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BEGEGNUNG IM GASTHAUS
ОглавлениеAls ich von den Werkstattgesprächen mit ungarndeutschen Autoren, die in Szekszárd stattgefunden hatten, für einige Tage nach Vaskút fuhr, lenkte ich das Auto wie gewöhnlich erst mal zu unsrem einstigen Haus, um zu sehen, ob der uralte Maulbeerbaum noch auf dem Hof stand. Kaum war ich ausgestiegen, näherte sich von nebenan die alte Nachbarsfrau, die uns Jahre vorher nach unsrer Ankunft aus Siófok empfangen und beim Verständigen mit den neuen ungarischen Besitzern geholfen hatte.
Sie könne mir, sagte sie in der mir noch vertrauten Mundart, etwas mitteilen, das mich vielleicht interessiere. Das Haus, vor dem ich stehe, sei inzwischen verkäuflich, weil es grundlegende Veränderungen gegeben habe: Der Mann sei schon vor längerer Zeit unerwartet gestorben, und seine Frau, die nicht allein bleiben wollte, zu einer Tochter gezogen. Es gebe im Dorf zwar viele Angebote, wie auch ich sicher wisse, aber für dieses, das sie mir im Auftrag unterbreiten dürfe, spreche nicht nur die Lage – sie meine, das Gehöft befinde sich in der schönsten Straße des Dorfes -, sondern auch der günstige Preis: fünfzehntausend D-Mark, keinesfalls mehr, unter Umständen sogar weniger. Ihr wäre ich durchaus als neuer Nachbar willkommen, und falls ich wie andere Deutsche, die schon Häuser erworben hätten, nur den Sommer hier verbringen möchte, würde sie, so lange ihr der Herrgott die Gnade gewähre, in der übrigen Zeit gern nach dem Rechten sehen.
Natürlich müsse ich mich nicht gleich entscheiden, hörte ich die Frau noch sagen, lasse sie mir Bedenkzeit. Ich solle es mir in aller Ruhe überlegen, ehe ich meine Wahl treffe.
Ich versprach, ihr Bescheid zu geben, stieg benommen ins Auto und erkannte im Rückspiegel, dass sie am Tor stand und mir nachschaute.
Noch beeindruckt vom Erlebten, fuhr ich auf die Parkfläche vor Lenharts Gasthaus, das ich, obwohl es jetzt anders heißt, insgeheim weiter so nenne. Ich hatte dort Quartier genommen, weil Teri und Géza gerade von Angehörigen aus Siebenbürgen besucht wurden. Die Wirtin, eine ansehnliche, mit einem Ungarn verheiratete Frau in den mittleren Jahren, sprach als Nachkommin der ersten Ansiedler recht gut deutsch. Ich bekomme ihr bestes Zimmer, sagte sie, und essen könne ich auch gleich etwas. Es gab Hühnerpaprikasch mit Nockerln. Vom Wein, einem aus heimischen Trauben gekelterten Kadarka, trank ich schneller, als ich es gewöhnt war. Ehe ich das dritte Glas geleert hatte, trat ein neuer Gast durch die Tür. Der Mann, den ich, obwohl er rüstig wirkte, auf über fünfundsiebzig schätzte, blickte flüchtig zum Tisch, an dem sich drei Ungarn unterhielten. Dann steuerte er auf mich zu und fragte deutsch, ob er bei mir Platz nehmen dürfe.
Ich erwiderte, dass ich nichts dagegen hätte.
Es heiße, ich wolle vielleicht ein Haus kaufen, sagte er. Dass er es bereits wisse, müsse mich nicht wundern. Hier geschehe halt wenig, da verbreite sich jede Nichtigkeit in Windeseile. Das sei schon früher so gewesen. Er habe nämlich seine Kindheit und Jugend im Dorf verlebt. Mit siebzehn sei er zur SS gepresst worden, habe sich kurz vorm bitteren Ende aber mit einem Kameraden absetzen und nach Deutschland fliehen können.
Wenn ich seine Sprachfärbung richtig einordne, dachte ich, kommt er aus dem Stuttgarter Raum. Ich erwog, ihn zu fragen und mich nach seinem Namen zu erkundigen, zögerte jedoch, weil ich mich dann auch offenbaren müsste, ohne mir sicher zu sein, ob ich es wollte. Ehe ich zu einem Entschluss gelangte, redete der Mann bereits weiter. „Anfangs habe ich mich denen gegenüber, die daheim noch Haus, Hof und Feld besaßen, betrogen gefühlt“, erzählte er. „Aber schon zwei Jahre später, als die Ersten in meine Gegend vertrieben wurden, sah ich mich deutlich im Vorteil. Am ärgsten traf es diejenigen, die man zuletzt in den Osten abschob. Wenn sie dort ausharrten, gehören sie zu den vollends Gelackmeierten. Man hat sie jetzt für das Verlorene mit einem Betrag abgespeist, der zu den im Westen gezahlten Summen fast schäbig erscheint. Andrerseits, wer den Roten dauerhaft auf ‘n Leim gekrochen ist, verdient’s vielleicht nicht anders.“
Spätestens da war ich mir sicher, nicht zu sagen, dass ich ebenfalls aus Vaskút stammte, und es verpasst hatte, Görlitz rechtzeitig zu verlassen, weil die Stadt, wo ich in Norbert, Wolf und Manfred neue Freunde gefunden hatte, mir heilsamer Ersatz für das ferne Dorf geworden war.
Der Mann, der inzwischen Kadarka trank wie ich, schien auch nicht darauf zu warten, dass ich etwas über mich äußerte. „Eigentlich“, fuhr er fort, „sind sogar die Nicht-Vertriebenen die größten Verlierer. Ich sehe mich ihnen gegenüber jedenfalls vielfach bessergestellt. Das Haus, das ich vor fünf Jahren gekauft habe, hebt sich deutlich von der Nachbarschaft ab. Es enthält Bad, Dusche, Gäste-WC und Sauna. Dazu besitze ich ein großes Grundstück. Die Hälfte ist Weingarten, so dass ich meinen eigenen Schiller keltern kann. Trotzdem hat das Ganze kein Zehntel von dem gekostet, was am Neckar hinzublättern gewesen wäre. Die Ruhe kommt gratis dazu, und die Luft ist von einer Reinheit, wie man sie nicht mehr oft findet auf unsrem geschundenen Planeten. Bloß die Sommer haben’s in sich, so dass man mittags ein paar Stunden im Schatten verdösen muss. Früher sprach man von Pusztatagen: trocken, heiß, windstill. Und wenn sich doch mal ein Lüftchen regt, schürt es, scheint mir, eher die Glut, als dass es sie mildern würde.“ Er trank das Glas aus, und ich sah in seinen Augen, dass der Alkohol zu wirken begann. „Das ist aber das Einzige, was es zu bedenken gibt“, fügte er mit schwerer Zunge hinzu. „Deshalb würde ich nicht zögern, wenn ich wirklich die Absicht hätte, Dorfbewohner zu werden. Glaub mir, Landsmann, mit einer Rente, die zwischen Alpen und Nordsee keinerlei Sprünge zulässt, lebst du hier wie Gott in Frankreich.“
Während ich ihm zuhörte, wechselten meine Gefühle, und ich wusste nicht, welche Regung am stärksten war.
Bevor der Mann bezahlte, schwerfällig aufstand und mit unsicheren Schritten ging, bot er mir an, ihn zu besuchen.
Ich sagte nicht zu und lehnte nicht ab.
Im Zimmer, wo es bereits dämmrig war, legte ich mich aufs Bett und schloss die Augen, ohne einschlafen zu können. Ich richtete mich auf und spritzte aus der Flasche, die neben dem Nachtschränkchen stand, Sodawasser in ein Glas. Sobald ich getrunken hatte, trat ich ans Fenster, weil ich von draußen ein schwaches Plätschern zu hören glaubte. Auf dem Hof, umgeben von einigen Tischen, an denen niemand saß, entdeckte ich eine hohe Fontäne, die, angestrahlt von mehreren Lampen, gelblich schimmerte. Ihr Anblick ließ mich ruhiger werden. Ich muss, dachte ich, nicht jetzt schon wissen, ob ich den Mann in seinem noblen Haus aufsuchen werde, nicht die Antwort kennen, die ich der Frau schulde. Es bleibt Zeit, alles zu bedenken.