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DIE KINDLICHE ENTWICKLUNG

Ist die Traubensorte Rivaner besser als Spätburgunder oder Riesling, weil die Weintraube früher reif ist? Natürlich nicht! Späte Ernte steht im Gegenteil oft für süßere Trauben und einen hochwertigeren Wein. Für unsere Kinder dagegen scheint zu gelten: Je früher sie sprechen, laufen oder lesen können, desto besser. Darum gibt es immer mehr Frühfördermaßnahmen für immer jüngere Kinder. Aber so, wie das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht, entwickeln sich auch Kinder nicht besser, wenn man sie übertrieben fördert.

Bemerkenswert ist, dass gleichzeitig die Anzahl an Kindern, die eine Entwicklungsverzögerung oder gar eine Entwicklungsstörung haben, ansteigt. Aktuelle Zahlen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) von 2018 zeigen, dass in Baden-Württemberg rund jedes dritte Kind zwischen fünf und sieben Jahren Auffälligkeiten in der motorischen, sprachlichen oder kognitiven Entwicklung aufweist – das macht ein Plus von 28 Prozent in nur zehn Jahren. Kinder entwickeln sich also nicht besonders gut, indem die Entwicklung möglichst schnell, sondern indem sie altersentsprechend verläuft.

Die seelische Reife

Von einer Entwicklungsverzögerung können folgende Bereiche betroffen sein:

 die Bewegung und Koordination (Motorik),

 die Sinneswahrnehmung, insbesondere die visuelle und akustische Wahrnehmung (Sensorik) und

 die seelische Entwicklung.

Auf die Sensorik und Motorik gehe ich in den Kapiteln über die einzelnen Lernprobleme noch gezielt ein, hier steht daher zunächst einmal die seelische Reife im Fokus.

In den letzten 10 bis 15 Jahren hat die Anzahl von Kindern, Jugendlichen und teils auch jungen Erwachsenen mit seelischer Unreife – also Heranwachsende, die seelisch nicht ihrem biologischen Alter entsprechen – stark zugenommen. So eine seelische Unreife kann durch einen ungünstigen nicht altersentsprechenden Erziehungsstil und durch übermäßigen Medienkonsum entstehen, vor allem auch den der Eltern. Letzteres sieht der bekannte Kinderpsychiater und Buchautor Michael Winterhoff sogar als Hauptursache für seelische Unreife an.

Die frühkindliche Entwicklung und die seelische Reife sind jedoch eine enorm wichtige Grundlage fürs Lernen. Denn dabei entwickeln sich fundamentale Kompetenzen, wie zum Beispiel Ausdauer, Handlungs- und Aufmerksamkeitssteuerung, Selbstkontrolle, Konzentrationsfähigkeit und Kreativität.

Seelische Reife und Resilienz, also die Kunst, trotz schwieriger Umstände Krisen gut zu bewältigen und daraus wertvolle Erfahrungen zu sammeln (kurzum: Widerstandsfähigkeit), sind darüber hinaus entscheidende Fähigkeiten, um in der heutigen Zeit und vor allem in der Zukunft mit all den Herausforderungen und Unwägbarkeiten zurechtzukommen.

Resiliente Kinder und Jugendliche haben eine gute psychische Widerstandskraft und verfügen über starke persönliche und soziale Ressourcen, auf die sie bei Bedarf zurückgreifen können. Seelische Reife ist eine wichtige Voraussetzung für Resilienz.

Fundamentale Kompetenzen fördern

Können wir fundamentale Kompetenzen aus der Kindheit, wie seelische Reife, Selbstkontrolle, Aufmerksamkeit und Kreativität überhaupt ausbilden und fördern? Kaum! Unsere Einflussmöglichkeiten darauf sind gering. Doch dies ist auch gar nicht nötig. Vieles in der Entwicklung des Kindes geschieht von selbst, wenn wir es nur zulassen und die Rahmenbedingungen stimmen.

Check

WIE STEHT ES UM DIE SEELISCHE REIFE IHRES KINDES?

Um festzustellen, ob dieses Thema bei Ihrem Kind von Bedeutung ist, beantworten Sie bitte folgende Fragen:

0 = stimmt nicht, 1 = stimmt selten,

2 = stimmt teilweise/manchmal, 3 = stimmt ganz/immer

 1. Kann sich Ihr Kind längere Zeit auf eine Sache konzentrieren?

 2. Kann es sich in einer Gruppe einfügen und Regeln meistens akzeptieren?

 3. Kann es eigene Bedürfnisse zurückstellen und Kompromisse schließen?

 4. Kann es sich im vertrauten Umfeld leicht von seinen Eltern lösen?

 5. Kann es kleinere Enttäuschungen ohne Ihren Trost ertragen?

 6. Übernachtet es ohne Sie bei Freunden oder Verwandten?

AUSWERTUNG:

 Bei 12 bis 18 Punkten gilt: Wenn die meisten Fragen bejaht werden können, darf man davon ausgehen, dass das Kind seelisch gut entwickelt ist und eine stabile seelische Reife vorliegt. Die Lernprobleme haben dann andere Ursachen. Bei sechsjährigen Kindern sind diese Fähigkeiten oft noch nicht umfänglich entwickelt. Dies kann völlig in Ordnung sein, wie der eingangs erwähnte Vergleich mit den Weintrauben zeigt (siehe >). Im Zweifelsfall sollten Sie eine Expertin oder einen Experten um Unterstützung bitten.

 Lag das Ergebnis bei 0 bis 6 Punkten, ist vor allem bei älteren Kindern die seelische Reife nicht genug entwickelt. Möglicherweise liegt eine Entwicklungsverzögerung vor, die die Lern- und Konzentrationsprobleme erklärt. In diesem Fall sollten erzieherische, eventuell auch therapeutische Maßnahmen durchgeführt werden.

 Bei 7 bis 11 Punkten ist die Auswertung nicht eindeutig. Wenn der Leidensdruck Ihres Kindes groß ist, würde ich professionelle Hilfe zurate ziehen. Ist das Kind erst fünf oder gerade erst sechs Jahre alt, sollte untersucht werden, ob es wirklich schon schulreif ist oder ob es nicht lieber erst ein Jahr später eingeschult werden sollte.

Fundamentalkompetenzen können dem Kind von Erwachsenen nicht in didaktischer Absicht vermittelt werden – so schreibt es Dr. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt, Wissenschaftler und Bestsellerautor in seinem Buch »Die Kindheit ist unantastbar«. Wir können ein Kind nicht belehren, wie es innerlich stark wird. Genauso wenig wie wir ihm Mitgefühl und Kreativität beibringen können.

Seelische Reife und Selbstständigkeit (Autonomie) entsteht auch nicht durch den Entzug von Nähe, nicht durch Forderungen und Zwang. Ganz im Gegenteil! Autonomie entsteht, indem Kinder sichere Beziehungen nutzen, um mit Freude und Begeisterung die Welt zu entdecken. Bindung macht frei. Wurzeln lassen Flügel wachsen.

Wie kann man Kinder und Jugendliche fördern?

 Kinder ahmen ihre Eltern, größere Geschwister und andere Vorbilder nach, deshalb ist es vor allem wichtig, ihnen ein gutes Vorbild zu sein. Das ist besonders wichtig bis zur Mitte der Grundschulzeit. Sie müssen deswegen nicht den perfekten Erwachsenen vortäuschen, bei Kindern zählt ohnehin mehr das Sein als der Schein. Zum Vorbild-Sein gehört auch Ehrlichkeit und Authentizität.

 Geben Sie vor allem kleinen Kindern genug seelische Wärme und Geborgenheit, damit sich Urvertrauen und Mut entwickeln kann. Und geben Sie älteren Kindern genug Freiraum und Freiheit, damit sie eigene Erfahrungen sammeln können und Grenzen erleben, damit sich Frustrationstoleranz entwickeln kann.

 Kinder sollten, soweit dies möglich ist, »artgerecht« aufwachsen: mit genug Natur, Möglichkeiten zum Klettern, Spielen, Kreativ- und Fantasievoll-Sein, mit Freunden, Nachbarn und Verwandten, natürlichen Grenzen, gesunder Nahrung und vielem mehr.

Jedes Kind kann Schule

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