Читать книгу Hannah Halblicht - Stefan Reinmann - Страница 9
Das Pony-Rad mit Lichtantrieb
ОглавлениеHannah kriecht auf allen Vieren aus ihrer Kuschelhöhle und greift sich das dunkelblaue Fahrrad mit pinkfarbenen Stützrädern, das in der Ecke steht. Sie schiebt das Fahrzeug wieder durch die Öffnung zwischen den bunten Tüchern hinein in ihr Lumeria-Versteck. In einem kleinen Korb am Lenkrad liegt die Ollopa2. Sie legt den Kern der Kraftsaftfrucht behutsam in den Korb und hängt sich die Kamera um den Hals. Anschließend blickt sie durch den Sucher hindurch auf ihr Rad und drückt den roten Auslöser. BLITZ!
Das Rad beginnt zu wiehern. Es schwebt plötzlich über dem Holzfußboden. Die Reifen drehen sich und der kleine Drahtesel bäumt sich auf wie ein Pony. Hannah grinst über beide Ohren. „Ein Pferd will mir meine Mama ja nicht kaufen, da ollopafiere ich mir eben ein Pferde-Flugrad!“, sagt sie zu sich selbst. Sie grinst erneut und steigt auf das wiehernde Rad, das ihr eigentlich schon viel zu klein ist.BLITZ! Hannah hat noch eine weitere Ollopafie von ihrem Rad gemacht. Sie hält die Kamera noch einmal vor ihr Auge und visiert die Mauer mit den vielen Bildern an. Da hängt auch ein Foto von Leo, das sie jetzt in den Fokus nimmt. Sie drückt auf den blauen Knopf. BLITZ!Rummmms! Dingeling! „Ahhh“, schreien Leo und sein Freund Collin gleichzeitig. „Erschreck uns doch nicht immer so“, ruft Leo, der in seinem Bett liegt und anscheinend bis gerade eben tief geschlafen hat. Er blickt Hannah wütend an, die gerade ohne Vorwarnung in Leos Zimmer ollopafiert ist. Nur das Licht des Fahrrads erleuchtet Leos dunkles Zimmer. „Ruhig meine Süße“, sagt Hannah zu ihrem Fahrrad, das sich aufbäumt und wiehert. Hannah hält den Lenker fest in ihren Händen, bis sich das Rad beruhigt hat und sie absteigen kann. „Er meint es nicht so!“, flüstert Hannah ihrem Rad zu. Collin traut seinen Augen nicht, „Wo kommst du denn her? Hast du gerade mit deinem Fahrrad gesprochen?“, fragt der Junge, der unter einer Bettdecke auf einer Couch liegt und anscheinend ebenfalls durch Hannahs plötzliches Gepolter aufgewacht ist. „Hannah! Du kannst uns doch nicht einfach so aufwecken!“, motzt Leo. „Außerdem hab ich dir schon tausendmal gesagt, dass ich es unfair finde, wenn du ohne mich ollopafierst!“ Er springt aus seinem Bett und geht zum immer noch schnaubenden Fahrrad. „Cool! Herzmodus, oder?“, fragt er Hannah. Sie nickt und grinst Leo an. „Entschuldige, Leo. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast, aber ich muss dir unbedingt was erzählen!“ Sie will ihr Rad zur Seite schieben, als es sich erneut aufbäumt und das Vorderrad schnell zu drehen beginnt. Der Kern der Kraftsaftfrucht, der im Korb am Lenkrad lag, wird durch Leos Zimmer geschleudert und rollt unter die Schlafcouch, auf der Collin gerade liegt.
„Ahhh! Blödes Pferderad!“, ruft Hannah und versucht es zu bändigen. Leo drückt mit beiden Händen auf den Sattel. Hannah versucht den Lenker zu fassen, doch das Rad beginnt sich im Kreis zu drehen und zu hüpfen. Hannah springt zur Seite, um nicht den Lenker in den Bauch gestoßen zu bekommen. Das Rad nutzt die Gelegenheit und schwebt langsam in die Höhe. Doch Leo lässt nicht los, umschließt mit seinen Händen weiterhin den Sattel und wird mit dem Rad in die Höhe gezogen. Seine Füße verlieren den Halt auf dem Boden. Als das Rad an die Kinderzimmerdecke anstößt, beginnt die Klingel zu ertönen. Leo hängt in der Luft am Sattel. Er schreit: „Hannah! Mach was! Das Ding galoppiert sonst noch durch die Decke! Wenn meine Eltern aufwachen, haben wir ein Problem!“
Hannah greift sich die Ollopa2 um ihrem Hals und ruft: „Leo! Pass auf!“ BLITZ!
„Aua!“ Leo kracht mit dem Fahrrad auf den Boden des Kinderzimmers. Hannah rennt zur Absturzstelle und hebt das umgekippte Fahrrad von Leos Beinen. Der stöhnt und jammert. „Ah. Hannah! Was war das denn bitte?“ „Entschuldige bitte, Leo! Ich weiß auch nicht was los war. Das Pferd ist durchgedreht. Äh das Rad!“ Sie stößt das Gefährt zur Seite. Mit einem Klingeln der Radglocke rutscht das Fahrrad in die Ecke des Zimmers und bleibt dort liegen. „Du kommst um diese Uhrzeit, um mir zu zeigen, dass du ein wildes Fahrrad, äh einen wilden Radgaul ollopafiert hast, der mich fast umbringt? Ganz toll! Wirklich!“, schimpft Leo, steht langsam auf und knipst endlich das Zimmerlicht an.„Äh, ich glaube, das Pferd war nicht wild, sondern nur aufgeregt“, ertönt die Stimme von Collin. Hannah und Leo schauen gleichzeitig zur Couch. Leos Freund hat sich mittlerweile aufgesetzt. „Sorry, dass ich euch nicht geholfen habe. Aber ich war gerade etwas überfordert“, spricht er weiter. „Was hast du gerade gesagt?“, fragt Hannah. Sie kennt Collin nur flüchtig. Er wohnt im Kinderheim in Großburgklein und geht dort auch zur Schule. Er ist so alt wie Leo, also etwa ein Jahr älter als Hannah. Er und Leo haben sich vor ein paar Monaten in der Stadtjugendkapelle kennengelernt. Leo wollte Schlagzeugspielen lernen. Collin spielt Gitarre. Die Jungs hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Hannah hört aber lieber Musik statt selbst zu spielen. So sind Collin und Leo in den vergangenen Monaten richtig gute Freunde geworden, ohne dass Hannah es so richtig mitbekommen hat. Die zwei haben sich öfter ohne sie getroffen, um gemeinsam zu musizieren. Heute übernachtet Collin bei Leo. Hätte Hannah das gewusst, hätte sie sich nicht ohne Anmeldung durch die Wand in Leos Kinderzimmer ollopafiert. Vor allem nicht in ihrem Schlafanzug und mit diesem pinkfarbenen viel zu kleinem Mädchenrad, an dem noch immer Stützräder sind. „Peinlich“, denkt sich Hannah. Außerdem hatten sie und Leo sich versprochen, niemandem von den Ollopas und Lumeria zu erzählen. „Was hast du gesagt?“ wiederholt Leo Hannahs Frage. „Dass ich überfordert war. Ich sehe nicht jeden Tag ein wieherndes Rad, das abhebt“, antwortet Collin. „Nein! Das meinte ich nicht!“, antwortet Hannah. „Das Pferd war nervös?“, fragt sie weiter. „Nicht nervös. Eher aufgeregt und voller Vorfreude, glaube ich“, antwortet Collin. „Woher willst du das wissen?“, fragt Hannah. „Ich hab seinen Herzschlag gehört. Und der hat sich freudig und nicht nervös angehört“, antwortet Collin. Leo schüttelt den Kopf. „Krass! Kann dein Computer auch Herztöne messen?“, fragt Leo. Hannah schaut etwas verdutzt. „Äh nein. Glaub’ ich nicht. Zumindest nicht, dass ich das wüsste“, antwortet Collin. „Vielleicht hab ich’s mir auch nur eingebildet.“ Hannah weiß nicht, was sie sagen soll. In ihrem Kopf sind so viele Gedanken. Eigentlich wollte sie Leo doch nur den leuchtenden Kern aus Lumeria zeigen. „Welcher Computer?“, fragt sie stattdessen. „Leo meint mein Hörimplantat. Das ist eine Art Hörgerät, das in meinem Kopf eingesetzt ist.“ Collin fährt sich mit der Hand durch seine schulterlangen Haare und schiebt sie hinter seinem Ohr etwas zur Seite. Hannah erkennt etwas Dunkles. Sie nickt, ohne genau zu wissen, was Collin ihr genau gezeigt hat. „Aha. Und damit hast du ein Supergehör?“, fragt sie etwas schnippisch. Im gleichen Moment ärgert sie sich über den etwas eingebildeten Tonfall, den sie verwendet hat. Sie wollte Collin keine freche Frage stellen. Aber irgendwie ärgert sie sich, dass er überhaupt bei Leo ist. Was soll sie jetzt nur machen? Dieses Chaos mit dem Rad. Die Ollopa2. Collin hat ja gesehen, wie sie plötzlich im Kinderzimmer erschienen ist und wie sie mit der Kamera das Rad wieder zu Fall gebracht hat. „Nein. Kein Supergehör! Es lässt mich wieder normal hören“, antwortet Collin ganz ruhig. „Ohne den Computer im Kopf bin ich fast taub.“ Hannah schluckt. Das wusste sie nicht. Jetzt kommt ihr das pinkfarbene viel zu kleine Fahrrad mit den Stützrädern gar nicht mehr so peinlich vor. Sie schämt sich stattdessen, Collin so angezickt zu haben. „Ah. Okay. Ach so! Äh… Tschuldigung!“, stottert Hannah verlegen. „Schon gut. Kannst du ja nicht wissen. Ich bin’s gewohnt, dass ich das mit meinem Gehör oft erklären muss. Ist okay“, antwortet Collin. Hannah geht zu ihrem Fahrrad und öffnet den Reißverschluss der Satteltasche, die am Rad befestigt ist. Sie wühlt etwas darin und zieht schließlich ein schwarzes mit violetten Sternen verziertes Augenpflaster hervor. Sie zieht die Schutzfolie ab und klebt sich das Pflaster auf ihr rechtes Auge. „Ich kenne das mit den Erklärungen. Von mir will auch immer jeder wissen, warum ich mir mein Auge zuklebe“, sagt sie. Collin und Hannah beginnen zu grinsen. „Dann stimmt es also doch, dass ihr zwei Zauberkameras habt?“, fragt Collin plötzlich. „Was? Äh… Leo?“, fragt Hannah und wirft ihm einen ernsten und zugleich fragenden Blick zu. Leo hat sich wieder auf sein Bett gesetzt und zuckt nur mit den Schultern. „Ich hab ihm nur den Herzmodus erklärt.“ Hannah öffnet den Mund, weiß aber nicht, was sie sagen soll. Weil Hannah an ihrem vergangenen Geburtstag plötzlich zwei Ollopas hatte, hat sie Leo die Ollopa1 geschenkt. Leo musste versprechen, dass er die Kamera niemandem zeigt und keinen Blödsinn damit anstellt. Hannah dachte, dass nur sie und Leo miteinander ollopafieren. Jetzt fühlt sie sich etwas betrogen von Leo. Es war ihr Geheimnis. „Herzmodus? Und was hast du ihm gezeigt?“ Bevor Leo etwas sagen kann, antwortet Collin: “Wir wollten unsere Longboards fliegen lassen.“ Leo grinst. „Das hat auch gut funktioniert!“ ergänzt er. „Was? Ihr seid mit euren Longboards durch die Gegend geflogen? Spinnt Ihr? Man hätte euch doch sehen können! Außerdem haben wir uns doch versprochen, nur gemeinsam zu ollopafieren“, kritisiert Hannah. „Wir sind doch nur nachts und auch nur in Großburgklein herumgeflogen“, verteidigt sich Leo. „Und was ist dann mit deinem Fahrradpferd? Da war ich auch nicht dabei, als du es ollopafiert hast.“ Hannah weiß nicht, was sie sagen soll. „Streitet euch doch nicht“, unterbricht Collin die Stille. „Ich fand es super lustig, mit den Longboards herumzufliegen. Uns hat ja niemand gesehen. Und dein Pferdefahrrad fand ich auch voll witzig. Ich werde niemandem von den Ollopas verraten! Versprochen!“ Collin steht vor seiner Couch und hält seine Hand in die Höhe, um sein Versprechen auch deutlich zu zeigen. Irgendwie findet Hannah diesen langhaarigen Jungen ganz sympathisch. Aber kann sie ihm vertrauen? Sie kennt ihn ja gar nicht richtig. Bis gerade eben wusste sie nicht einmal, dass er schwerhörig ist und so ein Implantat tragen muss, um richtig zu hören. Andererseits scheint Leo ihm zu vertrauen. Und Leo ist ihr bester Freund. „Okay“, sagt Hannah schließlich. „Du musst versprechen, keiner Menschenseele auch nur ansatzweise irgendetwas von unseren Kameras zu erzählen. Auch nicht von Lumeria und meinem Onkel, falls dir Leo darüber auch schon etwas verraten hat. Außerdem möchte ich noch eine gelbe Ollopafie von dir machen, bevor ich weitererzähle. Wäre das für dich in Ordnung?“ Collin hält seine Hand noch immer in die Höhe. Er schaut ernst und nickt. „Ich verspreche es und schwöre, niemandem etwas zu erzählen. Aber was meinst du mit dieser gelben Ollopafie?“ Während Collin noch spricht, hebt Hannah die Ollopa2 vor ihr nicht verklebtes Auge und nimmt Collin ins Visier. BLITZ!
„Was hast du gemacht?“, fragt Collin und reibt geblendet von der Helligkeit des Kamera-Blitzes seine Augen. „Ich glaube, Hannah möchte von dir einen Streckbrief lesen. Schlüsselloch-Modus.“ „Was? ich bin doch kein Schwerverbrecher?“, antwortet Collin. „Quatsch!“, sagt Hannah, während sie auf das Display der Ollopa blickt und sich die jüngste Ollopafie genau betrachtet. „Ich wollte nur etwas mehr über dich erfahren, bevor ich dir vertrauen kann. Stell dir einfach vor, du hast gerade in mein Poesiealbum oder in so ein Freundebuch geschrieben, wer du bist und was du so machst“, spricht Hannah weiter, ohne ihren Blick vom Display zu lassen. Collin geht zu Hannah und blickt ihr über die Schulter auf das Ollopa-Display. Dort ist ein Foto von ihm selbst zu sehen, wie er vor der Couch steht und seinen Arm für seinen Verschwiegenheitsschwur in die Höhe hält. Auf dem Bild steht aber noch folgender Text:Name: Collin KlangAlter: 11 JahreWohnort: GroßburgkleinGeschwister: keineHobbys: Longboardfahren, Gitarre spielen
Lieblingsfarbe: dunkelblau
Lieblingsessen: Pizza Margherita mit doppelt KäseLieblingsfach: PhysikLieblingsbuch: Harry Potter
Lieblingsfilm: Ronja Räubertochter
„Äh, woher weiß die Kamera das alles?“, fragt Collin. „Ist ja unglaublich. Ich dachte, man kann damit nur Wünsche erfüllen. Die weiß ja alles. Fehlt nur noch meine Schuhgröße.“ Hannah nimmt die Kamera und richtet sie auf Collins Füße. BLITZ!„36“, sagt Hannah und lässt die Kamera wieder um ihren Hals baumeln. „Ich denke, wenn ich dir nicht vertrauen könnte, hätte mir die Ollopa2 das gesagt. Sorry, aber ich musste das machen.“ Collin staunt noch immer, als Hannah mit ihrem Arm unter der Couch herum tastet. „Hannah, was machst du da? Langsam reicht es, oder? Ich finde es nicht gut, dass du heute so viel ollopafiert hast. Bald sind alle Lichtkartuschen leer. Aber eigentlich will ich das alles nicht mehr heute besprechen. Ich bin müde und will nur noch schlafen. Morgen hab ich Geburtstag. Wenn man es genau nimmt, in sieben Minuten“, beklagt sich Leo. „Diese Ollopas sind der Hammer“, sagt Collin und legt sich wieder auf seine Couch. „Ich würde auch gerne mal mit euch nach Lumeria kommen.“ In diesem Moment hat Hannah etwas Hartes unter dem Sofa ertastet, zieht ihren Arm hervor und reicht Leo den Kraftsaftfruchtkern, der aus dem Fahrradkorb geschleudert wurde. „Was ist das?“, fragen Leo und Collin gleichzeitig. Als Leo den Kern in die Hand nimmt, beginnt er zu leuchten. Auf der Oberfläche erscheinen Bilder vom Rosarotstrand. Vor Schreck lässt Leo den Kern fallen. „Klasse, oder? Bei mir kamen Bilder von Blacky und White, von Onkel Raito und von meinem Papa. Ich wollte es dir unbedingt zeigen, bevor du morgen mit deiner Geburtstagsfeier keine Zeit dafür hast. Ich hab mich so alleine und traurig gefühlt. Da habe ich die Frucht gegessen. Die war so unglaublich lecker. Mir ging es danach wieder besser und als ich mir den Kern genauer angeschaut habe, hat er zu leuchten begonnen und hat mir Bilder gezeigt. Das war so schön! Als wäre ich wieder in Lumeria!“, erzählt Hannah fast ohne Luft zu holen. „Das möchte ich auch sehen“, sagt Collin und hebt den Kern vom Boden auf. Als er ihn berührt, erscheint auf der Oberfläche der Kugel der Regenbogenbaum in allen seinen Farben. „Collin, gib bitte her, ich weiß nicht, was der Kern noch alles macht“, sagt Hannah und fasst auch nach der Kugel. Gleichzeitig greift Leo danach. „Das ist echt toll, Hannah. Ein besseres Geburtstagsgeschenk hättest du mir nicht machen können!“ Alle drei haben im selben Moment die Kugel in den Fingern. Niemand will loslassen. „Aber das Ding interessiert mich. War das gerade ein Zauberbaum, den ich gesehen habe?“, fragt Collin. „Lass sehen!“, sagt Hannah. „Aber ich möchte Blacky auch wieder sehen! Gib her! In fünf Minuten habe ich Geburtstag“, erklärt Leo. Niemand von ihnen möchte diese Kugel loslassen. Alle drei haben ein Stückchen des Kerns in ihren Fingern und halten ihn fest. In diesem Augenblick wird die Kugel rabenschwarz, um gleich darauf das ganze Kinderzimmer in gleißendes Licht zu tauchen. BLITZ!