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IM STAUB DER JAHRE

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Als ich den Weg zur braun gestrichenen Bank, die schräg gegenüber unserem früheren Gehöft im Schatten des schmalgiebligen, verwitterten Hauses stand und mich während meines zweiten Besuchs bei Teri und Géza zum Ausruhen verlockte, schon halb zurückgelegt hatte, trat eine kleine, schlanke, sehr alte Frau durch den niedrigen Eingang, zog die Tür langsam zu, trippelte, während sich ihre linke Hand am Sockelrand festhielt, mit stark gebeugtem Oberkörper nahe der Mauer übers bucklige Pflaster und setzte sich schwerfällig. Fast geneigt, vor der wackligen Holzbrücke, die den Kanal überspannte, wieder umzukehren, schritt ich doch weiter und hielt noch ein Stück auf die Frau zu, die, als ich gerade meine Richtung ändern wollte, zwinkernd den Kopf hob, so dass ich ihr ins tief gebräunte, runzlige Gesicht blicken konnte. Obwohl mir ihre Züge bekannt vorkamen, nickte ich nur kurz und grüßte sie, ehe ich mich nach rechts wandte, ungarisch.

„Guten Tag“, erwiderte sie in jener fast vergessenen Mundart, die Großmutter noch in Görlitz gesprochen hatte.

Als ich mich überrascht umdrehte, bemerkte ich, dass sie, ohne die welken Lippen zu verziehen, lächelte, und ihre grauen, von hutzliger Haut umgebenen Augen begannen zu glänzen.

„Woann Ihr oa kloa wenig Zeit hett“, fuhr sie in der einst höflichen Redeweise mit ihrer rauen, leicht brüchigen Stimme fort, „on Eich oa uralt’s, tappig’s Weibsbild net v’rschreckt, kennt’r Eich gern oa Weili zu m’r setza.“

Derweil ich noch zögerte, rückte sie bereits ein Stück zur Seite, um mir Platz zu bieten. Ich sah, dass ihre bloßen Füße in Patschkern steckten, ihr weiter, dunkler Rock fast bis zu den Knöcheln reichte, das schwarze Kopftuch nicht nur die Haare, sondern auch einen Teil des Gesichts verbarg. Ihre weiße, kurzärmlige Barchentbluse roch nach frischer Stärke, als ich mich neben ihr niederließ.

„Eigentlich“, meinte sie nach einer Weile und bemühte sich, hochdeutsch zu reden, als fürchtete sie, dass ich sie sonst nicht verstünde, „hab ich das Recht, du zu sagen, weil ich dich seit deinem ersten Lebenstag kenne.“

Wieder erschienen mir, während ich sie erwartungsvoll anschaute, ihre Züge vertraut, aber so sehr ich mich auch anstrengte, fand ich nicht heraus, wer sie war.

„Du bist“, sprach sie leise weiter, „wenige Tage, nachdem ich meinen Sebastian zur Welt gebracht hatte, dort drüben in dem schwefelgelben Haus geboren worden, das, solange ihr darin gewohnt habt, lindgrün gestrichen war. Ich kam mehrmals täglich zu euch, hob dich aus der Wiege, die dein Vater gebaut hatte, und legte dich an meine Brust, weil deine Mutter fast eine Woche lang keine Milch hatte. Bei mir aber floss sie so reichlich, dass ich nicht nur meinen Sebastian, sondern auch dich satt bekam. Weißt du nun“, fragte sie und blickte, durch die Helle geblendet, blinzelnd zu mir hoch, „wer ich bin?“

„Dann müsst Ihr“, erwiderte ich, „Julia Dobler sein.“

„Richtig“, bestätigte sie erfreut. „Und darum brauchst du mich nicht länger in altväterischer Art wie eine hochnäsige Fremde anzusprechen.“

Sie nestelte mit ihren abgearbeiteten, blau geäderten, knotigen Händen auf dem Schoß, als bewegte sie einen Rosenkranz zwischen den Fingern. Sicher wundere ich mich, sagte sie, ohne inne zu halten, woher sie gewusst habe, wer ich sei. Ich müsse nicht fürchten, dass sie mehr könne als Brot essen, wie man es früher etlichen Greisinnen im Dorf zugetraut habe. Obwohl man nun oft im Haus vor dem Fernseher sitze, spreche sich weiter in Windeseile herum, wer irgendwen besuche oder in Lenharts Gasthaus eins der noblen Zimmer beziehe. Ihr sei auch zu Ohren gekommen, was ich arbeite, und sie staune, dass ich mich noch genau erinnern könne, wie es einst im Ort gewesen sei. Sie würde mich, wenn es mir recht wäre, gern auf die Probe stellen.

Ich erwiderte, dass ich einverstanden sei.

„Erzähl“, bat sie, „was es auf unsrer Straße Besonderes gab.“

„Da waren zwei Läden“, sagte ich, „die sich von hier etwa gleich weit entfernt an den nächsten Straßenecken befanden. Das obere Geschäft gehörte Armin, einem Juden, der sich, da er umsichtig, leutselig und verlässlich war, auf seinen Beruf verstand wie kein andrer, das untere bewirtschaftete ein kleiner, dicklicher, ein wenig huscheliger Ungar, bei dem man selten alles erhielt, was man haben wollte. Auf halbem Weg zu ihm wurden vor der Schmiede oft Pferdehufe beschlagen, genau gegenüber surrten in einem flachen, lang gestreckten Seitengebäude mehrere Spinnmaschinen, drei Dutzend Meter aufwärts stand Metzger Oswald in seiner gefliesten, auch sommers kühlen Schlachterei am hohen, wuchtigen Hackklotz, etliche Häuser weiter zog Morath, der schmächtige, bucklige Schuster, abwechselnd Stiefel, Sandalen und Schuhe über seinen Leisten, fast am Straßenende wurden in einem Hinterhaus große Mengen Sodawasser abgefüllt, und schließlich boten durchziehende Scherenschleifer, Kesselflicker, Lumpensammler oder Besenbinder mit gleichförmigen, leiernden Rufen ihre Dienste an.“

„Nicht schlecht“, meinte Julia Dobler. „Für jemand, der schon so lange weg ist, sogar ganz erstaunlich. Kannst du dich noch auf mehr Leute besinnen?“

„Wenn ich die Augen schließe, sehe ich viele vor mir: den alten Klock, unsren linken Nachbarn, der wochentags seine Rappen vors Fuhrwerk spannte, um zu den entlegenen Feldern auf dem südlichen Hotter zu fahren, Edit Kreutzer, die mit ihren Eltern rechts von uns in dem kleinen Haus wohnte, häufig mit mir auf unsrem schattigen Säulengang spielte, mit mir und andren Kindern das Dorf, das nahe Pappelwäldchen und die Umgebung bis zum schilfigen, versteckten Teich durchstreifte, Josef Schmalz, den glatzköpfigen, schmerbäuchigen Spinnereibesitzer, der die heißesten Mittagsstunden schwitzend neben seinem Tor unter einer dicht belaubten Akazie im Liegestuhl verdöste, während seine Arbeiterinnen an den von Stickluft umkreisten Maschinen ausharren mussten, die uralte, weißhaarige Pipa-Lisi, die, wenn ich auf dem Schulweg an ihrem rohrgedeckten, orangefarben getünchten Häuschen vorbeikam, gewöhnlich am niedrigen Fenster saß, durch die dicken Gläser einer Hornbrille blickte, ihre langstielige Pfeife rauchte und mir oft eine Münze, für die ich mir Süßigkeiten oder ein Eis kaufen sollte, herausreichte.“

„Erinnerst du dich auch an Sebastian?“

„Natürlich“, erwiderte ich, „wenngleich wir nie ganz eng befreundet waren. Ist er noch im Dorf?“

„Nein“, sagte sie. „Er lebt sehr weit entfernt.“ Sein Schicksal sei am stärksten durch das letzte der drei Ereignisse beeinflusst worden, die das Dorf nach unsrer Geburt verändert hätten. Mit dem ersten meine sie den Krieg, aus dem Albert, ihr Mann, nicht heimgekehrt sei, mit dem zweiten die Menschentransporte nach Deutschland, deren Folgen ich besser als sie kenne, mit dem dritten die Volkserhebung im Herbst sechsundfünfzig, als allenthalben kurzzeitig Hoffnungen geweckt und Sehnsüchte entfacht worden seien, bis die russischen Panzer sie zermalmt hätten. Sebastian habe damals in Budapest zu studieren begonnen und sich den Aufständischen angeschlossen, weil er ihre Ziele gutgeheißen habe. Sie könne nicht genau sagen, ob er, als die Niederlage schon unverkennbar gewesen sei, lediglich die Gelegenheit genutzt habe, über die durchlässige Grenze zu gelangen, oder ob er aus Furcht vor drohender Strafe mit Gottes Hilfe bis zu den fernen Blauen Bergen geflohen sei, wo er jetzt noch wohne.

„Ist er“, fragte ich und dachte daran, wie ich mit Norbert, Wolf und Manfred von Görlitz ins Land der Eukalyptuswälder hatte auswandern wollen, „dort glücklich geworden?“

„Glücklich“, sagte sie und blickte zur schmalen, wackligen Brücke, die über den seichten Kanal führte, „ist wohl ein zu großes Wort. Ich wäre schon froh, wenn’s ihm halb so gut gehen würde, wie ich’s aus seinen Briefen herauszulesen glaube. Aber ich bin nicht sicher, ob ich dem Anschein trauen darf, da sich Sebastian auch anfangs nie beklagte. Dabei hatte er’s vielleicht so schwer wie unsre Vorfahren, als sie, von Maria Theresia gerufen, in der Einöde neben den Türkenhügeln das Dorf gründeten, Felder und Weingärten anlegten, ihre Handwerke ausübten und Geschäfte tätigten. Er musste sich, von den Eingesessenen gewiss mehr oder minder beargwöhnt, als Holzfäller, Schafhirt und Steinbrucharbeiter durchschlagen, bis er Susan kennenlernte, mit ihr eine heruntergewirtschaftete Farm erwarb und Rinder zu züchten begann, was bis heute seine ganze Kraft beansprucht und ihm kaum Zeit für etwas Andres lässt.“

„Dann ist er wohl selten zu Besuch gekommen?“

„Noch nie“, entgegnete sie. Zuerst wär’s nicht möglich gewesen, und nun, da ihm keine Gefahr mehr drohe, vertröste er sie von Mal zu Mal, weil die Farm ihn festhalte.

„Aber er schreibt oft?“

Ein-, zweimal im Monat rufe er auch an. So schön es sei, ihn sprechen zu hören, lese sie jedoch lieber, was er schreibe. Wenn sie ermüde oder über etwas aus dem Brief nachdenken wolle, lehne sie sich zurück, schließe die Augen und staune, was ihr alles in den Sinn komme. Fast immer gehöre der Staub dazu.

„Was für Staub?“, fragte ich.

„Der früher von den Pferdewagen aus den zerfahrenen Wegen hochgewirbelt wurde und für kurze Zeit alles einhüllte. Erinnerst du dich nicht?“

„Doch.“

„Ich hab ihn gehasst, da er in Mund, Nase, Ohren drang und einem, mit Schweiß vermischt, auf den Lippen brannte. Außerdem schien es mir, als würden Tage, Wochen, Monate und Jahre spurlos darin versinken, bis Sebastian mir ein Bild schickte. Es zeigte ihn auf einem Pferd, unter dessen Hufen deutlich sichtbar Staubwölkchen empor stoben.“ Da habe sie schlagartig erfasst, dass es zwischen ihnen über die vielen tausend Kilometer hinweg eine unerwartete Gemeinsamkeit gebe, die Sebastian, sofern er ähnlich empfinde, über kurz oder lang ins Dorf führen werde. Nur ihr Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, und das gottesfürchtige Leben, das sie trotz aller Heimsuchungen führe, hätten sie vielleicht am Leben gehalten. „Ich denke“, fügte sie etwas gedämpfter hinzu, „dass sich meine Hoffnung nun bald erfüllen wird.“

„Weshalb?“

„Weil sich Sebastian im letzten Brief erkundigt hat, ob es den Staub, sobald Wind einsetzt, noch immer durchs Dorf treibt. Meinst du“, sie sah blinzelnd wie vorhin zu mir hoch, „dass ich seine Frage richtig deute?“

„Ja“, sagte ich. „Er wird kommen. Ganz bestimmt.“


Im Bannkreis er Erinnerung

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