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ÜBER SIÓFOK NACH VASKÚT

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An jenem Augusttag 1991 sind wir nur langsam über die Grenze gekommen. Bereits hinter Bratislava haben wir im Schritt fahren, wieder und wieder anhalten müssen. Erst vor Rajka wird der Verkehr flüssiger. Obwohl mir die Orte, die wir passieren, unbekannt sind, erscheinen sie mir vertraut. Erinnern sie mich an Vaskút?

Seit unsrem Entschluss, Teris freundliche Einladung anzunehmen und mein Heimatdorf aufzusuchen, habe ich oft daran gedacht, glaubte ich manchmal, seine breiten, staubigen Straßen und die farbig getünchten, von Akazien oder Maulbeerbäumen beschatteten Häuser so deutlich vor mir zu sehen, als wären wir erst vor kurzem mit unsren Bündeln im Güterwaggon abtransportiert worden.

Bei Balatonfüzfö erblicken wir zum ersten Mal den See, meinen, fast am Ziel zu sein. Aber bald danach geraten wir in einen Stau … Auch in Siófok vor, neben, hinter uns Auto an Auto. Könnte ich doch aussteigen und den letzten Kilometer zu Fuß zurücklegen, unbeschwert wie beim ersten Aufenthalt, durch die stillen, baumbestandenen Straßen gehen. Mehr und mehr begreife ich, dass es nirgendwo ruhig ist. Überall brummen, dröhnen, knattern Motoren, auch auf der Petöfi sétány, wo ich die Hotelreihe suche – und einen Parkplatz.

Die Formalitäten an der Rezeption sind rasch erledigt. Wir fahren im Lift nach oben. Unsre Zimmer sind bescheiden möbliert und wirken arg abgenutzt. Auf der Loggia atme ich tief durch. Endlich, denke ich, blicke zum zartblauen See und hoffe, dass es schön bleibt, damit in den nächsten Tagen möglich wird, was wir uns wünschen: ausruhen, Sonne und Wasser genießen, mit den Kindern baden und spielen, auf den Besuch in Vaskút einstimmen.

Nachts bricht ein Sturm los, die Bäume ächzen, Regen peitscht auf unsre Loggia, der Balaton rumort und tost gegen die Mole. Am Morgen ist es kühl und immer noch stürmisch, über den See rollen gewaltige Wellen, auf den Gehwegen kollern leere Getränkedosen, wirbeln Plakatfetzen. Nur die Platanen scheinen unversehrt. Wie lange mögen sie schon die Straßen säumen? Imre Kálmán, der Operettenfürst, für den in seinem Geburtshaus eine Gedenkstätte eingerichtet ist, hat sie mit Sicherheit schon als Kind erlebt. Mich beeindrucken sie wie beim ersten Aufenthalt, sie sind mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Natürlich erkenne ich auch Häuser, Hotels, Csárdas und Anlagen wieder, aber ich erfasse, dass sich in den verflossenen zwanzig Jahren sehr viel verändert hat.

Wir entdecken zahlreiche Biergärten, wo es Holsten, Reininghaus, Gösser, Puntigamer gibt, an jeder Ecke wirbt man für Erotikmassagen, Striptease und ein verheißungsvolles Nachtleben. Die Auswirkungen bekommen wir zu spüren: Bis in die Morgenstunden hallt laute Musik aus Bars, Klubs und Restau-rants, danach grölen die Heimkehrenden, trunken vom Glauben, durch Alkohol, aufreizende Rhythmen und heiße Verführungen den Frust eines Jahres abgestreift zu haben. Wie lange wird die trügerische Beschwingtheit anhalten?

Beim Frühstück finden wir, da wir immer zu den Ersten gehören, mühelos einen günstigen Tisch und genießen den sorglosen Tagesbeginn. Abends wird es schwieriger. Aber wenn wir erst mal sitzen, unsre Blicke über den weiten, glänzenden See schweifen lassen, dem Keyboardspieler zuhören, der unverdrossen Operettenlieder singt, obwohl nie jemand applaudiert, die perfekte Geschäftigkeit der Kellner erleben, eine Alte beobachten, die trotz mäßiger Erfolge beharrlich ihre Rosen feilbietet, empfinden wir eine Geborgenheit, die draußen fehlt.

Fast immer ist der Gang über die Promenade ein Schlängeln durchs Gewimmel. Wer angerempelt wird, tastet unwillkürlich nach seiner Brieftasche. Es herrscht ein Treiben, das nicht nur viel verheißt, sondern auch manches befürchten lässt. Gigolos halten lauernd Ausschau, Mädchen locken mit kurzen Röcken und engen, langschäftigen Stiefeln, agile Männer bieten unauffällig Geldtausch zum Schwarzmarktkurs, zwielichtige Gestalten schlendern scheinbar gleichgültig vorbei, und mehrmals begegnen wir einer jungen Stadtstreicherin, die Passanten um Geld für Palinka anbettelt. Ist Schnaps schon das allerletzte Trostmittel für sie? Helfen wird er ihr nur kurze Zeit, vielleicht aber das Einschlafen erleichtern, wenn sie sich irgendwo in ihre schäbige Decke wickelt, die sie, zweifach gefaltet, wie ein Zunftzeichen auf der rechten Schulter trägt.

Kioske, Verkaufsstände und Cafés lenken uns ab. Vieles, was angeboten wird, erscheint uns billig: Hamburger, Hotdog, gebratener Fisch, Palacsinta, Obst. Vor allem aber Eis. Zehn Forint die Kugel, nicht mal fünfundzwanzig Pfennige. Unsre Kinder erkennen die Gelegenheit und nutzen sie ausgiebig.

Am dritten Tag ändert sich das Wetter. Es wird nahezu windstill, die Sonne glüht am wolkenlosen Himmel, und der See glitzert silbrig. Wir verbringen viel Zeit am Strand. Nach und nach flanieren wir durch alle Stadtteile, bestaunen den imposanten Wasserturm, verweilen am Hafen und vor dem Rathaus, schlendern durch die Markthalle. Knoblauch, Honigmelonen und Reisigbesen lassen mich wieder an Vaskút denken. Ich spüre, dass ich der Begegnung entgegenfiebere.

Durstig geworden, kehren wir ein. Die Bedienung ist freundlich, doch wir haben den Eindruck, sie berechnet uns zu viel. Schon im Hotelrestaurant ist uns aufgefallen, dass wir für die gleichen Getränke ständig andre Preise bezahlen. So lange die Differenzen gering bleiben, tolerieren wir sie. Erst am letzten Tag greife ich ein. Nach einem Essen, das unsre Erwartungen nicht erfüllt hat, kritzelt der Kellner emsig Ziffern aufs Papier. Wie gewohnt, erscheint uns die Summe zu hoch. Ich habe nur einen Fünftausend-Forint-Schein. Der Kellner fuschelt das Wechselgeld aus seiner Brieftasche, wirft die Banknotenknäuel lässig auf den Tisch. Sein Gebaren und das rasche Entfernen lassen mich misstrauisch werden. Beim Nachzählen erhalte ich Gewissheit: Es fehlen tausend Forint! Der zurückgerufene Kellner lächelt treuherzig, entschuldigt sich wortreich und gibt mir bereitwillig das fehlende Geld. Ich habe den Eindruck, es betrübt ihn kein bisschen, erwischt worden zu sein.

Die Platanen mildern meine Verstimmung. Erneut bewundere ich ihre urwüchsige Robustheit. Abends kann ich nicht einschlafen. Liegt es am Straßenlärm? Oder bin ich unruhig, weil wir morgen nach Vaskút fahren werden? Ich sehe den Ort überdeutlich, und ich versuche, mir Teri vorzustellen. An jenem verhängnisvollen Nachmittag war sie noch ein Kleinkind und später, bei unsrer letzten Begegnung, ein junges Mädchen. Inzwischen hat sie längst Familie. Géza, ihren Mann, und Marika, die Tochter, kenne ich nur von Fotos. Siebenundzwanzig Jahre sind fast eine Ewigkeit.

Nach dem Frühstück brechen wir auf. Sobald die Stadt hinter uns liegt, können wir beinahe ungehindert fahren. Bis Szekszárd bleibt die Landschaft bergig, bei Bátaszek ist sie hüglig, und vor Baja wird sie eben. Wir passieren die Donau über eine Brücke, wenden uns südwärts.

Noch acht Kilometer, sehe ich auf dem Ortsausgangs-Schild, bis Vaskút!

Die Landstraße führt schnurgerade ins Dorf. Ich merke, wie mir das Herz klopft. Was ich sehe, erscheint mir vertraut. Gleichzeitig empfinde ich, dass es eine Veränderung gibt. Doch ich erfasse nicht, worin sie besteht.

Vor dem Gemeindeamt biege ich rechts ab. Da ist die Post, dort die Apotheke, und auf der anderen Seite hat mein erster Lehrer gewohnt. Wie oft bin ich als Kind hier entlanggegangen? Die Erinnerung wird übermächtig. Muss ich mich an der nächsten Kreuzung nach links wenden? Das Auto rollt im Schritttempo, mein Blick tastet über die Fassaden. Doch sie wirken fremd, es ist die falsche Straße. Erst an der nächsten Ecke das ersehnte Schild: Gróf-Szécheniutca.

Nur flüchtig registriere ich, dass der einst staubige, von schweren Wagenrädern zerfurchte Fahrweg asphaltiert ist. Meine Spannung wächst, dringt bis in die Fingerspitzen. Da ist das Haus. Beim Aussteigen begreife ich, was sich noch verändert hat: Die Akazien, die früher alle Gehwege gesäumt haben, sind gefällt. Ihren Platz nehmen Obstbäume ein. Ehe ich weiß, wie ich mich verhalten soll, betritt eine ältere Frau die Straße. Nach einem Blick auf unser Auto, redet sie mich deutsch an. Sie spricht, wie meine Großmutter bis zu ihrem Tod gesprochen hat. Sobald sie weiß, wer ich bin, eilt sie in das Gehöft zurück, kommt wieder und bittet uns hinein. Sie sei eine Nachbarin, sagt sie, und wolle beim Verständigen helfen.

Der Hof, das Haus, sehe ich, sind kleiner als in meiner Vorstellung. Trügt auch das andere?

Der Gendarm war unerwartet gekommen. Meine Eltern fühlten sich schuldlos, sie hatten sich loyal verhalten, nicht dem „Volksbund“ angehört, pünktlich Steuern gezahlt, bis zuletzt in der Stellmacher-Werkstatt und auf dem Feld gearbeitet. Warum sollten gerade wir fort? Der Uniformierte konnte uns keine Auskunft geben. Es interessierte ihn auch nicht. Er hatte einen Befehl: Eine Stunde Zeit zum Packen, dann würde ein LKW vorfahren und uns zur Bahn bringen.

Wir bündelten fieberhaft und kopflos, was uns in die Hände geriet. Die ganze Tragweite würden wir wesentlich später erfassen. Noch nicht auf der langen Güterzugfahrt durch die Tschechoslowakei, auch nicht im Pirnaer Auffanglager. Erst in Görlitz, wo wir zu viert ein möbelloses Zimmer beziehen durften und monatelang auf Stroh schliefen, begriffen wir, dass kein Wunder mehr geschah, die Vertreibung endgültig war, wir uns in dem neuen Umfeld behaupten mussten.

Für mich hieß es Schule. In die vierte Klasse versetzt, obwohl ich drei Jahre nur ungarisch gelernt hatte, bereitete es mir größte Mühe, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen. Die ersten Diktate waren voller Fehler, durch die ich mich schuldlos gedemütigt fühlte. Fleiß und Ehrgeiz halfen mir, die Rückstände aufzuholen, aber das erlittene Trauma blieb, am stärksten bei Großmutter und meinen Eltern, die das Entwurzeln bis zuletzt nicht verwanden.

Sie haben öfter als ich an Vaskút und unser Haus gedacht, das sie bauten, als ich ein Jahr alt war. Es wurde gerade noch fertig, ehe der Zweite Weltkrieg begann. Vorher hatte eine reetgedeckte Kate dort gestanden, errichtet von meinen Vorfahren, die um 1750 aus dem südlichen Schwarzwald Maria Theresias Ruf gefolgt waren. Das Dorf dehnte sich rasch aus, nahm als Schachbrett-Siedlung städtischen Charakter an, hatte, als wir vertrieben wurden, fast 5000 Einwohner. Über 85 Prozent waren Deutsche. Wie groß mag ihr Anteil jetzt noch sein?

Zögernd betrete ich die seitlich angebaute Küche, wo ich mir an bitterkalten Wintertagen die Hände überm Sparherd gewärmt habe. Ein altes Ehepaar begrüßt uns. Es geschieht freundlich, aber mir scheint, dass beide verunsichert sind. Fürchten sie, dass unser Auftauchen Konsequenzen für sie haben könnte? Falls es so ist, sorgen sie sich grundlos. Die ungarische Regierung hat zwar erklärt, dass unsere Vertreibung Unrecht war. Doch dabei wird es bleiben. Man hofft aufs Vergessen, die eliminierende Wirkung der Zeit. Sie tilgt viel, aber wohl nie alles.

Was in mir geschwelt hat, flackert auf. Muss ich mir nicht doppelt betrogen vorkommen? Wären wir ein Jahr vorher nach Bayern oder Hessen ausgesiedelt worden, hätten meine Eltern einen Lastenausgleich erhalten. In Görlitz durfte man kaum über seine Herkunft reden, wollte man nicht in den Verdacht geraten, ein Revanchist zu sein. Das staut Gefühle, nährt die Bitterkeit. Mein Groll richtet sich nicht gegen den alten Mann und seine Frau, die uns Kuchen anbietet. Letztlich sind sie Opfer wie ich. Durch die Benesch-Dekrete aus der Slowakei vertrieben, hatten sie allerdings mehr Glück als wir. Statt eines leeren Zimmers bekamen sie ein komplett ausgestattetes Haus. Doch mindert das ihre Redlichkeit? Sie hatten auf dem Anwesen getan, was ihnen möglich war. Nötig wäre mehr gewesen.

Die auffälligste Veränderung ist, dass es eine Wasserleitung gibt. Wo sich der Ziehbrunnen befand, wachsen jetzt Rosen. Am Tag, als der Gendarm erschien, schwamm eine Melone zum Kühlen darin. Später habe ich mich oft daran erinnert, wehmütig wie an die Weintrauben, Aprikosen, Maulbeeren und Pfirsiche, als ich auf den Feldern im Umkreis der Landeskrone mit Großmutter Ähren las oder Kartoffeln stoppelte, eine dünne Schicht Kunsthonig auf den Vesperbroten und Igelitschuhe an den Füßen.

Dass wir durch die Vertreibung unerwartet verarmt waren, belastete mich in der Rückschau weniger als die Tatsache, wie wir von den alteingesessenen Bewohnern behandelt wurden. Sie mochten uns aus mehreren Gründen nicht, vor allem jedoch, meine ich, weil sie fürchteten, dass man in ihre aus staatlicher Sicht zu großen Wohnungen lästige Untermieter einquartieren könnte, und von den ohnehin rationierten Lebensmitteln, die es auf Marken gab, sie durch die wachsende Zahl der Aufgenommenen noch weniger zugeteilt bekämen. Wir spürten ihre Abneigung, wenn sie uns im Vorbeigehen verächtlich musterten, hinterm Rücken über uns lästerten, und wir manchmal hörten, dass sie uns als Zigeuner beschimpften.

Auch in der Schule wurde ich bei jeder Gelegenheit, die sich ergab, von vielen Mitschülern gnadenlos angefeindet, so dass ich mir, wenn ich besonders arg gemobbt worden war, wiederholt wünschte, dass sich die schlimmen Erlebnisse aus meinem Bewusstsein löschen ließen. Doch inzwischen weiß ich längst, dass es unmöglich ist. Die Erinnerung hat sich fest in meinem Gedächtnis eingenistet, und ich wähne mich gefangen in ihrem Bannkreis, dem ich nicht dauerhaft zu entrinnen vermag.

Bevor wir uns von dem alten Ehepaar verabschieden, vereinbaren wir, noch einmal vorbeizukommen. Unterwegs zu unsrem Auto fühle ich eine leichte Benommenheit, die erst weicht, als ich Teri entdecke. Sie winkt von ihrem Fenster und eilt uns freudig entgegen. Ihre Haare sind an den Schläfen schon ergraut, aber die braunen Augen leuchten wie früher. Auch von Marika und Géza fühlen wir uns angenommen. Ein wenig schwierig wird die Verständigung. Was sie deutsch können und ich noch ungarisch weiß, reicht nicht aus. Gesten und Wörterbücher müssen helfen. Sie mindern nur den Fluss unsrer Gespräche, nicht ihre Intensität.

Wir bewundern ihr Haus, das vor zehn Jahren erbaut worden ist. Teri und Géza sind stolz darauf, auch auf das Gewächshaus, in dem hunderte Paprikaschoten reifen, und auf die zwei Autos, die in der Garage stehen. Mir bleibt unklar, woher ihr Wohlstand stammt. Teri ist Sachbearbeiterin im Gemeindeamt und bekommt kaum über zehntausend Forint im Monat. Verdient Géza so viel mehr? Er baut mit seinem Freund auf einem riesigen Pachtfeld in der Nähe des sechs Kilometer entfernten Bátmonostor Melonen an. Ihre Tätigkeit ist schwer und voller Risiken. Es genügt nicht, dem Boden hohe Erträge abzuringen, sie müssen auch verkauft werden. Im Sommer verbringt Géza mehr Zeit dort als zu Hause. Jeden Tag und jede zweite Nacht ist er draußen. Wenn man davon lebt, kann man keine Diebstähle zulassen.

Auf den ersten Blick vermittelt sein Wohnwagen Romantik, beim zweiten überwiegt die Behelfsmäßigkeit. Die beiden Männer ernähren sich vor allem von Früchten und Fischen, die sie in einem nahen Nebenarm der Donau fangen. Es würde mich reizen, einige Wochen mit Géza zu tauschen, vielleicht auch einen Sommer, aber nicht länger.

Die Frage, ob überhaupt ein Leben für mich hier in Frage käme, stelle ich mir in den nächsten Tagen noch öfter, wenngleich wenig Zeit zum Nachdenken bleibt, da Teri für ein reichliches Programm sorgt. Wir fahren nach Baja, besichtigen das reizvolle Erholungsgebiet an der Sugovica, besuchen Gara, Nagybaracska und sein neues Thermalbad, auch das südlicher gelegene Dávod, wo wir Teris älteren Bruder Máto treffen, mit dem mich Kindheitserinnerungen verbinden. Auch er bewohnt mit seiner Familie ein Haus, ist Lehrer und betreut die Handballmannschaft des Ortes. Auf der Rückfahrt besuchen wir die Schule. Máto hat ein Biologie-Kabinett eingerichtet, das ich beeindruckend finde. Er geht auf in seiner Tätigkeit, klagt nicht über die verhältnismäßig geringe Vergütung, weiß zu schätzen, dass er nur zwanzig Wochenstunden halten muss, die Schülerferien schon immer den Lehrerferien entsprochen haben.

Ich empfinde, dass es mich ausfüllen könnte, an einer solchen Schule zu unterrichten. Als ich aber wieder durch Vaskút gehe, bin ich unsicher, ob ich hier leben möchte, wenngleich uns die Ruhe nach dem Siófoker Trubel sehr gefällt, und meine Erregung einer unerwarteten Gelöstheit gewichen ist, die es mir ermöglicht, das Umfeld ohne Groll zu sehen. Doch lässt man sich als Besucher nicht allzu schnell täuschen? Gewiss wäre ohne die Vertreibung vieles leichter für mich verlaufen. Es hätte mir jenes schlimme Trauma erspart, meine verstorbenen Angehörigen wären auf dem hiesigen Friedhof bestattet wie Teris Eltern und Großeltern, und möglicherweise würde ich so wohnen wie János, ein Verwandter, der durch besondere Umstände in Vaskút bleiben durfte.

Er hat vor fünfzehn Jahren auf der Hauptstraße gebaut, ein gewaltiges Haus, das uns in Erstaunen versetzt. Um es finanzieren zu können, hat er hart gearbeitet, jede Möglichkeit ausgenutzt, auf Urlaub und Freizeit verzichtet. Nein, einfach ist es auch für ihn nicht gewesen. In den Sechzigerjahren musste er ihr altes Haus zurückkaufen, das ihm, wie den übrigen Deutschen aberkannt worden war. Darum ist er wohl noch stolzer als Teri und Géza auf das Erreichte. Aber mir scheint, dass bei ihm nur das Materielle zählt, es Ersatz leistet für alles, was in seinem Leben zu kurz gekommen ist.

Vielleicht hätte ich an seiner Stelle auch bloß die Äcker, den Garten, das Haus und die Tiere gesehen. Er führt uns seinen Eber vor, vierhundert Kilo schwer, ein Prachtexemplar, wie es im Buche steht, lässt uns von den zuckersüßen Weintrauben kosten, die auf dem Hof reifen, zeigt uns die in Flaschen hineingewachsenen Birnen am Baum. Später will er Branntwein auffüllen, und es wird ein ungewöhnlich aromatisches Getränk entstehen, das er seinen Feriengästen im hundert Kilometer entfernten Kurort Harkány anbieten kann. Als er fürchtete, durch die rasche Geldentwertung seine Ersparnisse zu verlieren, kaufte er die Eigentumswohnung, um sie an deutsche Urlauber zu vermieten. Aber die Nachfrage ist nicht so groß wie erhofft. Trotzdem hat er wohl richtig gehandelt. Läge sein Geld auf einer Bank, würde er Monat um Monat ärmer. Die Inflationsrate liegt zehn Prozent über den Zinsen.

Auch vieles andere erscheint ungewiss. So weiß niemand, wie sich die Reprivatisierung des Bodens und der weitere gesellschaftliche Wandel auswirken werden. Das bremst selbst János, beeinträchtigt seine Motivation. Was hat es für einen Sinn, weiter Schweine so mästen, wenn zu befürchten ist, dass sie sich nicht verkaufen lassen? Für den eigenen Bedarf ist bereits der Eber zu viel.

Mein Empfinden wird durch das Erfahrene noch zwiespältiger.

Am Abend vor unsrer Abreise, als wir mit Teri und Géza zusammensitzen, spüre ich, wie schwer mir der Abschied fällt. Doch auf die Frage, wo mein Leben besser verlaufen wäre, finde ich keine Antwort.

Gibt es überhaupt eine?


Im Bannkreis er Erinnerung

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