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MEHR ALS DIE SUMME DER TEILE

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Oft werden komplexe Systeme beschrieben als solche, bei denen »das Ganze« mehr ist als die »Summe seiner Teile«. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich bereits, was den Unterschied zwischen der Summe der Teile und dem Ganzen ausmacht: Es ist das Netzwerk der Interaktionen. Diese Netzwerke von Wechselwirkungen führen letztlich zu den Eigenschaften und Phänomenen der komplexen Systeme, die man beim Betrachten der Einzelteile – ohne Netzwerk – nie erwarten würde.

Man kann eine einzelne Ameise noch so genau untersuchen, studieren und bis ins kleinste Detail verstehen, man würde aus den entdeckten Eigenschaften der einzelnen Ameise niemals erwarten, dass sie in Gemeinschaft mit anderen Ameisen einen komplexen Staat errichten würde mit klaren Aufgaben, Arbeitsteilung und einem einfachen Sozialleben. Man würde vielleicht noch erwarten, dass eine einzelne Ameise, wenn man sie auf einen Tisch setzt, in einem zufälligen Muster herumspazieren würde. Doch setzt man zwei Ameisen auf den Tisch, beginnt die eine dem Geruch der anderen zu folgen. Früher oder später werden sich beide in einem Kreis verfolgen. Das ist etwas völlig anderes als das zufällige Wandermuster einer einzelnen Ameise. Wenn hunderte Ameisen zusammen sind, beginnen sie, einen Staat zu bilden. Das ist wieder ein vollkommen anderes System mit vollkommen anderen Eigenschaften.

Ähnlich verhält es sich mit Neuronen, den auf Erregungsleitung spezialisierten Nervenzellen. Ein einzelnes Neuron funktioniert im Grunde ähnlich wie ein elektrisches Kabel. Es leitet einen elektrischen Impuls entlang des Axons, eines schlauchartigen Zellfortsatzes. Das ist nicht komplex. Doch wenn mehrere Neuronen über Synapsen, vergleichbar etwa mit biologischen »Lötstellen«, zusammengeschaltet sind, geschieht etwas vollkommen Unerwartetes: Sie können plötzlich lernen. Einige von ihnen können zum Beispiel einen Schaltkreis bilden, der im Kopf einer Fliege deren Flugverhalten steuert. Wenn sehr viele Neuronen zusammenkommen, entsteht irgendwann einmal sogar etwas wie ein Bewusstsein. Es sind immer dieselben Bauteile, die Nervenzellen, es sind immer dieselben Verbindungen, die Synapsen. Entscheidend für die »kognitiven« Eigenschaften ist die Plastizität der Schaltstellen, also der Umstand, dass die »Lötstellen« nicht immer gleich gut miteinander verbunden sind, sondern sich verändern. Zellverbindungen, die oft verwendet werden, werden stärker »verlötet«, das neuronale Netzwerk ändert sich. Wesentlich für die kognitiven Fähigkeiten ist auch die Größe des Systems.

Das Phänomen, dass sich die Eigenschaften eines komplexen Systems nicht unmittelbar aus dessen Bauteilen erschließen, nennt man Emergenz. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »herauskommen« und bezeichnet das Hervorkommen von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Der Ameisenstaat und das Fliegenhirn sind Beispiele für Emergenz. Ein weiteres, offensichtliches Beispiel dafür ist Massenpanik, die in großen Menschenmengen entstehen kann. Ein Verhalten, das einzelne Menschen allein nicht zeigen. Oder das Verhalten von Fischen oder Vögeln in Schwärmen. Man nennt Phänomene, die aus den sogenannten Mikroeigenschaften seiner Bauteile in Kombination mit deren Wechselwirkungsnetzwerken entstehen, die Makroeigenschaften. Manchmal wird Emergenz als das Gegenteil vom erwähnten Reduktionismus gesehen, bei dem versucht wird, »das Ganze« durch das Verständnis der Elemente allein zu verstehen. Bei komplexen Systemen ist das eben nicht möglich.

Die Zerbrechlichkeit der Welt

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