttelte ihm kräftig die Seinigen.

„Ahlohaah!“ kam es unverständlich von Federico und er musterte Harlekin mit seinen großen, schwarzen Knopfaugen aufmerksam, aber freundlich. Plötzlich schlug sich Federico mit seinen riesigen Händen auf die Oberschenkel und begann dröhnend laut zu lachen. Mit dem Zeigefinger deutete er auf Harlekins Narrenkostüm.

„Oan Cown!“ stieß er brüllend aus.

„Du meinst, Harlekin sieht aus wie ein Clown, nicht wahr, Federico? Er trägt dieses Narrenkostüm immer. Er ist nämlich ein Zirkusartist!“

Federico nickte heftig und klatschte begeistert in die Hände. Miranda und Harlekin lachten nun ebenfalls und der Bann zwischen den beiden Männern war sofort gebrochen. Im gleichen Augenblick tauchte ein großer, zottiger, braunhaariger Hund an der Seite Federicos auf. Schwanz wedelnd sprang er an Miranda hoch und versuchte, ihr das Gesicht zu lecken. Dabei winselte er leise, aber erfreut.

„Und das ist Barneby, Federicos Hund“, erklärte Miranda. Barneby schnüffelte interessiert an Harlekins Hosenbeinen. Der wiederum kraulte dem Vierbeiner dessen kräftigen Nacken und schnell hatten sich die beiden miteinander angefreundet.

„Tiere spüren sofort, wer ein guter Mensch ist“, sagte Miranda etwas verträumt zu Harlekin.

„Ich weiß, Miranda! Ich weiß! Ich habe im Zirkus gearbeitet. Mal schauen, ob ich ihm ein paar Kunststücke beibringen kann“, lachte Harlekin.

„Federico, wenn du Madame Faunette suchst, sie ist in ihrer Wohnung oben und erwartet dich!“

Miranda schaute Federico an und ihre Lippen bewegten sich wesentlich deutlicher als gewöhnlich. Federico nickte und gab wieder ein paar nicht verständliche Laute von sich. Er hob die Hand zum Gruß und machte sich auf den Weg zu Madame Faunette. Barneby blieb bei Miranda und Harlekin.

„Ob die Frau noch frühstücken will, wenn sie aufgestanden ist?“ fragte Miranda, nachdem sie das Geschirr abgewaschen hatte und Harlekin ihr beim Abtrocknen half.

„Du meinst Major Kamikaze? Lass doch einfach etwas Essen auf dem Tisch stehen“, riet ihr Harlekin. „Wenn sie Hunger hat, wird sie sich schon bedienen. Ich glaube, ich werde auch mal ein wenig Spazieren gehen und die Gegend erkunden. Wir sehen uns dann später!“

Harlekin holte seinen Rucksack und machte sich dann auf den Weg. Eigentlich wäre er gerne bei Miranda geblieben, aber er wollte es sich nicht anmerken lassen, welch eine Faszination sie auf ihn ausübte und frische Luft hatte ja noch niemandem geschadet.

Nachdem Joaquin das Grundstück verlassen hatte, nahm er den direkten Weg in den Wald. Seine Gedanken fuhren Achterbahn und er war innerlich ziemlich aufgewühlt. Warum hatte Madame Faunette ihn so direkt mit seiner Mutter konfrontiert? Seine Mutter war also eine Kartenlegerin und Astrologin gewesen, dann musste sie über besondere Fähigkeiten verfügt haben. Hatte er irgendetwas von ihr vererbt bekommen? Erklärte das seine oft sensitiven und intuitiven Wahrnehmungen und Tagträumereien, die er schon seit seiner Kindheit besaß und weshalb er oft mit Schwierigkeiten in seiner Umwelt zu kämpfen gehabt hatte, da er sich immer als andersartig erlebt hatte? War der Beruf seiner Mutter auch der Grund gewesen, warum die Nonnen im katholischen Kinderheim nie mit ihm über sie gesprochen hatten? Joaquin beschleunigte seine Schritte, hatte aber keinen Blick übrig für die wunderbare Waldlandschaft, zu sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt. Was würde er in den nächsten Tagen noch alles über seine Mutter erfahren? Eine gewöhnliche Frau war sie nicht gewesen, aber warum hatte sie ihn damals ins Kinderheim gegeben? War der Grund dafür wirklich nur der Tod seines Vaters gewesen oder gab es da noch etwas anderes? Ihm kamen Zweifel, ob er wirklich alles über seine Mutter erfahren wollte. In letzter Zeit, hatte er sich immer wieder gefragt, wie es ihr wohl in all den Jahren ergangen war und wohin sie das Schicksal verschlagen hatte. Madame Faunette übte den gleichen Beruf wie seine Mutter aus und sie waren befreundet gewesen. Wo aber hatte seine Mutter in den letzten Jahren gelebt?

„Ja, ich will alles über sie erfahren“, sagte er zu sich selbst. „Ich möchte wissen, wer sie war und wie sie gelebt hat! Vielleicht hilft es mir, mein Leben besser zu verstehen.“

Madame Faunette war ihm eigentlich sehr sympathisch. Sie strahlte eine außergewöhnliche Aura aus. Auch glaubte er, wahrgenommen zu haben, dass zwischen ihnen eine ganz besondere Verbindung bestand, die er sich aber noch nicht erklären konnte. Der Waldweg machte eine Biegung und vor ihm breitete sich ein großer See aus. Er setzte sich an das Ufer und starrte auf das Wasser. Es war schon nach Mittag und die Sonne brannte wieder unerbittlich, aber die Bäume spendeten an einigen Stellen genug Schatten. Eine bunte Schar von Vögeln zwitschert eifrig durcheinander und flog über dem Wasser hin und her. Alles war hier so idyllisch und friedlich, dass sein Gemüt sich langsam wieder beruhigte. Eine fast meditative Stille umgab ihn. Er streckte seine Beine aus, legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte in den Himmel.

Nachdem Harlekin gegangen war, setzte sich Miranda wieder an den Tisch. Sie hatte gestern eine lange Reise hinter sich gebracht und freute sich, dass Federico gekommen war. Als sie gestern in Spanien angekommen war, wusste sie schon, dass Federico taubstumm war, denn Madame Faunette hatte ihr das in ihrem letzten Brief mitgeteilt. Federico hatte mit seinem Hund, Barneby, und einem Pferdewagen vor dem Bahnhof gestanden und sie bei ihrer Ankunft so herzlich angelächelt, dass ihre anfänglichen Bedenken sofort verschwunden waren. Mit dem Pferdewagen dauerte die Fahrt knapp zwei Stunden bis San Diagos.Wegen der Dunkelheit gestaltete sich die Kommunikation zwischen ihnen schwierig, da Federico die Sätze nicht von ihrem Mund ablesen konnte. Dafür war Barneby umso anhänglicher gewesen. Er saß die ganze Zeit zwischen ihren Beinen und war nicht eine Sekunde von ihr gewichen. An der Waldlichtung hatte Federico sie dann abgesetzt und ihr mit großen Gesten die Richtung zum Grundstück gewiesen. Barneby hatte sie bis zur Haustür begleitet und dann sofort kehrt gemacht. Als sie vor Wochen den Brief mit der Einladung von Madame Faunette erhalten hatte, war sie sehr überrascht gewesen. Es stand in dem Brief nur darin, dass sie wegen einer dringenden Angelegenheit nach Spanien kommen möge. Spesengeld und Reisetickets waren dem Brief beigelegt gewesen.

Sie hatte vor kurzem in Schweden ihr Studium in Deutsch, Englisch und Spanisch, sowie den Kulturwissenschaften abgeschlossen, aber ihre Bewerbungen als Lehrerin an Privatschulen blieben aus nicht erklärbaren Gründen erfolglos. Also nahm sie die Einladung gerne an. Sie wollte immer schon mal nach Spanien, da sie sich für die unterschiedlichsten Kulturen interessierte.

Plötzlich stieß Lord Leroy einen Schrei aus und flog direkt auf Barneby zu, der sich vor die offene Verandatür gelegt hatte. Der Papagei landete auf dem Kopf des Vierbeiners. Der ließ es einfach geschehen. Miranda musste lachen, da es einfach zu komisch aussah. Barneby schaute sie mit seinen braunen, treuen Augen an und gab ein tiefes Seufzen von sich. In diesem Moment hörte sie die Stimme von Madame Faunette, die - gefolgt von Federico - die Wendeltreppe herunterkam.

„Wir müssen noch einige Vorbereitungen treffen für heute Abend, Federico. Es muss noch das Fleisch vom Bauern geholt werden, das ich vorbestellt habe, und ich wäre dir dankbar, wenn du den Grill aufstellen würdest. Ach, schau' dir Barneby und Leroy an, die beiden sind unzertrennlich. Wahre Liebe eben!“Ah, da ist ja Miranda. Ich freue mich ja so sehr, dass Sie hier sind. Federico hat mir gerade anvertraut, dass er ganz begeistert von Ihnen ist. Also passen Sie gut auf sich auf, denn er kann ein richtiger Charmeur sein und in jungen Jahren war er ein richtiger Weiberheld!“

Federico grinste breit, so dass seine Zahnlücken sichtbar wurden, denn er hatte alles von Sophies Lippen abgelesen.

„Federico würde sich sicherlich freuen, wenn Sie ihn zum Bauern begleiten würden, um das Fleisch zu holen. Es sei denn, Sie haben schon etwas anderes vor. Sie könnten bei dieser Gelegenheit gleich San Diagos etwas kennen lernen.“

Miranda strahlte und sprang vom Stuhl auf:

„Oh ja, das ist wirklich eine tolle Idee, Madame Faunette!“

„Sophie, mein Kind, nennen Sie mich Sophie! Ihr könnt dann noch frisches Obst vom Markt mitbringen. Ich habe Federico Geld gegeben. Wenn ihr gegen 18 Uhr wieder hier seid, passt das schon. Nehmt aber Barneby mit, sonst strolcht er hier so alleine herum!“

Miranda ging zu Federico und hakte sich bei ihm unter.

„Komm, Federico, lass uns shoppen gehen“, sagte sie sanft zu ihm. Federico grinste über sein ganzes Gesicht und ließ sich von Miranda zur Eingangstür ziehen.

„Komm, Barneby, wir gehen Gassi!“

Der Hund schüttelte Lord Leroy ab und folgte den beiden. Lord Leroy kreischte beleidigt hinter ihm her.

„Viel Spaß, ihr zwei!“Madame Sophie winkte ihnen nach.

Harlekin hatte den gleichen Weg eingeschlagen, den Joaquin zuvor gegangen war. Er war bestens gelaunt und freute sich auf die nächsten Tage. Es war einfach fantastisch, so eine Frau wie Miranda kennen zu lernen und auch mit Joaquin kam er bestens klar. Das war schon eine kunterbunte Truppe, die da zusammen gekommen war, ganz nach seinem Geschmack. Nur Major Kamikaze bereitete ihm Kopfzerbrechen. Er war der einzige, der bisher mit ihr Kontakt gehabt hatte und spätestens heute Abend würden wohl auch die anderen Bekanntschaft mit ihr schließen. Warum nur hatte Madame Faunette sie eingeladen? Er kam an die Waldbiegung und sah Joaquin im Gras liegen. Es hatte den Anschein, als ob er schlief. Langsam ging er auf ihn zu.

„Hey, Joaquin, schläfst du?“ fragte er leise.

Joaquin drehte sich zu Harlekin um. „Nein, ich schlafe nicht. Ich denke nur nach, aber du störst mich nicht.“

Harlekin setzte sich neben ihn.

„Hat dich wohl ein bisschen umgehauen, was du über deine Mutter erfahren hast. Ich meine, ich kenne dich ja noch nicht so richtig und ich weiß nicht, was der Grund ist, warum du nicht bei deiner Mutter groß geworden bist, aber wenn du über irgendwas reden möchtest, stehe ich dir gerne zur Verfügung. Manchmal tut es ganz einfach gut, sich etwas von der Seele zu reden und es ist bei mir gut aufgehoben, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Danke, Harlekin, das ist eine feine Geste von dir. Weißt du, wir sind gestern erst hier angekommen und dennoch ist schon so viel passiert. Ich werde hier in Spanien mit meiner Vergangenheit konfrontiert. Ich wusste bis heute so gut wie gar nichts über meine Mutter und werde ihr auch nie mehr begegnen. Es ist schwierig, denn eigentlich ist sie für mich ein fremder Mensch und andererseits dennoch meine Mutter. Meine Gefühle fahren seit gestern Achterbahn. Ich werde eine Erbschaft erhalten von einer Person, die ich mein Leben lang missen musste und wer weiß, was ich noch alles erfahren werde. In der Fantasie habe ich mir immer ein Bild von meiner Mutter gemacht und ich habe Angst, dass ich ein falsches Bild von ihr hatte!“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Harlekin, „ich hätte damit auch Probleme. Aber vielleicht solltest du versuchen, es positiv zu sehen. Du hast jetzt die Möglichkeit, endlich die Wahrheit über deine Mutter zu erfahren und den Grund dafür, warum du weggegeben worden bist! Die Vergangenheit kannst du nicht mehr ändern, aber vielleicht hilft sie dir für die Zukunft.“

Beide schauten auf das Wasser und schwiegen einen Moment.

„Es gibt noch etwas, das mich beschäftigt, Harlekin. Ich glaube nicht, dass wir alle zufällig hier zusammen gekommen sind. Meine Intuition sagt mir, dass es irgendeinen Grund gibt, der uns alle gemeinsam betrifft. Warum sind wir alle in Abständen von drei Stunden angereist? Was möchte Madame Faunette von uns? Will sie uns die Karten legen, uns etwas voraussagen? Wir sind alle vier nicht ganz durchschnittliche Menschen.“

„Bis auf Major Kamikaze“, widersprach Harlekin. „Die passt einfach überhaupt nicht hierher. Du wirst sie ja bald kennen lernen, Joaquin. Sie ist eine Kampfmaschine!“

„Also langsam bin ich wirklich gespannt auf sie. Gehört ihr das Motorrad, das am Eingangstor steht?“

„Ja, mit dem Ding ist sie heute Morgen angereist. Macht einen Höllenlärm die Maschine. Wollen wir langsam zurückgehen? Wollte heute noch ein bisschen auf meinem Seil üben.“

„Du hast dein Seil mitgebracht?“

„Aber ja doch, muss mich doch fit halten. Die Konkurrenz schläft nicht.“

„Darf man dir beim Training zuschauen?“

„Klar doch, kannst mir sogar helfen, das Seil zu spannen.“

„ Also dann los.“ Joaquin stand auf. „Und Harlekin..., vielen Dank für dein offenes Ohr!“

„Keine Ursache!“ Harlekin stand ebenfalls auf. Zusammen gingen sie den Waldweg zurück zum Haus.


Als die beiden Männer die Wohnküche betraten, bereitete Madame Faunette gerade Salate zu.

„Hallo, ihr zwei!“ begrüßte sie die Ankömmlinge. „Es sieht so aus, als ob ihr euch schon ein wenig angefreundet habt. Das ist gut! Sehr gut sogar! Ich habe Miranda und Federico zum Einkaufen geschickt und wo seid ihr beiden gewesen?“

„Wir waren am See“, antwortete Harlekin schnell, „und haben ein bisschen die Gegend erkundet. Übrigens bin ich gestern bei meiner Ankunft mit meinem Ballon in ihren Bäumen gelandet und musste ein paar Zweige absägen, um den Ballon aus den Bäumen zu befreien. Es war schon dunkel, als ich gelandet bin und ich konnte daher nicht genug sehen. Es tut mir Leid!“

Madame Faunette reagierte gelassen. „Nun, solange Sie nicht den ganzen Baum zerlegt haben, geht das schon in Ordnung. Ich hatte mir schon fast gedacht, dass Sie außergewöhnlich anreisen werden!“

Joaquin und Harlekin schauten Madame Faunette überrascht an. Sie ging aber nicht weiter auf das Thema ein.

„Ich würde ganz gerne mein Seil draußen installieren, um zu trainieren. Dafür müsste ich das Seil zwischen zwei Bäume spannen. Hätten Sie etwas dagegen?“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, fühlen Sie sich hier wie zu Hause.“

„Danke, aber falls wir Ihnen bei der Vorbereitung behilflich sein können, lassen Sie es uns wissen!“

„Nein, nein, geht ruhig ein bisschen nach draußen. Ihr wisst ja, zu viele Köche verderben den Brei! Ich hoffe nur, dass unser noch schlafender Gast bald aufsteht. Major Kamikaze musste die längste Strecke von Russland nach Spanien zurücklegen und das mit einem Motorrad!“ In Madame Faunettes Stimme klang Bewunderung mit.

„Warum haben Sie den Major eingeladen?“ fragte Harlekin und versuchte, gleichgültig zu klingen.

„Weil ich den Major brauche!“ war die knappe Antwort.

„Und warum haben Sie uns alle in Abständen von jeweils drei Stunden anreisen lassen?“ hakte Joaquin vorsichtig nach. „Das muss doch einen Grund gehabt haben!“

Madame Faunette schaute Joaquin an. „Ja, das hatte einen Grund und Sie werden den auch bald erfahren, aber heute nicht! Der heutige Tag soll einzig und allein dazu dienen, sich von den Reisestrapazen zu erholen und sich gegenseitig ein wenig kennenzulernen.“

Sie lächelte Joaquin freundlich, aber bestimmt an. „Der Salat, den ich gerade anrichte, kommt aus unserem Garten. Federico hat das Gemüse angepflanzt. Er ist ein Meister auf dem Gebiet der Gartenarbeit.“

Joaquin war klar, dass Madame Faunette bewusst das Thema wechselte.

„Komm Joaquin, wenn ich noch etwas trainieren will, müssen wir uns beeilen, denn bis zum Grillabend ist nicht mehr viel Zeit“, lenkte Harlekin ein. „Das Seil liegt noch im Korb des Ballons. Ich werde es schnell holen.“

„Trainieren! Trainieren!“ plapperte Lord Leroy drauf los und erntete dafür schallendes Gelächter.

Kurze Zeit später hatten die beiden Männer das Seil gespannt und Harlekin vollführte wahre Kunststücke darauf. In einer Höhe von zwei Metern balancierte und tanzte er mit einer Leichtigkeit auf dem Seil herum, dass es eine Augenweide war, ihm zuzuschauen. Joaquin war begeistert. Harlekin war wirklich ein Ausnahmeartist. Nachdem er mit seinen Bällen auf dem Seil jongliert hatte, beendete er seine Übung mit einem Spagat.

„Sag mal, ziehst du eigentlich auch mal dein Narrenkostüm aus oder läufst du immer darin herum?“ Joaquin blinzelte Harlekin amüsiert zu.

„Ich habe noch ein zweites Kostüm dabei, zum Wechseln. Gelegentlich trage ich aber auch andere Klamotten, zum Beispiel, wenn ich in die Stadt gehe. Muss ja nicht ständig auffallen wollen oder? Aber am wohlsten fühle ich mich tatsächlich im Kostüm.“ Harlekin grinste breit. „Willst du auch mal auf das Seil?“

„Was, ohne Netz? Nein, danke! Benutzt du denn nie ein Netz?“ Joaquin blickte abschätzend zu Harlekin hinüber, der im Begriff war, das Seil wieder abzumontieren.

„Nein, nie! antwortete Harlekin. „Das machen ja meine Nummern aus, dass ich frei auf dem Seil schwebe. Das wollen die Leute sehen. Normalerweise balanciere ich ab einer Höhe von zehn Metern auf dem Seil. Sogar mit dem Motorrad bin ich schon mehrmals über das Seil geflitzt. Diese Nummer kam immer gut beim Publikum an“.

„Hast du denn nie Angst, herunter zu fallen?“

„Du darfst eben einfach keine Angst haben! Die Sicherheit bekommt man über das Training. Für mich ist es wie Fahrrad fahren. Wenn du das einmal gelernt hast, musst du dennoch immer hoch konzentriert im Straßenverkehr fahren, damit nichts passiert. Oder hast du etwa Angst, auf ein Rad zu steigen?“

In diesem Augenblick kamen Miranda und Federico vom Einkaufen zurück - beladen mit mehreren Taschen und Barneby im Schlepptau.

„Ihr müsst euch unbedingt in den nächsten Tagen San Diagos anschauen. Es ist ein richtig schöner Ort und der Markt ist einfach grandios.“ Miranda strahlte über das ganze Gesicht. „Joaquin, das ist Federico, ihr kennt euch ja noch nicht.“

„Hallo, Federico! Freut mich sehr, dich kennenzulernen.“

Federico stieß ein paar unverständliche Laute und sein Blick haftete auf Joaquin. Es war merkwürdig. Joaquin hatte das Gefühl in Federicos Augen lesen können, so als würden sie zu ihm sprechen: „Ich habe deine Mutter gut gekannt. Sie war eine gute Frau. Ich kenne deine Geschichte.“

Joaquin versuchte, sich von dem Blick loszureißen.

„Federico ist taubstumm. Er kann aber alles, was du zu ihm sagst, von deinen Lippen ablesen.“

Federico nickte Joaquin lächelnd zu und marschierte dann mit kräftigen Schritten ins Haus. Harlekin nahm Miranda die Taschen ab.

„Habt ihr alles bekommen?“ begrüßte Madame Sophie Miranda, als sie die Küche betrat. Miranda nickte ihr zu. Lord Leroy stürzte sich sofort auf die offene Einkaufstasche, in der das Obst lag.

„Verschwinde von der Tasche, Leroy!“ rief Madame Sophie streng und der Vogel flatterte beleidigt hinaus in den Garten.

„Ja, wir haben alles bekommen, Sophie. Die Zeit verging beim Einkaufen wie im Flug und ich wäre so gerne noch auf dem Markt geblieben. Es gab so viel Interessantes und Buntes zu sehen.“ Mirandas Augen glänzten. „Am Donnerstag ist wieder Markttag, dann werde ich auf jeden Fall wieder dort hingehen. Ihr solltet unbedingt mitkommen“, sagte sie zu Joaquin und Harlekin gewandt. „Ich bin mir sicher, dass der Markt auch euch gefallen wird.“

„Man kann auf dem Markt außer frischen Lebensmitteln auch preisgünstig hochwertige Kleidung bekommen und da ihr ja nicht allzu viel zum Anziehen mitgebracht habt, könntet ihr euch dort alles Notwendige besorgen“, schlug Madame Sophie vor.

Bevor die Männer darauf etwas sagen konnten, betrat eine in Militäruniform gekleidete Gestalt die Küche. Barneby ließ ein gefährliches Knurren hören.

„Sei still, Barneby!“ fauchte Madame Sophie ungehalten.

„Willkommen in Spanien, Major Kamikaze! Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und die weite Reise aus Russland auf sich genommen haben!“ Madame Sophie ging auf die uniformierte Frau zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Seien Sie mir aber bitte nicht böse, wenn ich Sie zukünftig nicht Major Kamikaze nenne, sondern nur Kamis oder Major!“

Major Kamikaze schaute verdutzt und schüttelte Madame Sophie steif die Hand. „Wenn Sie meinen!“ sagte sie kurz angebunden.

„Ich möchte Ihnen nun meine weiteren Gäste vorstellen“, fuhr Madame Sophie freundlich fort. „Dieser junge Mann ist Joaquin aus Deutschland.“

Kamis schaute Joaquin durchdringend und kühl an. Der Händedruck zwischen ihnen war kurz und schmerzlos.

„Hallo, Major!“ Joaquin erwiderte den Blick und er begriff sofort, warum Harlekin sich so negativ über diese Person geäußert hatte. Madame Sophie führte den Major weiter.

„Diese junge Frau ist Miranda aus Schweden.“

„Freut mich, Sie kennen zu lernen, Major!“ sagte Miranda freundlich und sah Kamis ruhig an. Als ihre Hände sich berührten, zuckte der Major leicht zusammen und schien einen Augenblick etwas irritiert. Madame Faunette führte den Major weiter.

„Und das ist Harlekin aus Holland.“

Harlekin vermied es, den Major anzuschauen.

„Wir hatten heute Morgen schon das Vergnügen!“

Kamis rümpfte die Nase und in ihrer Stimme lag wieder dieser metallisch klingende Ton.

„Zu guter Letzt möchte ich Ihnen noch Federico vorstellen, die gute Seele dieses Hauses. Er ist ein Einheimischer, ein Spanier, und er ist taubstumm.“

Es war nicht zu erkennen, was Kamis dachte. Sie schaute Federico an, nickte ihm kurz zu und wandte sich wieder von ihm ab.

„Sein Hund hört auf den Namen Barneby und der Papagei heißt Leroy. Ich hoffe doch, sie mögen Tiere?“

Über Kamis Gesicht huschte ein spöttisches Lächeln, sie sagte aber nichts.

„Sie haben sicherlich Hunger, Major und da wir nun endlich alle zusammen sind, können wir mit unserem Begrüßungsfest beginnen!“ Madame Sophie klatschte in die Hände und strahlte über das ganze Gesicht.

„Federico, es wäre nett von dir, wenn du den Grill aufstellen und in Gang bringen würdest.“ Sie sah ihn beim Sprechen direkt an. Er nickte und machte sich dann gleich an die Arbeit.

„Die anderen beiden Männer könnten den Eichentisch und die Stühle auf die Veranda stellen. Miranda, es wäre lieb von Ihnen, mir dabei zu helfen, das Geschirr, die Salate und die Getränke nach draußen in den Garten zu bringen.“

Innerhalb kürzester Zeit hatten sie alles auf der Veranda hergerichtet. Federico bereitete das Fleisch auf dem Grill zu, dabei lächelte er ununterbrochen vor sich hin. Bald hatten sich alle um den Tisch versammelt. Miranda und Harlekin setzten sich nebeneinander. Ihnen gegenüber nahmen Joaquin und Kamis Platz. Madame Sophie und Federico nahmen die Plätze an den Enden des Tisches ein.

„Wer von Ihnen trinkt Wein?“ fragte Madame Sophie, während sie äußerst geschickt zwei Flaschen Wein entkorkte.

Alle Hände gingen hoch, nur die von Kamis nicht. Madame Sophie ging um den Tisch herum und füllte die Gläser mit Wein.

„Das hier ist ein ausgesprochen guter Burgunder. Ich habe ihn heute aus Frankreich mitgebracht. Ich liebe französische Weine!“ Madame Sophie schien richtig Freude an ihrer Gastgeberrolle zu haben. Federico verteilte das Grillfleisch auf den Tellern. Madame Sophie erhob ihr Glas.

„Meine lieben Gäste! Nochmals herzlich Willkommen in diesem Haus und meinen Dank an Sie alle, dass Sie meiner Einladung unter diesen widrigen und rätselhaft erscheinenden Umständen nachgekommen sind. Sie werden in den nächsten Tagen den Grund Ihrer Einladung von mir erfahren. Es handelt sich um eine ganz besonders wichtige Angelegenheit, die uns alle gemeinsam betrifft. Der heutige Abend soll jedoch einfach nur dem geselligen Beisammensein dienen. In diesem Sinne lassen Sie uns die Gläser erheben und darauf anstoßen!“

Alle Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen und hielten ihre gefüllten Gläser in die Höhe. An Kamis‘ Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass sie sich ziemlich fehl am Platze fühlte.

„Ich heiße Sie herzlich Willkommen im Club der Auserwählten. Ich begrüße Sie im Club der Kinder des Lichtes!“ sagte Madame Sophie mit klarer, fester Stimme.

Im selben Augenblick kristallisierte sich am Himmel ein wunderschöner Regenbogen. Er leuchtete bunt und weit und zog über ihren Köpfen einen Halbkreis, bevor er gleich darauf wieder ins Nichts verschwand.

„Willkommen im Club! Willkommen im Club!“ krächzte Lord Leroy laut und schlug aufgeregt mit seinen Flügeln.














Die Legende von der Siebener Parabel

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