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WORTE

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Manchmal fallen mir aus jener fernen Zeit Worte ein, die Mutter noch lange danach und Großmutter bis zuletzt gesprochen hat. Es sind Worte, die ich erstmals im heimischen Dorf hörte, geformt in schwäbischer Mundart, mitgebracht drei Menschenleben vorher auf der großen, abenteuerlichen Reise vom Schwarzwald in die ungarische Ebene, durch meine Vorfahren bewahrt, weiterentwickelt, mit magyarischen und slawischen Begriffen vermischt, umgestaltet, abgeschliffen und im Klang verändert, weil kein Einfluss wirkungslos bleibt.

Mein Verhältnis zu den Worten hat sich mehrfach gewandelt. Zunächst waren es für mich gewichtige, lebensnotwendige Ausdrücke der Sprache, die im Dorf zählte, neben dem Ungarischen natürlich, das im Kindergarten und in der Schule verlangt wurde. Erst später, nach der langen, aufgezwungenen Güterzugfahrt, die uns bis Sachsen führte, nahe an die Grenze zu Schlesien, wurde mir bewusst, dass es nicht nur die eine deutsche Sprache gab. Ich erlernte eine andre, die härter klingt und bis heute meinen Tonfall färbt, von den neuen Kameraden, hörte sie verfeinert auch von den Lehrern in der Schule, wo mir die frühere nur schadete, da sie keiner verstand und sie mich in der Orthografie behinderte. Die Sprache, die nun bestimmend wurde, entfernte mich von meinen Eltern, meiner Großmutter, anfangs nur verbal, danach wohl auch menschlich; denn es störte mich, dass sie sich das Vokabular, das sie im veränderten Umfeld unauffällig gemacht hätte, nicht wie ich anzueignen vermochten.

Trotzdem vergaß ich jene frühe Mundart nicht. Ich kann sie, wenn ich nach Vaskút komme und jemand finde, der sie noch spricht, was immer seltener zu werden scheint, mühelos anwenden. Dabei fallen mir vermeintlich verloren gegangene Ausdrücke wieder ein, erfasse ich überraschende Zusammenhänge und bestaune das Vermögen meiner Vorfahren, Dinge und Erscheinungen so einfach wie treffend zu benennen: Maulmacher für Schwätzer, Gummiflinte für Katapult, Erdhase für Wildkaninchen. Den Sinn andrer Begriffe hingegen kann ich bis heute nur vermuten: Ist Mujo ein Synonym für einen mürrischen Menschen, Pusserant für Quälgeist, nisseln für verhalten weinen?

Es belastet mich nicht, dass ich keine Gewissheit habe. Steckt in dem Vagen, Unergründlichen nicht auch ein beträchtlicher Reiz? Außerdem bleibt mir die Hoffnung, eines Tages doch hinter das Geheimnis zu kommen, genau wie bei Okrosel zu wissen, dass das Wort Stachelbeere heißt und von dem ungarischen egres abgeleitet ist, sicher wie bei Hotter zu sein, dass der Aus-druck, der die Gemeindegrenze bezeichnet, österreichischen Ursprungs ist.

Weit mehr als meine Wissenslücken beschäftigt mich, woher mein Sinneswandel rührt, wieso ich zur Sprache meiner frühen Kindheit ein neues Verhältnis gefunden habe, ich selbst die simple Floskel „Wu kommscht’n her, wu gehscht ’n noa?“, die gedankenlos geäußert wurde, wenn sich Bekannte im Dorf begegneten, nicht mehr abschätzig betrachte, weil sie mir den vertrauten Tonfall ins Gedächtnis ruft.

Liegt es daran, dass ich mich mehr und mehr auf früher besinne, die Worte mir helfen, das Erlebte wach zu halten. Oder geschieht es, weil mir bewusst ist, dass ich aus unsrer Familie als Letzter die Sprache beherrsche?

Ich fürchte, die Mundart, die immer weniger im Dorf benutzen, wird irgendwann ganz aussterben. Es wäre schlimm, wenn es so weit käme, mit all den trefflichen Ausdrücken auch Maulmacher verloren ginge. Ist es nicht wirklich ein großartiges Wort?


Im Bannkreis er Erinnerung

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