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LERNIRRTÜMER AUSRÄUMEN

Drei Dinge sitzen in Bezug auf Kinder, Schule und das Lernen in den Köpfen vieler Eltern und Pädagogen fest:

 Eltern müssen ihre Kinder »optimal« fördern,

 Sich anstrengen hilft beim Lernen und

 Übung macht den Meister.

Was die wenigsten wissen: Alle drei widersprechen nicht nur meiner langjährigen Erfahrung, sondern auch dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Und sie können erfolgreiches Lernen sogar behindern.

1. Irrtum: Eltern müssen ihre Kinder optimal fördern

Kindergarten und Schule genügen heute scheinbar nicht mehr. Immer öfter werden Kinder noch zusätzlich gefördert – und das gilt nicht nur bei Eltern aus der sogenannten Bildungsschicht. Es gibt schon für die Kleinsten alles – von Aikido bis zum Zumba-Kurs. Genauso groß ist das Angebot an Förderkursen und Nachhilfe. Dazu erklären jede Menge Elternratgeber, wie Kinder »optimal« gefördert werden. Experten wie der Kinderarzt und Bestsellerautor Remo Largo sprechen schon von einer regelrechten »Förderwut«, der Hirnforscher und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung Dr. Gerald Hüther nannte in einem Stern-Interview den Förderboom eine »gigantische Hysterie«. Brauchen also auch Eltern manchmal Grenzen, so wie es der Autor Uli Haus in seinem Buch »Eltern brauchen Grenzen – lasst die Kinder Kinder sein« schreibt? Er plädiert dafür, dass Mütter und Väter vor allem auf die Signale ihrer Kinder achten sollten, um deren Bedürfnis nach Geborgenheit, Liebe und Zuwendung respektvoll und verlässlich zu erfüllen. Diese Fähigkeit aber kann man sich nicht eben mal so anlesen.

Die großen Pädagogen, egal ob Rousseau, Pestalozzi, Korczak, Montessori oder Steiner sind sich darin einig, dass Kinder vollständige Persönlichkeiten sind, denen man besser in Ehrfurcht begegnen sollte, als sie als unfertige Wesen zu betrachten. Und tatsächlich kommen viele Probleme daher, dass wir in die natürliche Entwicklung eingreifen, statt darauf zu vertrauen, dass ein Kind sich wie ein Samenkorn in erster Linie von selbst entwickelt.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist gut, wenn Eltern und Pädagogen sich Gedanken machen und Kinder und Jugendliche verantwortungsbewusst erziehen. Es ist sehr gut, wenn sie übliche Erziehungsmethoden und Gewohnheiten kritisch hinterfragen. Und es ist hervorragend, wenn sie ihr eigenes Verhalten dem Kind gegenüber reflektieren. Einzelne der oben genannten Zusatzförderungen können durchaus sinnvoll sein – aber eben zum Wohle des Kindes und nicht, um eigene Ziele zu verfolgen. Gras wächst nicht schneller, wann man daran zieht. Beim Thema »optimal fördern« gilt manchmal der Grundsatz: Weniger ist mehr.

Das können Eltern tun

 Begrenzen Sie Kurse und Aktivitäten, sodass Ihr Kind noch genug Zeit zum Spielen und Träumen hat.

 Wählen Sie Aktivitäten aus, die ihm Spaß machen, und lassen Sie Ihr Kind an der Auswahl teilhaben.

 Machen Sie sich bei jungen Kindern weniger Gedanken darüber, welche Aktivitäten oder Fördermaßnahmen die schulischen Leistungen verbessern, sondern was die persönliche und körperliche Entwicklung Ihres Kindes fördert.

 Reflektieren Sie, ob Ihnen wirklich das Wohl Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes am Herzen liegt oder ob es nicht vielleicht mehr um Ihren eigenen Ehrgeiz geht und es für Sie und Ihr Selbstbild wichtig ist, ein erfolgreiches Kind zu haben.

2. Irrtum: Sich anstrengen hilft beim Lernen

Dies ist vermutlich der am weitesten verbreitete Irrglaube. Nehmen wir einmal das Lesen: Wenn mir Kinder oder auch Erwachsene mit Leseproblemen etwas vorlesen, stelle ich bei circa 80 Prozent von ihnen fest, dass sie sich anstrengen. Wenn ich sie dann nach ein paar Sätzen unterbreche und sage: »Bitte strenge dich nicht mehr an«, lesen die meisten sofort besser. Diejenigen, die nicht gleich besser lesen, schaffen es in der Regel gar nicht, sich so schnell zu entspannen. Es gelingt ihnen erst nach dem Einüben einer Entspannungstechnik, den Stress und die Anspannung herunterzufahren. Dann aber lesen auch sie besser.

Wieso aber strengen wir uns fast alle so sehr an, wenn es doch (oft) gar nichts bringt? Es gibt natürlich viele Situationen, bei denen es sinnvoll ist, sich anzustrengen und vermehrt Kraft aufzubringen. Beim Fahrrad fahren beispielsweise macht es Sinn, kräftig in die Pedale zu treten, wenn eine Steigung kommt. Genauso kommt es in Extremsituationen dazu, dass wir angreifen oder fliehen müssen – auch wenn wir dies zum Glück heutzutage nicht mehr so häufig erleben wie die Menschen in den vergangenen Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, die bei der Jagd immer wieder Gefahren ausgesetzt waren. Hier ist es natürlich sinnvoll und manchmal sogar überlebenswichtig, dass man sich anstrengt. Unser Körper schüttet daher in solchen Situationen bestimmte Hormone aus, um alle Kraft in den Körper und vor allem in die Muskulatur zu lenken, während gleichzeitig die Fähigkeit zu denken und das Einfühlungsvermögen zurückgehen. Wenn wir uns in unseren Feind oder in ein angreifendes Tier einfühlen würden, würde das die Hemmung, sich zu verteidigen oder anzugreifen, steigern. Das heißt konkret: Wenn wir uns zu sehr anstrengen und gestresst oder voller Angst sind, gelingt Lernen schlechter. Im Extremfall kommt es sogar zu einem Blackout, sodass vorhandenes Wissen nicht mehr abgerufen werden kann und man nur noch »schwarz« sieht.

Dies gilt allerdings nicht für alle Kinder. Es gibt auch Kinder, die zu entspannt sind und sich tatsächlich ein bisschen anstrengen sollten. Fats alle dieser Kinder haben so gut wie noch nie Situationen erlebt, in denen sie sich anstrengen oder eine Frustrationstoleranz aufbringen mussten. Lernen gelingt am besten bei einem mittleren Level. Probieren Sie es aus! In der Lerntherapie kann dieses individuelle Level herausgefunden werden.

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WIE VIEL SOLL MAN ÜBEN?

Wissenschaftler haben herausgefunden, wie oft beim Üben wiederholt werden soll. Hier eine vereinfachte Formel:

Vokabeln oder Lernwörter sollten nach 10 Minuten, nach einem Tag und nach einer Woche wiederholt werden, dann sind sie auch noch in einem Monat (bitte testen) und länger im Gedächtnis.

3. Irrtum: Übung macht den Meister

Üben ist nur ein Teilbereich des Lernens, manchmal lernen wir auch ohne es. Atmen zum Beispiel, schlucken oder auch küssen gelingt in der Regel ohne Übung. Vermutlich können auch Sie sich an eindrückliche Erlebnisse ohne wiederholendes Üben erinnern.

Für viele Lernprozesse ist Üben jedoch überaus sinnvoll oder sogar erforderlich. Daher ist es durchaus ein wichtiger Teil des Lernens und des Lebens. Wir haben auch alle schon sehr viel, sehr motiviert und ganz mühelos geübt – zumindest in der Kindheit, als wir unsere Muttersprache und unzählige motorische Bewegungsabläufe erlernt haben, wie zum Beispiel das Hüpfen oder Balancieren.

In der Schule ist Üben jedoch leider eher negativ besetzt. Das kann daran liegen, dass alle das Gleiche üben und die gleichen Hausaufgaben machen müssen. Denjenigem, dem diese Aufgabe zu leicht ist, nerven die Wiederholungen. Dem anderen dagegen sind die Hausaufgaben zu schwer, und es mangelt deshalb an Motivation und Begeisterung. Genauso verschwindet die Motivation, wenn Lernen im Sinne der Schwarzen Pädagogik des 19. Jahrhunderts erfolgt und Disziplin durch Drill, Strafen und mechanisches, stumpfes Auswendiglernen erzwungen wird.

Nichtsdestotrotz wird seit Ende des letzten Jahrhunderts wieder mehr geübt – zum einen weil die Erfahrung zeigt, dass viele Schüler ein gewisses Maß an Wiederholung benötigen, damit der Lernstoff oder eine lesbare Handschrift ins Langzeitgedächtnis gelangen beziehungsweise automatisiert werden, zum anderen weil Neurowissenschaftler die Wichtigkeit von Übung begründen können.

Was tun, wenn Üben nichts bringt?

Leider erleben viele Kinder (und ihre Eltern) immer wieder, dass Üben nichts bringt. Bei manchen ist es wie mit dem Würfeln: Einmal haben sie die Nachschrift gründlich geübt und schreiben eine Fünf, ein andermal haben sie kaum geübt und bekommen eine Drei. Manche machen auch die Erfahrung, dass sie zwar viel und regelmäßig üben, aber trotzdem nur kleine Fortschritte machen. Andere wiederum machen vielleicht erst einmal größere Fortschritte, aber wenn die Vokabeln oder Lernwörter nach ein, zwei Wochen nochmals abgefragt werden, ist alles wieder weg. Wenn Sie beziehungsweise Ihr Kind auch solche Erfahrungen gemacht haben, sollten Sie ehrlich sein und zur Kenntnis nehmen, dass diese Form des Lernens für Sie/Ihr Kind eine Sackgasse bedeutet. Um weiterzukommen müssen die Stolpersine, die im Weg liegen, beiseite geräumt werden – von Ihnen oder von Fachleuten. Dazu sollen auch die Kapitel zu den einzelnen Lernstörungen ab > beitragen, in denen Sie diagnostisches Wissen zu den verschiedenen Ursachen von Lernstörungen ebenso finden wie zahlreiche Tipps, wer Ihnen und Ihrem Kind weiterhelfen kann.

Es geht mir in diesen Kapiteln übrigens nicht darum, den einen Irrglauben durch einen anderen zu ersetzen. Vielmehr ist mein Anliegen, die beschriebenen Meinungen oder Annahmen zu hinterfragen und den Leser für neue, eigene Erfahrungen zu öffnen. Prüfen Sie daher gerne, was ich beschrieben habe. Es gibt leider keine allgemeingültigen Regeln. Jeder Mensch und jedes Kind ist anders!

FALL: LAURA, GYMNASIASTIN, 5. KLASSE

Laura hatte eine schnelle Auffassungsgabe und war mündlich herausragend. Sie strengte sich aber vor allem beim Lesen und Schreiben sehr an. In Klassenarbeiten fehlte ihr oft die Zeit. Eltern und Lehrer sahen, wie schlau sie war, und es war tatsächlich schwer einzusehen, warum sie so langsam schrieb und warum es ihr nicht gelang, ihr Wissen in Klassenarbeiten zu Papier zu bringen. Daher hörte Laura oft: »Das kannst du doch.« oder »Streng dich an, dann schaffst du es.« Dadurch wurde sie nervös, was zu Konzentrationsproblemen führte. Nun hörte das arme Mädchen: »Jetzt konzentriere dich doch.« Weil ihr aber niemand erklärte, wie man das macht, strengte sie sich noch mehr an. Die Folge: noch mehr Konzentrationsprobleme und Kopfweh. Hier genügte es nicht mehr zu sagen: »Bitte streng dich nicht mehr an.« Daher brachte ich Laura eine Entspannungstechnik bei, die Meridian-Klopftechnik (siehe > f.) und führte ein Elterngespräch. Dazu empfahl ich eine Legasthenie-Diagnostik. Als Laura die gelernten Techniken anwandte, besserten sich die Lese- und Schreibfähigkeiten bald. Dass sich später herausstellte, dass sie Legasthenikerin war, entlastete die Situation zusätzlich.

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