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WAS SIND KOMPLEXE SYSTEME?

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Komplexe Systeme bestehen immer aus vielen einzelnen Elementen, die miteinander verknüpft sind und dadurch Netzwerke bilden. So etwa sind wir Menschen als Einzelteile des komplexen Systems »Gesellschaft« miteinander durch unser Familiennetzwerk, das Netzwerk unserer Freunde, das Netzwerk unserer Telefonate und Emails, das Netzwerk unserer Banktransaktionen oder das Netzwerk unserer Feindschaften verbunden.

Es ist eine der faszinierenden Eigenschaften komplexer Systeme, dass sich ihre Einzelteile über die Zeit hinweg verändern können. Sie verändern sich aber meistens nicht einfach so, sondern aufgrund der Netzwerke, in die sie eingebettet sind. Durch die Veränderung der Netzwerke verändern sich die Einzelteile und durch die veränderten Einzelteile verändern sich die Netzwerke.

Im Finanzsystem zum Beispiel sind die einzelnen Elemente die Banken, die mit Netzwerken von Kontrakten, Krediten oder Versicherungen miteinander verbunden sind. Die Eigenschaft einer Bank, zum Beispiel, wie viel Geld sie hat, bestimmt, welche Kontrakte sie in Zukunft eingehen kann. Die Eigenschaft »verfügbare Geldmenge« einer Bank bestimmt, wie das Netzwerk der Kontrakte sich im nächsten Augenblick verändern kann. Das Netzwerk der Kontrakte wiederum bestimmt, wie sich der Reichtum der Banken im nächsten Augenblick verändern wird, denn diese Kontrakte bestimmen den Geldfluss.

Die Quintessenz von komplexen Systemen ist, dass sich die Eigenschaften der Elemente und die Netzwerke zwischen ihnen ständig ändern und sich gegenseitig nach bestimmten Regeln beeinflussen. Der Zustand eines Elements hat Einfluss auf das Netzwerk, und das Netzwerk beeinflusst den Zustand jedes einzelnen Elements. Diese gegenseitige Beeinflussung funktioniert etwa so wie das berühmte Henne-Ei-Problem. Was war vorher da? Henne oder Ei? Eine Frage, die schwer zu lösen ist. Ohne Henne kein Ei und ohne Ei keine Henne.

Ähnlich schwierig ist die Frage zu klären, wie sich der Einfluss des Netzwerkes auf die Elemente und der gleichzeitige Einfluss der Elemente auf das Netzwerk auswirken. Während man das eine auf Basis des anderen verstehen möchte, verändert sich das andere. Das macht die Sache ungemein schwierig, eben komplex.

Der Mensch kann mit Komplexität nicht besonders gut umgehen. Komplexität übersteigt schnell jede mentale Kapazität. Für ein biologisches Gehirn ist es schlicht unmöglich, die vielen Bauteile eines komplexen Systems im Blick zu behalten. Noch viel unmöglicher ist es, die Netzwerke der gegenseitigen Abhängigkeiten zu verstehen und die Konsequenzen der gegenseitigen Beeinflussungen und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen der Bestandteile nachzuvollziehen. Wenn ein Netzwerk aus einer bestimmten Anzahl von Knoten besteht, sagen wir, diese Anzahl ist »N«, dann gibt es N2-N Möglichkeiten, wie sie sich beeinflussen können. Wenn ein Netzwerk zum Beispiel aus tausend Bestandteilen besteht, gibt es fast eine Million mögliche Beziehungen zwischen ihnen.

Auch die Wissenschaft konnte solcher Systeme bislang nicht Herr werden. Über Jahrhunderte konnte sie praktisch keine vernünftigen Schlüsse über Komplexität ziehen. Gleichzeitig ist der Mensch permanent mit komplexen Systemen konfrontiert, muss also mit Komplexität leben und mit ihr umgehen. Komplexe Systeme umgeben uns überall, egal wohin wir blicken. Praktisch alles, was wir interessant finden, ist ein komplexes System. Alles Lebende, jedes gesellschaftliche, ökologische, wirtschaftliche, finanzielle System ist komplex.

Komplexe Systeme zeigen eine ungemeine Vielfalt an Phänomenen, die sich nicht verstehen lassen, wenn man die Elemente einzeln betrachtet. Um mit einer scheinbar unbeherrschbar komplexen, vernetzten Welt umgehen zu können, hat sich der Mensch im Laufe der Geschichte deshalb allerlei ausgedacht. Lange Zeit sah man hinter vielen komplexen Phänomenen übernatürliche Kräfte am Werk, die man letztlich nur mit Göttern, Dämonen, dem Schicksal oder den Sternen »verstehen« konnte. Nur mit Hilfe höherer Einflüsse und göttlicher Lenkung konnte man »erklären«, wodurch es zu Krankheiten und Seuchen kommt, warum Kriege ausbrechen, warum Menschen Städte bauen, oder warum sich Vogel- und Fischschwärme bilden.

Die Naturwissenschaft konzentrierte sich in den vergangenen 300 Jahren auf die Erforschung einfacher Systeme, denen keine dynamischen Netzwerke zugrunde liegen. Das Erfolgsrezept war der sogenannte Reduktionismus, eine philosophische und naturwissenschaftliche Vorgehensweise, bei der man versucht, ein System in seine Einzelteile zu zerlegen, diese – weil sie meistens einfacher sind, als »das Ganze« – zu verstehen, um dann aus der Funktionsweise der Einzelteile zu schließen, wie »das Ganze« funktioniert. Man versucht kurz gesagt, das Ganze aus den Eigenschaften seiner Einzelteile heraus zu verstehen.

Wie weit wir mit dieser Vorgehensweise gekommen sind, zeigen uns die Physik, die Chemie und die Molekularbiologie. Wir ernähren derzeit fast acht Milliarden Menschen, alle können miteinander jederzeit von Angesicht zu Angesicht kommunizieren, indem sie in Glasplatten sprechen. Wir verstehen die Funktionsweise von Viren und haben bereits vor einem halben Jahrhundert nicht nur Menschen auf den Mond geschickt, sondern auch, wenn auch vollkommen sinnlos, ein dazugehöriges Auto, das Lunar Roving Vehicle.

Die Zerbrechlichkeit der Welt

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