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PFERDEWECHSEL

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Solange ich auch zu der gezackten Ruinenwand starrte, die mal den Dachstuhl des Pferdestalls getragen hatte, ich konnte weder den alten Klock noch die auf seinem Schoß ruhig gewordene schwarzweiße Katze erblicken. Weil mir schließlich einfiel, dass er von innen gekommen und dorthin verschwunden war, erklomm ich, durch ausgebröckelten Mörtel entstandene Kerben zwischen den Ziegeln nutzend, das etwa zweieinhalb Meter hohe Mauerstück, von wo er sich mit mir unterhalten hatte. Oben angelangt, spürte ich, dass der bei Feri getrunkene Tresterbranntwein weiter bei mir wirkte. Verschwommen sah ich, dass sich in dem vom Mond spärlich erhellten Raum, der seinerzeit die beiden Rappen beherbergt hatte, nur ein mit Unkraut bewachsener Schutthügel wölbte. Doch in der rückwärtigen Wand bemerkte ich nahe dem Erdboden eine Öffnung, durch die ein schlanker Mensch schlüpfen konnte.

Ohne zu zögern, kletterte ich hinab, stapfte taumlig über das lose Geröll und zwängte mich in die Lücke, hinter der ich unsren ehemaligen, nun stark veränderten Hof vermutete, über den mich die Frau aus dem Nachbarhaus nach meiner Ankunft geführt hatte. Aber ich stieß unerwartet auf einen niedrigen, mit Reet gedeckten Gebäudeteil und entdeckte das fast quadratische Fenster, das Vater, damit mehr Licht in die Stellmacherwerkstatt fiel, kurz nach Kriegsende hatte einbauen lassen.

Ich öffnete die morschen, unverriegelten Flügel, schob meinen Kopf vor und beobachtete wie einst der kleine Junge, bei dem die Fantasie, durch Großmutters Erzählungen und etliche Fotos angeregt, übergeschäumt war, im trüben Schein der Petroleumlampe einen uralten, grauhaarigen Mann an der hinteren, meist ungenutzten Hobelbank. Er spannte, den mit einem dunkelblauen Hemd bekleideten Oberkörper stark gebeugt, ein schmales Vierkantholz zwischen die Bankhaken und begann, mit dem Schneidmesser eine Radspeiche zu formen. Sobald er sich aufrichtete, um zu verschnaufen, gewahrte er mich.

„Tritt näher“, sagte er, und obwohl ich seine leise, ein wenig raue Stimme nie wirklich gehört hatte, wusste ich, dass Großvater mit mir sprach.

Ich stieg durchs Fenster und ging über den aus Lehm gestampften, von Hobelspänen übersäten, Fußboden zielstrebig auf ihn zu. Doch er bedeutete mir, Abstand zu halten und drehte das Flämmchen der Petroleumlampe, die an einem Deckenhaken hing, so weit zurück, dass seine Gestalt fast ganz im Dunst versank wie in der fernen Zeit, als ich manchmal geglaubt hatte, er säße, während der Dämmer sein graues, spinnenfeines Netz um uns webte, neben Großmutter am Abendbrottisch. Nun trug er einen Schemel in die Werkstattmitte, rückte ihn über den delligen Untergrund, bis er nicht mehr kippelte, und nahm so darauf Platz, dass sein Gesicht im Dunkeln blieb. Während er mit der linken Hand sein dünnes, matt von hinten beleuchtetes Haar glattstrich, wies die Rechte zur Rundbank am Ofen, der bauchig in den Raum ragte. Sobald ich mich niederließ und anlehnte, erschien er mir heiß wie an den Tagen, als Mutter ihn von der Sommerküche aus angeheizt hatte, um Brot, Mohnkuchen oder Strudel zu backen.

„Ich hab geahnt“, sagte Großvater, „dass wir uns eines Tages begegnen würden. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, wenn uns der Herrgott eher zusammengeführt hätte.“

„Mir auch“, entgegnete ich und bemühte mich, seine Gesichtszüge zu erkennen, sah deutlich aber nur den blonden, gezwirbelten Schnurrbart, wie ich ihn von Großmutters vergilbten Bildern kannte.

„Doch nun haben wir uns endlich getroffen und sitzen in der alten Werkstatt, die uns aus unterschiedlichen Zeiten vertraut ist. Wenn ich in meinen letzten Jahren“, fuhr er leiser fort, „an der Hobelbank hantierte, musste ich, da ich rasch ermüdete, häufig innehalten. Dann stützte ich mich auf die mit Sägemehl bestäubte Platte, blickte versonnen durchs Fenster und meinte, dass du, obwohl’s dich noch gar nicht gab, über den Hof tollst, die Hühner scheuchst, Aprikosen pflückst oder an einem Ast des Maulbeerbaums schaukelst.“

„Ich hab dich ebenfalls oft gesehen“, erwiderte ich, und mir war, als spielte ich wieder mit Edit auf unsrem Säulengang. Wenn ich, derweil sie Holztiere in die aus Bausteinen errichteten Ställe stellte, meine Zinnsoldaten zu Angriff oder Verteidigung gruppierte, schienen sie manchmal zu wachsen, und ich glaubte, sie lägen mannsgroß zwischen Büschen, knieten hinter Bäumen, stünden im Schützengraben. Der Soldat, der sein Gewehr im Anschlag hielt, hatte einen Schnurrbart, und sobald er, das linke Auge zugekniffen, mehrfach den Abzug betätigte, vernahm ich den Knall der Schüsse.

„Hast du was von mir gewusst?“, hörte ich ihn fragen.

„Viel.“

„Durch Großmutter?“

„Ja“, bestätigte ich und sagte, dass sie morgens, wenn ich, kaum erwacht, zu ihr ins Bett geschlichen sei, nach den Märchen von Frau Holle, Schneewittchen oder Rotkäppchen, an die ich mich besonders nachhaltig erinnere, fast immer von ihm erzählt habe.

„Auch über das, was mir im Krieg widerfahren ist?“

„Vor allem.“

„Die Jahre, die ich an vorderster Front verbrachte, sind für mein Leben nachhaltiger als alle andren gewesen“, sagte er. Jene unauslöschlichen Geschehnisse, die ihn stärker als Geschosse, Kolbenhiebe oder Bajonettstiche verletzt hätten, seien tief in ihn gedrungen und später zu seinem Schicksal geworden, dem zu entgehen, so sehr er sich auch bemüht habe, nicht möglich gewesen sei.

„Ich weiß“, erwiderte ich.

Dabei sei er, als ihn das Vaterland nach den tödlichen Schüssen von Sarajevo unter die Fahne gerufen habe, unerschrocken in den scheinbar unausweichlichen Kampf gezogen, weil sich, wenn’s die Umstände erforderten, in jedem, der halbwegs Mumm in seinen Knochen habe, das Verlangen einstelle, der Gefahr mannhaft ins Auge zu blicken. Freilich habe er da noch nicht geahnt, was ihn erwarte. „Stattdessen“, redete er weiter, „erinnerte ich mich an meinen in Slawonien abgeleisteten Wehrdienst, der mich nie an körperliche oder seelische Grenzen geführt hatte. In der Rückschau erschien er mir wie ein reizvolles Spiel, in dem man sich beweisen konnte und den Kameraden zumindest ebenbürtig sein wollte; auch im Wirtshaus, wo wir, wenn Musik spielte, die anmutigsten Mädchen, die geduldig an der Wand warteten, zum Tanz aufs knarrende Parkett winkten, und mehr noch draußen, unter einer Akazie oder dem wuchtigen Maulbeerbaum, wo wir, weitab vom Petroleumlicht, das aus den Saalfenstern sickerte, ihre festen, erhitzten Körper in unsren Armen hielten.“

„Das klingt, als seist du verblendet gewesen.“

„War ich“, bestätigte er, „bis ich nach und nach begriff, dass sich nur wenig von dem, was ich mir ausgemalt hatte, mit der Wirklichkeit deckte. In dem Maße, wie die Unterschiede auseinander wichen, lösten sie ganz gegensätzliche Gefühle in mir aus. Sämtliche Landschaften, die ich im Laufe der Zeit kennenlernte, erfreuten mich, da sie meine Erwartungen bei weitem übertrafen: anfangs die schroffen, waldreichen Berge nahe der Drina, zuletzt die lieblichere Gegend rechts und links der Piave. Während ich das helle, wohltuende Licht wahrnahm, das dort Apfelsinen, Zitronen und Oliven reifen ließ, bewunderte ich den Schöpfer, der unsre Erde so vielgestaltig ausgestattet hatte. Doch im gleichen Atemzug bekümmerte mich, dass ihm, wie mir schien, die Menschen weniger gelungen waren, weil es ihnen an Einsicht, Güte und Friedfertigkeit fehlte.“

„Hast du das nicht schon früher erkannt?“, fragte ich.

„Nicht wirklich“, erwiderte er. „Vielleicht lag es zum Teil daran, dass ich mich, bevor ich eingezogen wurde, meist lieber allein in meiner Werkstatt als in größerer Gesellschaft aufgehalten hatte, so dass ich weder unsre Nachbarn noch die Bauern, die regelmäßig bei mir arbeiten ließen, tiefgründig genug kannte.“

Es habe ihm, erzählte er, immer aufs Neue Spaß bereitet, Buchen-, Eichen- und Eschenstämme mit der Faustsäge zu durchtrennen, um aus den Bohlen, Brettern oder Leisten mittels Schneidmesser, Hobel, Raspel, Feile und Stemmeisen ganze Pferdewagen zu fertigen oder einzelne Teile, die zerbrochen oder verschlissen waren, zu erneuern. Wahrscheinlich wäre er sogar am Sonntag in die Werkstatt gegangen, wenn den unser Herrgott nicht zur Ruhe und Einkehr bestimmt hätte.

„Was ich herstellte“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „musste bis ins Kleinste makellos sein. Mein Hang, alles so gut, wie ich konnte, zu bewältigen, wirkte sich für mich an der Front zunächst hilfreich aus, erwies sich später jedoch als Fluch.“

Er beherrschte das Maschinengewehr, das ihm anvertraut wurde, weil er es gewissenhaft bis ins Letzte erforschte, bald wie kein Zweiter. Aber von Anfang an sträubte sich etwas heftig in ihm, damit auf gegnerische Soldaten zu schießen, die von einem friedlichen Leben mit ihren Familien träumten wie er, wenn er sich in Gefechtspausen oder wachen Nachtstunden zunehmend nach seiner Frau und den zwei kleinen Töchtern sehnte. Deshalb schoss er, sobald er sich unbeobachtet wähnte, absichtlich über die Angreifer hinweg. Nur in Augenblicken, da sie besonders bedrohlich und scheinbar zum Äußersten entschlossen anstürmten, sah er sich gezwungen, in ihre Reihen zu halten, um nicht selbst getötet zu werden. Da neben ihm weitere Schützen lagen, versuchte er, sich wider besseres Wissen einzureden, dass nur sie die Gegner niederstreckten.

„Doch als ich, ehe sich unser Truppenteil kurz vor Kriegsende heimlich zurückzog, den Befehl erhielt, mit zwei Helfern, die mir Munition zutrugen, eine Stunde lang den Frontabschnitt zu halten, begriff ich, während die feindlichen Soldaten, von ihren Offizieren vorwärts getrieben, ungestüm anrannten, dass ich der Sensenmann war, der viele von ihnen niedermähte, um selbst zu überleben; denn mein flüchtiger Gedanke, mich zu ergeben, erschien mir wie feiger, unzulässiger Verrat.“

Aus Gründen, die er nie ganz erfassen werde, habe der Allmächtige gewollt, dass er dem Tod entging. Nur so könne er sich erklären, dass er, von einem wundersamen Gespür geleitet, rechtzeitig die Maske übergestreift habe, als von der andren Seite unerwartet Gas eingesetzt worden sei.

„Meine Gehilfen hingegen zögerten, obwohl ich sie aufforderte, meinem Beispiel zu folgen, zu lange, und so musste ich sie, bevor ich der Truppe mit letzter Kraft folgte, leblos am Maschinengewehr zurücklassen. Ich erreichte gerade noch die letzte Fähre und gelangte heil übers Wasser, derweil zahlreiche Kameraden, die uns verzweifelt in voller Ausrüstung nachsprangen, jämmerlich ertranken oder gnadenlos von den Verfolgern erschossen wurden.“

Er saß weit vorgebeugt, hielt seine Hände, die auf den Oberschenkeln ruhten, wie zum Gebet gefaltet und wirkte so tief in seine Gedanken versunken, dass er mich vergessen zu haben schien. Als mich die Stille, die sich bis in den letzten Winkel der Werkstatt ausbreitete, zu bedrücken begann, erwog ich, ihn anzusprechen, wagte es aber nicht, weil ich fürchtete, ihn zu erschrecken. Da hob er von allein den Kopf, straffte seinen Rücken, strich sich über die spärlichen Haare, zwischen denen die Kopfhaut schimmerte, blinzelte mehrmals, da ihn das Petroleumlicht, das in einem vom Wind halb aufgedrückten Fensterflügel gespiegelt wurde, nach einem kurzen Flackern heller aus dem Glaszylinder leuchtete, sichtlich blendete, und murmelte schließlich, als spräche er nur zu sich selbst: „Das waren die letzten Bilder vom Krieg, die mich, körperlich unversehrt ins Dorf zurückgekehrt, nicht losließen und bewirkten, dass ich, ohne es von außen sofort erkennen zu lassen, nicht mehr derjenige war, der vier Jahre vorher in trügerischer Erwartung die Uniform angezogen hatte.“

„Glaubst du, dass ausschließlich die Fronterlebnisse an deinem Wandel schuld waren?“

„Das sicher nicht“, entgegnete er. „Schließlich hatte sich auch daheim einiges ereignet, das mich verstörte.“

„Du denkst an Großmutter?“

„Ja“, sagte er. „Obwohl auch sie sich äußerlich nicht wesentlich verändert hatte, erkannte ich sie kaum wieder.“

„Wieso?“

„Ich hatte nie daran gezweifelt, dass sie sich auch allein mit den beiden Kindern durchschlagen würde, da sie schon immer strebsam, geschickt und erfinderisch gewesen war. Aber es wollte mir nicht in den Kopf gehen, dass sie es geschafft hatte, während meiner Abwesenheit sogar unser Vermögen zu vergrößern.“

„Meinst du den Weingarten und das Feldstück im südlichen Hotter?“

„Ja“, antwortete er. „Sicher weißt du auch, wie es ihr gelungen war, das Geld dafür zu verdienen.“

Ich erinnerte mich, dass sie manchmal darüber gesprochen hatte. Durch Unterstützung der Schwiegermutter, die, wenn es nötig wurde, beide Enkelinnen beaufsichtigte, und den Beistand einiger Nachbarn, die abwechselnd mit Gespannen aushalfen, gelang es ihr, sämtliche Äcker zu bestellen und reiche Ernten einzubringen. Mit dem geschälten Mais, der den Schuppen gewöhnlich bis zum obersten Rand füllte, fütterte sie nicht nur zusätzlich Hühner, Enten und Gänse, sondern mästete jedes Jahr auch zwei Schweine, die sich, da sie prächtig gediehen, so leicht wie das Geflügel veräußern ließen. Den größten Erlös aber erzielte sie wohl dadurch, dass sie sich vom Sommer bis zum frühen Herbst zweimal wöchentlich in die acht Kilometer entfernte Kreisstadt Baja begab, um auf dem Markt frisches Obst und Gemüse aus unsrem Garten feilzubieten. Mit dem ersten Hahnenschrei verließ sie das Haus und trug die sorgsam in einen runden Korb geschichteten Erzeugnisse den ganzen Weg auf dem Kopf. Es ging ihr nur teilweise darum, das Geld für die Eisenbahn zu sparen. Vor allem wollte sie, um rasch und günstig verkaufen zu können, eher als die Bäuerinnen da sein, die den Zug benutzten. Besonders begehrt waren unsre großbeerigen, schillernden Trauben, die ungewöhnlich früh an den in drei Reihen hinterm Maisschuppen gepflanzten Rebstöcken reiften und vorzüglich schmeckten.

Obwohl der Tag, an dem ich erstmals davon erfahren hatte, sehr weit zurücklag, entsann ich mich, wie beeindruckt ich von den geschilderten Geschehnissen gewesen war. Deshalb fragte ich Großvater, der noch immer blinzelte: „Was hat dich daran gestört?“

„Nichts an der außergewöhnlichen Leistung deiner Großmutter. Die hab auch ich bewundert.“

„Aber?“

„Es war der falsche Augenblick, als ich davon erfuhr.“

„Das heißt?“

„Ich hatte mich darauf gefreut, endlich wieder für Frau und Kinder sorgen zu können. Jedoch kaum zu Hause eingetroffen, erfasste ich, wie gut sie ohne mich ausgekommen waren, ich eigentlich gar nicht mehr gebraucht wurde.“

„War dir, was Großmutter vollbrachte, nicht eher aufgefallen?“

„Schon“, gab er zu. „Vor allem im letzten Urlaub. Aber ich hatte es, weil ich’s nicht wahrhaben wollte, genauso sträflich verdrängt wie die Tatsache, dass die gegnerischen Soldaten nicht ausschließlich von den Schüssen meiner Nebenleute niedergestreckt wurden.“ Er strich über seinen Schnurrbart und blinzelte, obwohl die Lampe wieder schwächer leuchtete, noch auffälliger als vorher, während er weitersprach: „Doch nun begriff ich unwiderruflich, dass ich einer doppelten Lüge aufgesessen war, und ich spürte, dass mich die zweite Einsicht nicht weniger als die erste belastete. Bildlich betrachtet, zog jetzt nämlich deine Großmutter den Familienwagen. Notgedrungen war ein Pferdewechsel erfolgt, der dauerhaft schien, da sie trotz der Anstrengungen, die hinter ihr lagen, kein bisschen erschöpft wirkte. Ich hingegen fühlte mich wie ein ausgelaugter, lahmer, abgehalfterter Klepper, dem man für frühere Verdienste ein Gnadenbrot gewährt.“

„Du übertreibst.“

„Mag sein“, räumte er ein, „und vielleicht wäre es mir über kurz oder lang gelungen, mich zu rappeln, wenn deine Großmutter erkannt hätte, was in mir vorging. Aber sie hatte kein Gespür dafür, und ich scheute mich, ihr Einblick zu gewähren, weil ich fürchtete, sie würde mich, von der Plackerei hart geworden, für einen wehleidigen Schwächling halten. Sie war, durch die Umstände begünstigt, sehr weit an mir vorbeigezogen, und sie erwartete, vermute ich, dass ich ihr ohne Verzug folgte und mich ihr in dem Maße, wie ich den Alltag bewältigte, stetig annäherte, um eines Tages meinen früheren Platz einzunehmen.“

„Hast du’s versucht?“

„Natürlich. Doch ich merkte bald, dass ich zu wenig Kraft besaß, und mein guter Wille allein nicht genügte, sie ausreichend anzustacheln.“

Großmutter habe ihn, überrascht von seiner Schwäche, argwöhnisch beobachtet, aber nie ein böses Wort gesagt. Trotzdem sei ihm bewusst gewesen, dass sie es lieber gehabt hätte, wenn er wie Petrich, der Schmied, aus dem Krieg heimgekehrt wäre, der zwar, am linken Bein von einer Kugel getroffen, merklich gehinkt habe, aber unbeschwerter als früher gewesen sei.

„Vielleicht“, vermutete er, „glaubte sie, dass ich nur mehr Zeit brauchte, bis ich wieder der Alte würde. Doch anstatt sie sich mir liebevoll zuwandte, damit ich ihre Verbundenheit spürte, widmete sie sich noch stärker ihren Arbeiten, als wollte sie, um unser Vermögen weiter zu mehren, meinen Ausfall unbedingt wettmachen.“

Ihm aber sei es nicht vorrangig um Besitz gegangen. Sonst hätte er nicht vielen Kunden, denen es in den schwierigen Zeiten an Geld gemangelt habe, wiederholt Zahlungsaufschub gewährt.

„Mir kam es mehr auf die Arbeit als den Lohn an. Wenn ich an der Hobelbank stand und merkte, dass meine Fähigkeiten langsam, aber sicher zurückkehrten, vergaß ich, was mich bedrückte, und so wurde ich fast süchtig danach, Hobel, Säge oder Schneidmesser in die Hand zu nehmen. Möglicherweise“, fügte er hinzu, „half mir auch die Einsamkeit, die ich schon früher in der Werkstatt gesucht hatte. Doch der Mensch ist, wenn er mitten im Dorf wohnt, kein Einsiedler.“

Über den Umgang mit seinen Kunden hinaus habe er sich mit Klock und zwei, drei weiteren Männern am Sonntagnachmittag zum Kartenspiel getroffen. Wenn sie im Sommer auf einem efeuumrankten Säulengang, in einer gut durchlüfteten Stube oder unter einem dichtbelaubten Baum am Tisch saßen, gewohnte Geräusche aufnahmen und bekannte Düfte einatmeten, hätte er sich im vertrauten Kreis wohlfühlen können, wäre nicht immer wieder der Krieg in ihre Gespräche gelangt.

„Klock hat wohl“, redete er weiter, „als Einziger erkannt, was sich in mir abspielte. Da er mir nicht wie den Katzen, die seine heilsame Nähe suchten, helfen konnte, litt er fast wie ich, sobald Petrich zu schwadronieren anfing und immer wieder mit seinen angeblich im Kampf vollbrachten Heldentaten prahlte, die sich von Mal zu Mal auswuchsen, bis wir annehmen mussten, er habe den Gegner mit Feuer, Hieb oder Stich ohne jeden Pardon scharenweise im Alleingang vernichtet. Auch Lackner, ein Bauer, der gegenüber wohnte, erzählte wiederholt von seinen Kriegserfahrungen, drängte sich, da es seinem schlichten Wesen widersprach, aber nie wie Petrich in den Vordergrund. Ich begriff allmählich, dass sie versuchten, die Fronterlebnisse, von denen offensichtlich keiner loskam, auf ihre Art zu bewältigen. Sie fuhren, schien mir, mit ihrem Verhalten deutlich besser als ich, doch jeder besitzt seine Veranlagung, die unser Herrgott für ihn bestimmt hat, und so konnte ich mich nicht wie die andern befreien. Je lauter sie bei unsren Treffen wurden, desto mehr verschloss ich mich. Zum Glück lenkte mich die Arbeit nicht nur in der Werkstatt, sondern auch auf dem Feld ab. Eins mit der Natur, oft weit und breit allein unter dem makellos blauen Himmel, der sich wie Seide über mir spannte, verbrachte ich manchmal Stunden, die mich hoffen ließen. Aber dabei blieb es. Der entscheidende, dauerhafte Wandel, den ich mir sehnlichst wünschte, trat leider nicht ein.“

So sei, fuhr er fort, Jahr für Jahr verstrichen, und mit der Zeit habe ihn nichts mehr wie früher berührt: nicht der betörende Duft, den die Akazienblüten verströmten, nicht die halbflüggen Schwalben, die ihre weit geöffneten Schnäbel aus den Nestern an der Kuhstallwand reckten, nicht die drei mächtigen Eichen hinter Lackners Gehöft, auf deren kahlen, knorpeligen Ästen sich wiederholt Raben niederließen, um bei strengem Frost den matten Sonnenschein auszukosten, nicht das klare, kühle Wasser aus dem Ziehbrunnen, das im Schöpfeimer blinkte, wenn er sich über ihn beugte, um zu trinken.

Selbst in der Werkstatt habe er meist nur noch einen schwachen Abglanz der einstigen Schaffensfreude empfunden, da er, obwohl der Arzt kein körperliches Leiden bei ihm festzustellen vermochte, wie bereits erwähnt, immer rascher ermüdet sei. Habe er dann das Fenster geöffnet, um leichter atmen zu können, sei ihm jedes Mal in den Sinn gekommen, wie schön es wäre, wenn eine seiner bereits verheirateten Töchter endlich einen Enkel zur Welt bringen würde.

„Das waren“, sagte er, „die Augenblicke, in denen ich mir vorstellte, wie du über den Hof tollst, die Hühner scheuchst, Aprikosen pflückst oder an einem Ast des Maulbeerbaums schaukelst.“

„Meinst du, ich hätte dir helfen können?“, fragte ich.

„Wer weiß das schon“, entgegnete er. „Aber ich halte es durchaus für möglich, dass sich, wenn du häufig in meiner Nähe gewesen wärst, etwas von deiner Unschuld auf mich übertragen hätte. Es wäre vielleicht das Quäntchen gewesen, das manchmal nötig ist, um eine Änderung herbeizuführen, die sonst nicht eintritt.“

Als die Petroleumlampe zu blaken begann, schloss ich die Augen, um sie vor dem beißenden Rauch zu schützen, der aus dem Glaszylinder wölkte.

„Ich hab mich öfter gefragt“, hörte ich Großvater sagen, „ob mich der Allmächtige an jenem fernen Tag, als der Gegner unerwartet Gas einsetzte, vielleicht nur überleben ließ, um mir eine Prüfung aufzuerlegen. Doch ich erkannte keinen Sinn darin, und wenn es einen gegeben hätte, wäre ich der damit verbundenen Aufgabe wohl kaum gewachsen gewesen. Heute aber“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „bin ich, weil mir vieles noch einmal ins Bewusstsein gerückt ist, auf einen neuen Gedanken gekommen.“

„Welchen?“

„Womöglich sollte ich alles durchleiden, um fähig zu sein, eines Tages zur Mahnung für Nachgeborene darüber zu reden. Da unser Herrgott dich nicht grundlos zu mir geführt hat, bist du wahrscheinlich auserwählt, meine argen Erfahrungen weiterzugeben.“

„Wie denn?“

Da er nicht antwortete, öffnete ich die Augen und erfasste, dass er verschwunden war. Eine Weile blieb es ruhig, dann bellte aus dem Dunkel, das mich umgab, ein Hund, und vom nahen Kirchturm ertönte dreimal die Glocke. Es klang, als schlüge Petrich, der Schmied, kraftvoll wie einst auf seinen Amboss.


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