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Die Insel außer Rand und Band

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Raito hebt seine Ollopa2 an sein Auge und fokussiert die große Wasserkugel in der Mitte des Raumes. Hannah erkennt nicht, was in der Kugel zu sehen ist. Aber wenn sie diese eigenartigen Uhren richtig verstanden hat, zeigen sie immer nur die Dinge an, die für den jeweiligen Betrachter jetzt im Augenblick wichtig sind. Aber warum sah sie dann ihren Mathelehrer, schweifen Hannahs Gedanken kurz ab. Ach ja, sie wollte morgens nach dem Aufstehen gleich Mathe üben, weil sie vermutet, dass sie nach dem freien Wochenende eine Probe schreiben werden und den ganzen restlichen Tag bei Leo wäre, da er ja Geburtstag hat. Hannah schaut wieder zur Wasserkugel und dann zu ihrem Onkel. Der drückt den blauen Auslöser auf seiner Kamera. BLITZ!


Die schwarze Pyramide im Inneren der Blase beginnt jetzt noch mehr zu glitzern. Sie beginnt langsam rot zu werden, immer mehr zu leuchten und färbt das Wasser. Die Strahlen tauchen den ganzen Raum in rotes Licht. Es wird immer heller und röter. Hannah, Leo und Collin heben ihre Hände vor ihren Augen und blinzeln. „Onkel, was passiert da?“, fragt Hannah. „Fasst euch an den Händen und haltet euch gegenseitig fest. Es wird gleich etwas ruckelig“, warnt Raito. Plötzlich scheint der Raum sich zu bewegen. Mit einem Ruck dreht sich das Zimmer nach oben. „Ahhh!“ Leo schreit, als er bemerkt, dass er, Hannah und Collin kopfüber von der Decke hängen. Die drei halten sich fest an den Händen und blicken zu Raito. Der sitzt immer noch auf der roten Computerkiste, nur kopfüber. Das gesamte Zimmer scheint sich auf den Kopf gestellt zu haben. Es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn erneut dreht sich der Raum so schnell wie ein Blitz in eine andere Richtung. Jetzt stehen die drei an der Wand. Ratsch! Der Raum hat sich erneut gedreht. Jetzt stehen sie wieder auf dem Boden. Ratsch! Sie hängen wieder kopfüber. Ratsch. Stehen seitwärts. „Onkel! Mir wird schlecht. Hör bitte auf damit!“ Hannahs Magen hatte sich noch nicht von der Wunderwasserwabenfahrt erholt. Jetzt wird sie mitsamt des Zimmers immer wieder von oben nach unten und zur Seite geschleudert. Sie bewegen ihre Füße keinen Schritt, doch verändert der Raum ständig seine komplette Position. Jetzt ist der Boden anscheinend das Fenster. Denn die drei stehen an der Wand, die transparent ist. „Ich komme mir vor, wie in einem Zauberwürfel!“, ruft Collin. „Junge, du bist clever! Genau, das ist das Prinzip, das wir uns damals bei der Erfindung ausgedacht hatten!“, antwortet Raito. „Wir haben es gleich. Noch drei Züge, dann haben wir die Seitenfläche des Würfels auf rot“, erklärt er. Hätten die drei das Rechenzentrum von außen gesehen, hätten sie Raitos Erklärung noch besser verstanden. Die Fassade des Gebäudes besteht aus verschiedenen Farbquadraten. Mit jedem Ruck des Zimmers, dreht sich das gesamte Gebäude, als ob eine Geisterhand versucht, die Farbquadrate zu sortieren. Jedes Zimmer hat eine bunte Fensterfront, die von außen gesehen, ein Farbquadrat ergibt. Ratsch! Alle Zimmer mit roten Fenstern sind so gewandert, dass sie sich jetzt alle auf derselben Fläche befinden. Jetzt hat das Gebäude auf einer Seite eine komplett rote Wand. Der Raum, in dem sich Hannah und ihre Freunde befinden, ist jetzt rot wie Erdbeermus. Alles im Zimmer scheint knallrot zu strahlen. BLITZ!


„Au! Pass doch auf!“ Leo hält sich die Schulter. Irgendetwas hat ihn gerade gerammt. Leo dreht sich um, um zu erkennen, wer ihn gerade fast zu Fall gebracht hat. Aber er sieht nur noch ein großes schwarzes Wesen von hinten, der in einer Menge voller Kreaturen und anderen Wesen verschwindet. Leo weiß nicht, wohin er blicken soll. Er kommt sich vor wie in einem Wimmelbuch, das lebendig geworden ist. Er fühlt sich wie in einer lauten Zirkusmanege. Unter seinen Füßen befindet sich feiner Sand. Er erkennt Palmen. Sie befinden sich an einem komplett überfüllten Strand. Um ihn herum tummeln sich die verschiedensten Wesen. „Was ist denn hier los?“, ruft Hannah und blickt zu ihrem Onkel. „Was ist denn das? Wo sind wir?“, fragt Collin. „Das kann doch nicht sein, oder?“, sagt Hannah und dreht sich langsam im Kreis. Um sie herum herrscht viel Betrieb. Lichter und Halblichter laufen kreuz und quer an ihr vorbei. Auch Hannah weiß gar nicht, wo sie zuerst hinsehen soll. Zum gestiefelten Kater, der einer Grinsekatze hinterhertapst? Oder zu Frau Holle, die einem Schneemann namens Olaf mit Kopf unter seinem Arm Flugküsse zuwirft? Oder zu Sindbad, der sich lautstark mit einer Dschinn streitet, die wiederum über einer weinenden Wunderlampe schwebt. Da ist dieser fiese dreinblickende Räuber, der eine wunderschöne Fee im Schwitzkasten hält. Daneben ringelt sich eine Klapperschlange, die versucht, eine weiße Maus, die auf ihr sitzt, von sich zu schütteln. Doch die Maus hält sich fest und küsst den Rücken der Schlange. Ein strahlend weißes Einhorn schmiegt sich an einen schwarzen Stier, der sich angewidert wegdreht. Ein einäugiger Tyrannosaurus Rex schnuppert verliebt an einem Zitronenfalter, der verängstigt versucht, dem riesigen Dinosaurier davonzuflattern. Und dort ist der Weihnachtsmann, der dem Christkind einen dicken Schmatz auf die Nase drückt. „Maja, Maja! Warte doch. Ich glaube, ich hab’ mich total in dich verknallt“, ertönt über ihnen eine quietschige Stimme. Im selben Augenblick sausen zwei Comic-Bienen über sie hinweg. Als Hannah in den Himmel blickt, sieht sie rosarote Wölkchen. „Boa, ist das verrückt. Da ist Doraemon. Der versucht tatsächlich, Hello Kitty zu küssen!“, ruft Collin und zeigt zu einer blauen Comic-Katze mit roter Nase und ohne Ohren, die versucht eine weiße Katze, die eine pinkfarbene Schleife am Kopf trägt und keinen Mund hat, zu küssen. „Wahnsinn! Das sind diese Hologramme, von denen du mir dauernd erzählt hast, Leo? Oder?“, fragt Collin. „Äh, ich glaube schon“, antwortet Leo etwas verunsichert. Es sind so viele Lichter und Halblichter hier, dass es ihm etwas mulmig wird. „Onkel, warum sind die alle so aufgeregt? Wo sind wir?“, fragt Hannah erneut. „Rückt bitte alle zusammen! Hier ist alles durcheinander!“, antwortet Raito. Er hebt seine Ollopa2 vor sein Auge und drückt den roten Auslöser. BLITZ!

Die vier stehen plötzlich mit ihren Füßen auf spitzen Kiessteinen. Der gerade noch rosafarbene Himmel ist jetzt dunkelblau und hängt voller schwerer grauer Wolken. Frischer Wind weht durch Hannahs blonde Haare. Sie streift sich einige Strähnen aus ihrem Gesicht und blickt sich um. Als sie das Meer und die hohen Wellen am Kiesstrand erkennt, ist es schon zu spät. Wasserspritzer treffen sie. Auch Leo und Collin können sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen und werden nass. „Onkel! Was soll das?“, ruft Hannah. Da merkt sie, wie ihr Onkel in die andere Richtung blickt. Dort laufen verschieden Tiere umher. Hannah erkennt einige blaue Löwen, die im Meer planschen. Unheimlich viele mongolische Wüstenrennmäuse und Erdmännchen wuseln umher und bespritzen sich gegenseitig mit Wasser. Dazwischen scharren grün-orange-gefleckte Ferkel im Kiesstrand. Einige von den Babyschweinchen schwimmen im Meer. Eines steht auf einem Surfbrett und versucht einer kleinen Welle stand zu halten. Allen Tieren fehlen unterschiedliche Körperteile und alle haben nur ein Auge. „Das sind dann Halblichter, oder?“, fragt Collin. „Aber seit wann mögen denn Löwen salziges Meerwasser, und Erdmännchen gibt es doch nur in der Wüste, oder?“ Collin grübelt und betrachtet voller Verwunderung das Schauspiel am Kiesstrand. „Hannah! Ich werd verrückt! Ist das da drüben Ralf?“ Während Hannah, Collin und Raito noch immer zu den Tieren am Strand blicken, hat Leo seine Augen direkt aufs Meer gerichtet. Dort schwimmt ein ganz seltsames Wesen. Oder ist es ein Tier aus Metall? „Ist das ein schwimmender Bagger?“, fragt Collin. Das Schiff hat hinten einen gelben, großen Baggerarm. In der vorderen Hälfte des roten Schiffes ist eine Art Kanone angebracht, die gleichzeitig die Nase des Ungeheuers zu sein scheint. Darüber ist deutlich ein Auge zu erkennen, das gerade zu ihnen blinzelt. „Das ist mein Rennbaggerbonbonpanzerboot“, ruft Leo. Im selben Moment ertönt ein lauter Knall und das Boot schießt Bonbons durch ein blaues Schießrohr in Leos Richtung. Leo fängt eins der Geschosse. „Wow. Karamellbonbons!“, sagt Leo, zwirbelt das Bonbonpapier auf und steckt sich den Inhalt in den Mund. „Hannah, du weißt, was das bedeutet, oder?“, fragt Leo schmatzend. Collin und Raito blicken etwas verwirrt zu ihm. Hannah grinst. „Das bedeutet, dass unsere gezeichneten Halblichter in Lumeria tatsächlich existieren“, murmelt sie. Als Hannah wieder aufs Meer zu Leos erfundenem Halblicht blickt, dreht sich das einäugige bonbonspuckende Ungetüm um und taucht ab. „Stellt euch bitte nebeneinander. Ich muss uns noch einmal ollopafieren“, sagt Raito plötzlich und blickt schon durch seine Kamera auf sich selbst und die Kinder. BLITZ!



Plötzlich schimmert um sie herum alles gelb. Dieses Teleskop kommt Leo bekannt vor. Hier war er doch schon einmal. „Onkel Raito, was machen wir jetzt auf deinem Balkon?“, fragt Hannah. „Was soll das alles?“ Während Hannah und Leo zu Raito blicken und auf eine Antwort warten, bewundert Collin den Ausblick in die weite, gelb schimmernde Wüste. Er dreht sich um und erkennt, dass sie sich auf einer Art Aussichtsplattform an einem Berghang befinden. Neben ihnen erhebt sich eine steile Wand, die bis zum Gipfel des Gebirges reicht. Ihm stockt plötzlich der Atem. Direkt über ihm am Felsen versuchen etliche Pinguine und ein Elefant, der Taschen und Knöpfe am Bauch und statt Ohren Sonnenschirmen hat, nach oben zu klettern. Collin kann den Blick nicht von diesen Tieren lassen. Vor allem der Elefant mit Kängurubeinen fesselt seinen Blick. Mit seinem Rüssel saugt er sich am harten Felsen fest und zieht sich langsam nach oben. „Äh, das wird ja immer verrückter. Sagt mal, sind die Stoßzähne bei diesem Elefanten aus Zuckerstangen? Wow!“, sagt Collin. Erst jetzt bemerken auch Hannah und Leo, dass über ihnen ein großer, himmelblauer Elefant am Berg hängt. „Hannah, ist das nicht der Elefant, den du erfunden hast?“, fragt Leo leise. „Ja. Das ist ja Wahnsinn! Belu, mein Taschenelefant ist auch hier! Ich wusste gar nicht, dass er sogar klettern kann!“, antwortet Hannah. In ihrem Kinderzimmer hatte sie einen Fantasieelefanten auf Papier gezeichnet. Nie hätte Hannah geglaubt, dass sie genau diese Zeichnung irgendwann als echten Elefanten in der Realität sehen würde. Die Sonnenschirme sehen genau so aus, wie sie Hannah gemalt hatte. Selbst die karierten Knöpfe der Taschen an den Seiten des Elefanten sind so, wie sie Hannah in ihren Gedanken erfunden hat. Jetzt kraxelt diese lebendig gewordene Malerei wie ein Bergsteiger an einer steilen Bergwand empor. Unglaublich, denkt sich Hannah. Sie freut sich, ihr ganz persönliches Halblicht hier in Lumeria zu sehen. Doch ihr Onkel blickt grimmig erst zu den Pinguinen und zum Elefanten und dann in den Himmel. Er sieht, wie die Wolken langsam ihre Farben wechseln. Das Goldgelb am Himmel wird langsam zu einem Orange. „Es wird gleich Nacht. Folgt mir in meine Wohnhöhle. Da ist es wärmer und ich kann euch alles erklären. Hier draußen herrscht überall Chaos und ich brauche dringend eure Hilfe!“



Hannah Halblicht

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